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REZENSION/112: Carsten Jensen - Wir Ertrunkenen (SB)


Carsten Jensen


Wir Ertrunkenen



Wie können "Wir Ertrunkenen", so wir doch ertrunken sind, noch Zeugnis ablegen über unsere Erlebnisse und Erfahrungen, kurz über das uns Geschehene in seinem noch dazu tödlichen Verlauf? Der dänische Autor Carsten Jensen wird für sein Werk mit großem Bedacht gerade diesen für Seefahrtsromane eigentlich ungewöhnlichen Titel gewählt haben, da damit der thematische Schwerpunkt, die sogenannten Schattenseiten der im konventionellen gesellschaftlichen Verständnis positiv bewerteten Seefahrt vorweggenommen und angedeutet wird. Tatsächlich ist "die Seefahrt" aus dem historischen Selbstverständnis der westlichen Welt, die sich als "christliches Abendland" begreift, schwerlich wegzudenken und hat bis heute nichts von ihrer fundamentalen Bedeutung in Hinsicht auf die Besitzstandssicherung einer sich längst in globalisiertem Ausmaß militärisch und administrativ positionierten Elite verloren. Dabei erweist sich gerade in jüngster Zeit, daß die traditionelle Unterscheidung zwischen der zivilen, das heißt handeltreibenden Seefahrt und der Kriegführung zur See kaum noch aufrechtzuerhalten ist, weil beide Funktionen zunehmend in eins fallen und die militärische Sicherung maritimer Handelswege aus Sicht westlicher Hegemonialmächte längst selbstverständlicher Zweck für die Einsätze ihrer Kriegsschiffe in den Elendsregionen der Welt geworden ist.

All dies wird in Jensens Roman "Wir Ertrunkenen" weder thematisiert noch berührt aus dem einfachen Grunde, daß in ihm die Lebensgeschichten der Bewohner der dänischen, auf der Ostseeinsel Aerö gelegenen Seefahrtsstadt Marstal in der Zeit zwischen 1848 und 1945 über mehrere Generationen hinweg geschildert werden, wobei sich, unterstützt durch den bestechend direkten und schnörkellosen Erzählstil des Autors, ein Geschichtsbild Marstals abzeichnet, das interessierten Lesern das unbedingte Gefühl zu vermitteln imstande ist, "dabei" gewesen zu sein, so als ob sie die in diesem Roman erzählten Geschichten selbst durchlebt hätten. Carsten Jensens dritter Roman, von dem in Dänemark seit seinem Erscheinen 2006 bereits über 120.000 Exemplare verkauft wurden, weist eine Qualität auf, die Erinnerungen wachzurufen imstande ist an eine, gemessen an den auf dem Buchmarkt im allgemeinen feilgebotenen Produkten, verlorengegangene Erzählkunst.

Selbstverständlich kann und sollte "Wir Ertrunkenen" als ein Seefahrer-Roman bezeichnet werden; schließlich segeln die Leser in diesem 780 Seiten umfassenden Erzählwerk mit den Marstalern über alle Weltmeere, durchleben die Übergangszeit zwischen Segel- und Dampfschiffahrt und machen, nicht zuletzt, sondern gleich zu Beginn, unliebsame Bekanntschaft mit auch zur See geführten Kriegen, deren Schrecken in dem deutsch-dänischen Krieg von 1848 denen der späteren Weltkriege in nichts nachstanden. Mit Seemannsromantik und Klabautermanngeschichten hat dieser Roman nichts zu tun, haftet ihm doch eine Plausibilität und Glaubwürdigkeit an, die sich aus der mit sanfter Hand aufs unaufdringlichste gezeichneten Position des Autors ableiten läßt. Jensen erzählt die Geschichten und Geschichte seiner Heimatstadt - er ist selbst in Marstal aufgewachsen -, ohne je aus der Distanz gefälliger Betrachtung zu be- oder verurteilen.

Wenn dennoch manche Rezensenten schnell mit dem Wort "Seemansgarn" zur Hand sind, um das Werk abzuqualifizieren oder zumindest in den Ruch belletristischer Schnöseligkeit zu manövrieren, stellen sie damit in erster Linie sich selbst ein Armutszeugnis aus, weil sie sich und möglicherweise auch anderen den Zugang zu brachliegenden Potentialen in der menschheitsgeschichtlichen Kulturentwicklung verbauen durch das engstirnige Beharren auf einem Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff, der mit der Materie keineswegs in Deckung zu bringen ist und schon von seiner Bedeutung her nicht mehr leistet, als die Bereitschaft seiner Anwender und Verbreiter, sich den gesellschaftlichen Normen und Denkfesseln zu unterwerfen, zu dokumentieren. Dabei liegt in einem Roman wie "Wir Ertrunkenen" eine Substanz, die, längst äußerst rar geworden, Anhaltspunkte in Hülle und Fülle bietet, um das Erzählen und Schreiben von Geschichten mit Geschichtsschreibung zu verbinden.

Die Trennung zwischen persönlichen Lebensgeschichten - das Wort "Geschichte" hat seinen Ursprung im Wort "geschehen" und bedeutete zunächst "Geschehnis, Begebenheit, Ereignis", wurde im 15. Jahrhundert mit der aus dem Lateinischen entlehnten Historie gleichgesetzt und erst im 18. Jahrhundert zu der heutigen Wortbedeutung im Sinne von Geschichtswissenschaft vertieft - und Geschichte im allgemeinen, historischen Verständnis stellt keineswegs einen Fortschritt, sondern eine Verarmung und Einengung menschlicher Möglichkeiten dar. Sie könnte, so absurd dies anmuten mag, unter Verwendung von Romanen wie beispielsweise "Wir Ertrunkenen" perforiert und aufgehoben werden. Wer sich unvoreingenommen der Lektüre zu widmen und den Erzählfäden zu folgen bereit ist, wird sich einen Zugang zu historischen Fragen und Sachverhalten verschaffen können, wie ihn als solche ausgewiesene Geschichtsbücher keineswegs zu vermitteln imstande sind.

Carsten Jensens Erzählstil läßt jegliche Distanz zu den Akteuren des Geschehens eben nicht vermissen, und gerade dies macht eine der großen Stärken dieses im engsten Wortsinn historischen Romans aus. Darüberhinaus kennzeichnet ihn jedoch eine Parteilichkeit und Bereitschaft des Autors zur inhaltlichen Stellungnahme, weshalb den Lesern keineswegs "nur" eine höchst lebendige Schilderung vergangener Seefahrtstage und -schicksale, sondern ein Problembewußtsein vermittelt wird, das in der das heutige Werk umgebende, auf bloßen konsumistischen Genuß abgestellten Nabelschau-Literatur kaum noch anzutreffen ist. Personifiziert durch zwei Figuren des Romans, die Marstalerin Klara Fries und ihren Sohn Knud Erik, wird ein Konflikt nachgezeichnet und nahegebracht, der gleichermaßen ein persönlicher wie auch ein politischer bzw. zeitgeschichtlicher gewesen ist.

Klara Fries hat, wie viele Frauen in Marstal, ihren Ehemann an die See verloren und scheitert in ihrem Bemühen, ihren Sohn davon abzuhalten, ebenfalls zur See zu fahren. Eingeflochten in die Handlung und die erzählten Geschichten wird den Lesern ein gegenüber der Seefahrt schlechthin kritischer bis ablehnender Standpunkt vermittelt und nahegebracht, ohne daß die dadurch begründete Unruhe durch eine einfache Botschaft, eine Lösungsformel oder eine schnelle Rezeptur besänftigt wird. Der Roman endet, soviel darf an dieser Stelle verraten werden, mit einem eher entspannenden Finale, das nicht von ungefähr mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und damit auch eines mörderischen Seekrieges in eins fällt. Doch wirkliche Freude über ein vermeintliches Happy-End liefert der Roman nicht. Um vorbehaltlos an einen Nachkriegsfrieden und die Rückkehr zur zivilen Handelsschiffahrt zu glauben, hat dieser Roman viel zu lebensnah und illusionsarm eine Realität geschildert, deren tatsächliche Schrecken keineswegs nur in den Gefahren beruhen, die die Seefahrt nun einmal mit sich bringt, sondern die ihre tieferen Wurzeln in den gesellschaftlichen Herrschafts- und Verfügungsverhältnissen haben, die eine ganz eigene, in "Wir Ertrunkenen" nicht minder thematisierte Geschichte aufweisen.

15. Mai 2009


Carsten Jensen
Wir Ertrunkenen
Albrecht Knaus Verlag, München 2008
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Gebunden, 781 Seiten
ISBN 978-3-8135-0301-2

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel "Vi, de druknede"
bei Gyldendal, Kopenhagen