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REZENSION/113: David Wroblewski - Die Geschichte des Edgar Sawtelle (SB)


David Wroblewski


Die Geschichte des Edgar Sawtelle



Wenn ein Buch eines bis dato unbekannten Autors, das in Amerika einen recht ungewöhnlichen Senkrechtstart erlebt hat, noch ehe es übersetzt in den deutschen Buchhandel kommt, nichts als Vorschußlorbeeren erntet und selbst die für ihre bissige Kritik und Verrißgier mehr oder weniger gefürchteten scharfen Hunde der Medien mit kurzen werbewirksamen Slogans wie "ganz großes Kopfkino" (jub, Focus), "mit Sicherheit das glanzvollste Debüt des Jahres" (J.C. Oates im Times Literary Supplement), "ein feinsinniges, kluges Buch!" (Freundin), "ein fesselndes, unmittelbares Leseerlebnis!" (Lesart) zahm dem Marketingkonzept des Verlags zuarbeiten; und wenn sogar ein wie der bunte Hund bekannte Bestsellergarant Stephen King freimütig bekennt, dieses Buch würde er entgegen seiner sonstigen Gewohnheit auch ein weiteres Mal lesen ... scheint es naheliegend, einfach nur noch "Sitz zu machen", "Pfötchen zu geben" und "mit den Wölfen zu heulen", oder?

Uns aber brachte es auf den Plan, den dicken Hund am Schwanz zu packen und das über ein recht unkonventionelles Verkaufskonzept bzw. zunächst nur über Mund-zu-Mund-Propaganda von Buchhändlern verbreitete Kunstwerk gründlich und möglichst unvoreingenommen von allen Seiten zu beschnuppern. Die unbestechliche, organoleptische Nasenprobe ergab jedoch nur: Es riecht nach Druckerfarbe, Papier und Leim, kurzum: nach Buch.

Und genau das ist es auch. 700 Seiten dichtgedrängte Buchstaben, die, wenn man denn mal ehrlich ist, eine inhaltlich recht unspektakuläre, höchst sentimental geschriebene Geschichte ergeben. Einfache und wirksame Tricks wie ein stummes Kind und kluge Hunde als Protagonisten zu wählen, sporadische Ausflüge ins Übersinnliche und ein gemütlicher, altmodischer Erzählstil machen den Roman rührselig und packen den Leser, wenn er es bis dahin durchhält, zumindest im 3. Teil, um ihn dann am Ende doch mit dem schalen Gefühl und der absurden Frage zurückzulassen: Warum habe ich das jetzt eigentlich alles gelesen? Das ganze lockt, vom Ende zum Anfang betrachtet, keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor.

Zwar bietet allein der Ansatz eines Jungen, dem die Stimme fehlt, vielversprechenden, sozialen Konfliktstoff, und der Leser wird durch die über viele Seiten melodramatische Inszenierung der vorangegangenen Fehl- und Todgeburten in eine erwartungsvolle Vorspannung versetzt, daß dieses langersehnte Kind etwas Besonderes sein wird. Doch die Möglichkeiten, die sich dadurch für die Handlung anbieten, greift der Autor bis zum Ende nicht auf, und naheliegende Probleme, die aus der Unfähigkeit, sich zu artikulieren, entstehen, werden aus der Situation gar nicht erst entwickelt, da die fehlende Stimme durch entsprechend andere Fähigkeiten wie Intelligenz und Darstellungsvermögen ganz reibungslos kompensiert wird. Weder entsteht der Eindruck einer Behinderung oder etwaiger Schwierigkeiten, noch der einer daraus erwachsenen feinsinnigeren Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Gedanken zu der vom Autor bevorzugten Zeit der 70er Jahre, die doch nicht unproblematisch waren, werden nicht einmal am Rande des Plots thematisiert. Das ist beinahe unverzeihlich und führt dazu, daß nur eine sehr seichte, wenig glaubhafte Erzählung übrig bleibt, die weder ein klassisches Abenteuer in der Wildnis noch einen spannenden Kriminalfall beschreibt. Schon gar nicht finden wir darin das, zu dem der Verlag den Roman hochstilisiert:

"Die Geschichte des Edgar Sawtelle ist ein kluger, lebenspraller Roman über die großen Themen der Literatur: Rache und Schuld, Brudermord und Vaterverlust, Liebe und Hass. Ein zeitloses Epos und eine wahrlich unvergessliche Geschichte über die besondere Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Hund."
(Klappentext zu David Wroblewski, "Die Geschichte des Edgar Sawtelle")

Es ist nicht einmal eine wirklich rührende Hundegeschichte. Denn die vierbeinige Heldin "Almondine" wird zwar spürbar aufgebaut, indem sie in mehreren Kapiteln selbst zu Wort kommen darf und sehr vermenschlicht über ihre Aufgaben, Pflichten und Geheimnisse philosophiert, die das Haus verbirgt und ihr preisgeben möge - aber dabei bleibt es dann auch. Gerade ein Leser, der vielleicht selbst Hunde kennt und liebt, hat nicht das Gefühl, der Autor könnte sich besonders gut in Hunde hineinversetzen, sondern daß er vielmehr dem Tier seine eigenen bedeutungsvollen Moralvorstellungen und Gefühle aufdrängt. Nun hat Wroblewski zwar - wie sich auf seiner Website nachlesen läßt - viel über neuere Erkenntnisse der Hundeforschung gelesen. Aber auch Wissenschaft ist letztlich von der Darstellung und Interpretation scheinbar objektiver Ergebnisse nicht ganz unabhängig. Das Thema "Eifersucht" und "Verzeihen" wird hier in der Beziehung zwischen Edgar und Almondine jedenfalls ausschließlich menschlich abgehandelt. So liest man dann auch darüber hinweg.

Es bleibt am Ende tatsächlich nichts, was den Leser weitergehend beschäftigen, Fragen aufwerfen oder so in den Bann ziehen würde, daß er die Lektüre dieses Buchs für unverzichtbar hält oder gar weiterempfehlen wird. Wer es dennoch tut, der hat es wohl nicht ganz zuende gelesen und ist den zahlreichen vielversprechenden blinden Handlungssträngen auf den Leim gegangen, die das Buch ausmachen, so daß man den Eindruck gewinnen könnte, der Autor habe vor allem eine Sache gut gelernt, wie man am Anfang einer Geschichte das Interesse des Lesers weckt, und dabei bleibt er dann über 700 Seiten lang ...

Der Roman scheint vor allem eine ganz bestimmte Generation hundenärrischer Amerikaner erreichen zu wollen, für die eine Welt noch in Ordnung ist, solange Hunde auf ihr Platz finden. Das ist zwar weltfremd, aber durchaus sympathisch, zumal die Legende, der 1959 geborene Autor und somit Zeitgenosse Edgars sei selbst in der idyllischen Natur des Mittleren Westens in der Nähe des Chequamegon National Forrest aufgewachsen, seine Eltern hätten ebenfalls eine Hundezucht besessen, Authentizität verspricht.

Im Sinne des darüber hinaus häufig zitierten Verkaufskonzepts "Autor schreibt den Hunderoman, den er eigentlich selbst gerne gelesen hätte" sollte es in dem Buch nach eigenen Angaben des Autors "um einen Jungen und einen Hund gehen". Darüber hinaus wollte er sowohl das, was wir über hündisches Verhalten, Wahrnehmungsvermögen und Abstammung wissen, und auch die eigenen Erfahrungen mit Hunden darin vorkommen lassen. Der Leser sollte im Roman das besondere Wesen jener Menschen wiedererkennen, die dem Autor aus den Kindertagen im Mittleren Westen der USA präsent waren. Nun ja - fragt sich nur, wozu man in einer solch idealen Welt, in der alles zu stimmen scheint, noch beschönigendere Literatur braucht?

Natürlich lassen sich Freunde vierbeiniger, treuer Lebensgefährten von solchen Ankündigungen gern an die Leine nehmen. Davon gibt es gerade in den USA, in denen fast jeder mit Lassie, Pluto und Wonderdog Rin Tin Tin groß gewordene Einwohner etwa einen bis drei Hunde besitzen soll, wesentlich mehr als bei uns. Verhältnisse wie sie in Evelyn Waughs Satire "The Loved One" (das von einem ganz besonders exklusiven Bestattungsunternehmen für Haustiere handelt) geschildert werden, sind dort längst Realität. Tatsächlich geht es vielen Hunden amerikanischer Frauchen und Herrchen sehr viel besser als Kindern in diesem Land. Und wieviel mehr Amerikaner bangten im letzten Jahr um die Einhaltung von Obamas "Wahlversprechen", seinen Kindern beim Einzug ins Weiße Haus einen Hund zu schenken, als um die Verbesserung der sozialen Verhältnisse!

In das Selbstverständnis der leistungsbetonten und erfolgsorientierten amerikanischen Gesellschaft paßt, daß die von Gar und Trudy gezüchteten Sawtellehunde, eine vom Autor frei erfundene Hunderasse, mit denen die Arbeit von Gars Großvater John fortgesetzt wird, perfekte Gefährten für den Menschen werden sollen -kommunikationsfähige Hunde, die beobachten, zuhören, vertrauen, eine Lage überblicken, eigenständig denken und eigene Entscheidungen treffen können. Mit anderen Worten werden hier ganz im Sinne der amerikanischen Tradition charakterlich einwandfreie Lassie-Gebrauchshunde ohne Unarten gezogen, nur daß es bei diesen Kreuzungen nicht so sehr auf ein rassetypisches Exterieur ankommt. Die Hunde dürfen ganz verschieden sein, ihnen allen gleich ist jedoch der offene, intelligente Blick, mit dem sie den Menschen in die Augen sehen.

Derart perfekte Tiere, und davon viele auf einem Haufen, sind allerdings recht langweilig, und das trifft auch für die Sawtellehunde zu. Am meisten in Erinnerung bleiben denn auch kleine Un- oder Eigenarten von Edgars Welpen wie Essay oder Tinder, denn das macht sie für den Leser eigentlich erst liebenswert.

Daß kaum etwas über die Größe oder das Aussehen der einzelnen Tiere geschildert wird, läßt sich ebenfalls als Kunstgriff des Autors werten. So kann jeder Leser die eigenen Idealvorstellungen von einem Hund auf die hier geschilderten vierbeinigen Protagonisten projizieren. Aber mal im Vertrauen: Sieht nicht jeder Hundefreund Intelligenz und Verständnis in den Augen seines eigenen vierbeinigen Gefährten und ist die hier als besondere Fähigkeit hervorgehobene Kommunikationsfähigkeit nicht letztlich ein gegenseitiges Verstehen, das jeder erreichen kann, wenn er sich ausreichend mit den Bedürfnissen seines Hundes auseinandersetzt?

Die Sawtellehunde werden erst nach einem abgeschlossenen Training an ihre späteren Besitzer abgegeben (nach herkömmlichen Vorstellungen kann es dann gar nicht mehr zu einer ausgesprochenen Prägung kommen) und wählen im (allerdings hier nur einmal stattfindenden) Idealfall im Sinne des legendären Großvaters ihr zukünftiges Herrchen selbst aus.

Auch das trifft wohl die Wunschvorstellungen vieler einsamer Hundefreunde, einen mitdenkenden, treuen Gefährten zu finden, der sich aus freien Stücken (und nicht fremdbestimmt über die aufgezwungene Prägung) für die eigene Person entschieden hat. Aber diese Phantasien, bei denen das hündische Verhalten immer nur vom Menschen verklärt und interpretiert wird, sind weit entfernt von den realen Nutznießverhältnissen, die zwischen Menschen und Hunden üblicherweise herrschen. Mit den Tieren selbst hat das wenig zu tun.

Das "jammert einen toten Hund", um einmal bei den hündischen Methaphern zu bleiben, aber möglicherweise auch den Autor selbst, denn in der Korrespondenz des Großvaters mit einem erdachten Zuchtexperten jener Zeit klingt zumindest die beinahe philosophische Frage an:

Am Ende werden wir, um bessere Hunde zu züchten, bessere Menschen werden müssen.
(Seite 229)

Was das heißt, bleibt allerdings offen. Nicht nur hierzu hält sich der Autor mit seiner eigenen Meinung bedeckt.

Auch was die Hundezucht betrifft, die zwar unkonventionell erscheint, letztlich aber mit großer Mühe nach den "Mendelschen Gesetzten der Vererbung" durchgeführt wird, meidet der Autor mögliche Konflikte und die Stellungnahme: Im Unterschied zu der Praxis einer herkömmlichen Hundezucht gibt es bei den Sawtellehunden keine zu erwartenden schwarzen Schafe, keine Erziehungsprobleme, keine Krankheiten, Allergien, Eigenarten oder Allüren - nur ideal angepaßte Hunde. Funktioniert ein Hund mal ausnahmsweise nicht ganz so, wie er soll, dann liegt das an den Menschen (was nur logisch ist, da sie es sind, die die Kriterien für das Funktionieren der Hunde festlegen). Hier wird es allerdings so verstanden, daß der von Natur aus zutiefst perfekte Hund seinem Trainer eine Lektion erteilt, für die er sich bedanken sollte. Das klingt zunächst nach einer dem Hund zugewandten Einstellung, führt aber letztlich zu noch konsequenteren Erziehungs- und Unterdrückungsmethoden für das Tier.

Auch sonst läßt sich in dem Alltag einer amerikanischen Durchschnittsfamilie in den 70ern wenig finden, in das man sich "hineinfallen lassen" oder in dem man sich "verlieren" könnte, wie es "The Washington Post Book World" schwärmerisch vorschlug: "Alles wird ausgeblendet, während wir uns in diese fesselnde Geschichte hineinziehen lassen." Solche Kommentare sind unter allem Hund. Wenn die Rezensenten hierzulande behaupten, sie hätten nicht aufhören können, die Geschichte zu lesen, wie Tobias Rüther von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 25. Juli 2009 - "er musste über Stock und Stein immer weiterlesen..." -, dann nicht, weil sie so in der Handlung gefangen sind, daß sie nicht mehr rauswollen, sondern weil sie einfach wissen wollen, wie der Autor die "verquaste Geschichte" wohl zuende bringen wird.

Für das eigentliche Abenteuer hat David Wroblewski nur 300 Seiten seines Romans gebraucht, der große Rest ist Beiwerk. Hier eine Zusammenfassung:

Der junge Edgar wächst auf einer abgelegenen Farm in Wisconsin auf, wo seine Eltern Gar und Trudy besagte Hundezucht betreiben. Den hochsensiblen 14jährigen, der stumm zur Welt kam, verbindet eine enge Freundschaft zu den Tieren; die Hündin Almondine, seine treueste Kameradin, versteht sogar seine Zeichensprache. Eines Tages jedoch hat der Frieden ein Ende: Edgars Onkel Claude taucht auf, wird zunächst in das Familienleben integriert und gerät dann immer öfter mit Gar aneinander, bis er schließlich in den Nachbarort zieht. Kurz darauf kommt Gar auf mysteriöse Weise ums Leben. Edgar ist überzeugt, daß Claude seinen Vater umgebracht hat und flieht, nachdem er zum einen glaubt, den Tod des befreundeten Tierarztes verschuldet zu haben und er Claude deutlich gemacht hat, daß er in ihm den Mörder sieht. Drei junge Hunde begleiten ihn.

An dieser Stelle heißt es dann gewöhnlich, daß die Hunde Edgar helfen, in der "Wildnis" zu überleben. Und es werden Parallelen zu Jack Londons Romanen und Rudyard Kiplings Dschungelbuch gezogen. Das ist jedoch eindeutig zu viel versprochen, denn die Hunde bleiben zwar in Edgars Nähe und finden auch hin und wieder etwas für sich selbst zu fressen. Aber weder teilen sie es mit ihrem menschlichen Freund noch zeigen sie ihm etwas, was er nicht ohnehin schon weiß. Und auch die "atemberaubende Landschaftskulisse", in der diese Episode laut Klappentext stattfinden soll, entsteht nicht im Kopf, wenn man die Gegend nicht anhand kleiner Andeutungen wiedererkennt. Da hätte Wroblewski von seinen großen Vorbildern bedeutend mehr lernen können.

Um sich von der in Eigenwerbung als "lyrische Sprache" erhöhten und bedeutungsüberladenen Wortwahl des David Wroblewski wirklich bezaubern zu lassen, muß schon eine tiefe innere Bereitschaft dazu vorhanden sein, mehr darin zu lesen, als da wirklich steht. Wenn Edgar beispielsweise auf Seite 300 "einen einzelnen Tropfen auf seinem Weg ins Licht" verfolgt - "Direkt über ihm verharrte der Tropfen und zitterte in der Luft wie eine durchsichtige Perle, fiel dann weiter und platschte in die Pfütze zu Edgars Füßen." - läßt sich das vielleicht noch als etwas unbeholfenes, rührendes Bemühen des Autors darum verstehen, den Buchstaben etwas anderes abzuringen, als die profane Wirklichkeit, zumal er damit ein phantastisches, übernatürliches Ereignis, die Begegnung mit einem Geist, einleiten will:

Hunderte von Regentropfen - Tausende - standen einen Herzschlag lang im Lampenschein still. [...] Anstelle der Regentropfen sah er einen Mann.
(Seite 301)

Bei Bildern wie "der Himmel war blass und von Sternen
durchlöchert" oder

Spatzen flogen wie eine Handvoll Metallsplitter über die nasse Wiese [...]
(Seite 314)

[...] das Herz hämmerte in seiner Brust wie ein Motorkolben, seine Gedanken wirbelten im Kreis wie Fliegen im gleißenden Licht.
(Seite 394)

Jetzt war in ihr [Almondine] eine Kakofonie der Zeiten, die neuerdings auch die Welt übertönte [...]

Der Garten schrie seinen grünen Duft hinaus, die Mischung von Hirschen erdacht oder umgekehrt, wie es Almondine jetzt schien.

(Seite 578)

wird der Leser dann doch so sehr durch die Sprache aus dem Konzept gebracht, daß er sich fragt, was ihm der Autor damit wohl sonst noch alles sagen will, ohne daß der Kontext oder die Handlung weitere Anhaltspunkte liefern. "Ein wenig zu sehr gewollt", wie Gregor Keuschnig im Literaturmagazin "Glanz & Elend" sie bezeichnete und daß man sich "irgendwann daran gewöhne", ist da wohl noch als äußerst zugewandte, wohlwollende Wertung solcher Passagen zu verstehen.

Weniger freundlich beurteilte der gleiche Rezensent den von der Verlags-PR immer wieder betonten Vergleich mit Shakespeares Hamlet, den er, von einigen plakativen Parallelen abgesehen, völlig "abwegig" fand. Wie groß die Ähnlichkeit zu einem Klassiker sein muß, damit ein Werk damit verglichen werden darf, ist zum Glück noch nicht durch Regelwerk festgelegt. Allerdings machen selbst deckungsgleiche Handlungsstränge zum klassischen Vorbild ein neues Buch nicht unbedingt literarisch wertvoller, ist doch die Geschichte selbst und wie sie geschrieben wurde, letztlich das, was zählt. Tatsächlich lassen sich in der Geschichte des Edgar Sawtelle sehr viele oberflächliche Parallelen zu Shakespeares Hamlet finden, von den Geistererscheinungen bis hin zu dem provozierenden Schauspiel, das zur Entlarvung des Mörders führt und hier in Form einer Hundevorführung stattfindet. Das alles gibt den Bildungsbeflissenen unter den Lesern vielleicht das angenehm prickelnde und bestätigende Gefühl, beim Suchen nach und Finden von Übereinstimmungen etwas mehr zu tun, als sich nur passiv unterhalten zu lassen. Diese leichtgängigen Erfolgserlebnisse sind jedoch ein schlechter Ersatz für Handlung, die, wenn man sie denn als solche bezeichnen will, viele Fragen offen läßt.

Warum beispielsweise die beiden Brüder (Edgars Vater Gar und Claude) Verständnisschwierigkeiten haben und warum Claude seinen Bruder sogar umbringt, darüber gibt der sich sonst in so vielen kleinen Nebengeschichten verlierende Plot leider keine Auskunft. Wie bei Hamlet bringt der eine den anderen um und spekuliert auf die gesellschaftliche Position des Ermordeten, die er über dessen Frau zu erringen sucht. Aber weder der Haß zum Bruder, Leidenschaft oder Eifersucht noch wirtschaftliche Vorteile oder Reichtümer, die eine Hundezucht einfach nicht abwirft, werden als Motive ausreichend plausibel herausgearbeitet. Und Claude gibt auch nicht den typischen, durchgeknallten Kriegsveteran dieser Zeit ab, der aus reiner entuferter Aggression oder im Affekt seinen Bruder tötet. Denn das Verbrechen ist von langer Hand vorbereitet.

Der Charakter des Mörders Claude wird im Verlauf des Buches nicht entwickelt, und selbst die sonst so klugen Hunde begegnen der ambivalent sympathischen wie unsympathischen Gestalt völlig vorbehaltlos. Denn daß "kein Hund einen Bissen Brot von ihm nähme" läßt sich nicht erkennen, im Gegenteil. Und solche Offenlassungen und unlogischen Details machen den Leser unzufrieden.

Die bedeutungsvollen Ausflüge ins Übernatürliche dienen wiederum dazu, eine spannungsreiche Erwartung aufzubauen, die die Erzählung am Ende nicht füllen kann. Völlig aus der Luft gegriffen ist z.B. der zweite Geist, den Edgar auf seiner Odyssee im Schuppen seines seltsamen neuen Freundes trifft und der sich humorig über die Sammelleidenschaft seiner ebenfalls verstorbenen Frau erregt. Was das in der Geschichte soll oder vielleicht mit Edgars späterer Entscheidung umzukehren zu tun haben könnte, entwindet sich dem Zugriff des Lesers. Ganz nett zu lesen, aber ein blinder Handlungsverlauf, mit keiner anderen Funktion offenbar, als Seiten zu füllen.

Ebenfalls fehlen Anhaltspunkte in der Handlung, was zu Edgars eigenen Entscheidungen geführt hat. Warum flieht er, und warum kehrt er dann doch zurück?

In den fast 300 Seiten, die der Autor am Anfang verwendet, die Vorgeschichte zu präparieren und mit abwegigen Nebensträngen der Handlung Schwermut und Spannung zu erzeugen, hätte er doch lieber ein paar Fäden zu einem stringenteren Handlungsverlauf verflechten können.

Und was wollte nun der Autor mit diesem Buch? Sein ursprüngliches Vorhaben, eine Hundegeschichte zu schreiben, ist nicht mal im Ansatz gelungen, denn eine Hundegeschichte ist dieser Roman einfach nicht, selbst, wenn Hunde darin vorkommen. Auch die Hundeheldin Almondine, der eine Art 6. Sinn angedichtet wird, macht mit diesen Möglichkeiten keine spannende Entwicklung durch, noch entwickelt sich etwas zwischen ihr und Edgar, was man Dramaturgie nennen könnte. Almondine bleibt immer auf die gleiche Weise und im selben Maße aufmerksam, vorsichtig und unterstützend. Warum Edgar einen Verrat darin sieht, daß sich der Hund während seiner Abwesenheit in der Nähe des stärksten Familienmitglieds aufhält (eine völlig normale Verhaltensweise), läßt sich nicht aus der vorher geschilderten Geschichte ableiten.

Und schließlich nimmt Edgar als das versprochene "Abenteuer Wildnis" endlich nach über 400 Seiten losgeht, drei ganz andere Hunde mit, Essay, Tinder und Baboo, die alle ebenso großartig sind und ebenso gut seine Gebärden verstehen wie Almondine. Auch hier entwickelt sich keine wirklich bemerkenswerte Beziehung zu den Hunden, die dem Leser am Ende des Buches noch bewegt oder in Erinnerung bleibt. Baboo und Tinder entscheiden unterwegs selbständig, daß Henry das bessere Herrchen ist, und Essay entschließt sich am Ende des Buches, die Sawtellehunde in die Wildnis zu führen. Es bleibt bestenfalls das Gefühl, irgend etwas Wichtiges überlesen zu haben, um all das zu verstehen.

In diesem Sinne liest man dann auch Stephen Kings Bemerkung, daß er das Buch noch einmal lesen will, das doch, offen gesagt, ziemlich langweilig und aussagelos ist, ganz anders. Auf jeder Seite vermißt man die Stellungnahme des Autors, der sich offenbar selbstverliebt in der eigenen Sprache verfangen hat und dem wohl gut plazierte Worte wichtiger sind, als die Handlung seines Romans. Die fast ketzerische Frage, woher der große Erfolg dieses als gehobene Unterhaltungsliteratur eingeschätzten Buchs wohl kommen mag, kann man jedenfalls nicht aus seinem Inhalt beantworten.

Vielleicht läßt sich dieser auch nur im Rahmen der derzeitigen politischen Entwicklungen des amerikanischen Staates verstehen. Angesichts der zunehmenden Krisen dieses Landes und den daraus erwachsenden existenziellen Nöten scheint die ungewöhnliche Furore, die um einen ganz normalen Unterhaltungsroman gemacht wird, durchaus System zu haben. Ein derart unspektakuläres Buch, das selbst die Widersprüche und kritischen Ansätze jener Zeit, in der seine Handlung stattfindet, nicht einmal im Ansatz aufwirft, durch die Medien aufsteigen zu lassen, eignet sich denkbar gut, von den eigentlichen Problemen abzulenken. Eine Handlung, die keine Denkansätze bietet, läßt systemgefährdende Fragen nicht erst aufkommen und bedarf keiner Zensur.

Mag der Leser angesichts des überaus traurigen Endes vielleicht sogar noch zu dem zufriedenstellenden, schwarz-weiß gezeichneten Ergebnis gelangen, daß sich Bösewichte schließlich immer selbst zur Strecke bringen, wobei sich Kollateralschäden mehr oder weniger Unschuldiger nie ganz vermeiden lassen. In dieser beinahe kritisch zu nennenden Anlehnung an die Wirklichkeit liegt der Hund in der Binse begraben... Und ehrlich gesagt, wer will so etwas lesen?

4. August 2009


David Wroblewski
Die Geschichte des Edgar Sawtelle
DVA Belletristik, Juli 2009,
aus dem Englischen von Barbara Heller,
Rudolf Hermstein
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag,
704 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-421-04414-3
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Die Originalausgabe erschien 2008
unter dem Titel "The Story of Edgar Sawtelle"
bei Harper Collins