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REZENSION/122: Thomas Thiemeyer - Das verbotene Eden. David und Juna (Jugendbuch, Science Fiction) (SB)


Thomas Thiemeyer


Das verbotene Eden

David und Juna



Heute eine Dystopie zu schreiben, d.h. einen Endzeitroman, eine finstere Zukunftsvision, liegt voll im Trend. Weltuntergangsszenarien mit negativen Gesellschaftsentwürfen verstärken die Verkaufszahlen, besonders für jugendliche Leser.

Heute ein Jugendbuch zu schreiben, erzielt höchste Aufmerksamkeit auf dem Büchermarkt. Hier sammeln sich zur Zeit die aktuellsten Themen: das Suchen nach Orientierung, nach einem Sinn im Leben, nach Interessengebieten, die ersten Liebeserfahrungen, aber auch Fragen, die mit Tod und Sterben verbunden sind. All das sind Inhalte, die genauso bei erwachsenen Lesern immer mehr Aufmerksamkeit genießen, seltsamerweise aber praktisch nur noch im Jugendbuch, verbunden mit der Suche nach einer anderen, besseren Gesellschaft, thematisiert werden.

Heute ein Buch über den sogenannten Gender-Konflikt zu schreiben, über Ursachen und Folgen der scharfen Unterscheidung von männlichen und weiblichen Attributen in der Gesellschaft und den daraus resultierenden Machtverhältnissen, gilt nicht mehr als aktuell und ist gewiß für viele Leser unattraktiv oder zumindest mit der Forderung nach neuen Aspekten zur alten Thematik verbunden. Wählt ein Autor dennoch diese Problematik, hat er sich also eine schwierige Aufgabe gestellt.

Und schließlich einen Roman zu schreiben, der diese drei Aspekte in sich vereint - Dystopie, Jugendbuch und Gender-Problematik - stellt die größte Herausforderung an den Verfasser. Thomas Thiemeyer hat dieses nahezu unausführbare Schreibexperiment gewagt. In seiner Dystopie "Das verbotene Eden. David und Juna" geht es letztlich nicht um eine mögliche neue Zukunft der Menschheit, sondern darum, der nächsten Generation die verlorengegangene Zukunft wieder in die Hand zu geben. Als Dystopie verkleidet und explizit unter dem Genre Jugendbuch herausgegeben erscheint sein neuer Romanzyklus, dessen düstere Atmosphäre belebt wird von der verbotenen Liebe zwischen Juna und David, die sich in einer Gesellschaft behaupten müssen, die durch die unversöhnliche Feindschaft und Gewalt zwischen Männern und Frauen geprägt ist.

Dieses ambitionierte Projekt trägt die Handschrift langjähriger Schreiberfahrung. Herausgekommen ist eine Erzählung, die sich dank ihrem professionell durchgehaltenen Spannungsbogen durch einen hohen Unterhaltungswert auszeichnet und den Leser bis zur letzten Zeile in Atem hält - unabhängig vom sicherlich nicht über jede Kritik erhabenen Inhalt des Buchs.

Im Roman werden mehrere große Themenbereiche berührt, die jeder für sich schon Stoff genug für weitere Werke wären und deshalb leider auch nur einen flüchtigen Eindruck hinterlassen: die Gewalt zwischen den Geschlechtern, Folter, Krieg, feudalähnliche Herrschaftsverhältnisse mit Tributzahlungen, Inquisition und Hexenverbrennung, gleichgeschlechtliche Liebe, Tiergefährten und daß Bücherlesen gefährlich ist und die Tage der Menschheit gezählt sind, weil sie Mangels Nachwuchs aussterben wird.

Der Inhalt: Ein mutierter Virus verändert im Jahr 2015 das Verhalten der Menschen. Männer und Frauen entwickeln unerklärliche Aggressionen gegeneinander, so daß es zu Mord und Totschlag kommt. 65 Jahre später, 2080, ist die Welt nicht wiederzuerkennen. Der technische Lebensstandard hat sich stark zurückentwickelt und Kenntnisse über die alte Zivilisation sind kaum überliefert, weil weitgehend zerstört und zudem verboten. Was auf modernen Datenträgern gespeichert war, ist unwiderruflich verloren. Männer und Frauen leben streng voneinander getrennt und gebärfähige Frauen stellen sich im sogenannten "Schandfleck" den Männern zur Verfügung, damit es überhaupt Nachkommen gibt. Die Umgebung der Frauen ist eher mystisch geprägt oder mit New Age-Merkmalen gezeichnet: Mondbarken-Symbole, Tempel, Heilerinnen, Hohepriesterinnen, Kriegerinnen mit Pfeil und Bogen auf Pferden, in Harmonie und Ausgewogenheit mit der Natur auf dem Land. Männer im Gegensatz dazu bewegen sich in verfallenen Städten vor dem Hintergrund eines stinkenden, überwucherten Steindschungels und haben noch so viel technische Überlegenheit, daß sie mit den letzten Energievorräten in Fahrzeugen schnell größere Strecken bewältigen können und Feuerwaffen besitzen. Oder sie leben gut organisiert im Kloster, wo Papierherstellung, Lesen und Schreiben und Buchrestaurierung als Kunstfertigkeiten wieder ebenso gelernt werden wie das Wissen über solche anrüchigen mittelalterlichen Gesetzestexte namens "Hexenhammer".

Die seltenen Zusammentreffen von "Hexen" und "Teufeln", wie sie einander nennen, werden nicht zuletzt wegen des einsetzenden Nahrungsmittel-Mangels hinterhältig, obwohl sie einst dem Austausch lebenswichtiger Güter dienten und angriffsfrei verliefen.

So kommt es, dass die 17-jährige Kriegerin Juna ausgesandt wird, einen Gefangenen zu nehmen. Er soll unter Folter das nächste üble Vorhaben der Männer verraten. Und sie gerät ausgerechnet an den jungen Mönch David, der nichts lieber tut, als sich in verbotene Bücher der alten Zeit zu flüchten: Romeo und Julia von Shakespeare ist seine Bibel.

Als die beiden sich leibhaftig gegenüberstehen, erschrecken sie bis ins Mark. Juna weiß, dass David keine Chance hat zu überleben - doch im Innersten erkennt sie zutiefst überrascht, dass dieser Junge anders ist. In einem Strudel verbotener Gefühle trifft sie eine schwerwiegende Entscheidung ...
(Umschlagtext)

Mehr über die Entwicklung einer großen Liebe, die voller Überraschungen steckt, wird hier nicht verraten.

Schreibtempo, Charaktere und Komposition der Handlung sind von Rollenspielerfahrungen, Filmserien-Sehgewohnheiten und Dark Fiction-Elementen beeinflußt. Diese Mischung entspricht den zeitgemäßen Lesevorlieben und verführt vielleicht auch junge Leser in unserer schnellebigen Zeit, in der das Internet und computergestütztes Lernen das Konzentrations- und Urteilsvermögen beeinträchtigen und den Blick für die Realität verschleiern, dazu, wieder mal ein Buch zu lesen.

Doch sollten letztlich nicht zu viele Erwartungen in diesen Roman gesetzt werden. Die eigentliche Kernaussage, die hier mit Hilfe der neu erdachten Welt transportiert wird, heißt schlicht "Zuflucht". So nennt Thomas Thiemeyer den ausgegrenzten Ort, an dem Männer und Frauen mit ihren Kindern in Familien zusammenleben können, die gegen den Virus immun sind. Die "Zuflucht" scheint die erstrebenswerte Lösung aller Probleme zu sein, denn ohne einander kommen Männer und Frauen wohl nicht aus. Sie brauchen sich, um die Nachkommenschaft zu sichern. Die menschliche Gemeinschaft basiert auf der Grundlage dieser Abhängigkeit und die Familie scheint die unhinterfragt bestmögliche Gesellschaftsform zu sein, sozusagen das notwendige Fundament geregelten Überlebens, sonst herrscht das Faustrecht. Was also unter der Hand transportiert wird, ist die Demonstration von Anpassung an vertraute und bekannte gesellschaftliche Formen wie das Leben in der Familie und an Werte wie die große Liebe zu einem besonderen Vertreter des anderen Geschlechts.

So stellt sich die Frage, ob dieser Roman überhaupt eine Dystopie genannt werden kann, die provozieren, neue Ideen in Umlauf bringen und Mißstände aufzeigen will. An manchen Stellen scheint die Handlung sogar entgegengesetzt zu verlaufen und sich eher zur bloßen Fluchtliteratur zu entwickeln. Da erwartet den Leser dann lediglich einfache futuristische Unterhaltung mit romantischen Einlagen. Zu einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widersprüchen führt diese Festigung bestehender Verhältnisse im utopischen Gewand jedenfalls nicht.

Das Fazit ist ein enttäuschendes Ergebnis eines ehrgeizigen Projektes.

Aber mit den nächsten Bänden kann sich ja noch alles ändern. Wie die Geschichte wohl weitergeht? Romeo und Julia von Shakespeare endet mit einem Doppeltod: "Ihre Liebe ist größer als der Wille zu leben" ...


*


Thomas Thiemeyer, geboren 1963, lebt in Stuttgart und arbeitete zunächst als Illustrator. Nach fünf rasanten mystischen Wissenschaftsthrillern - Medusa, Reptilia, Magma, Nebra und zuletzt Korona entdeckte er mit den Chroniken der Weltensucher höchst erfolgreich das Jugendbuch für sich.
(Umschlagtext)

19. August 2011


Thomas Thiemeyer
Das verbotene Eden
David und Juna
PAN-Verlag, München 2011
464 Seiten
Euro 16,99 D / 17,50 A
ISBN 978-3-426-28360-8