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REZENSION/104: Andreas Brandhorst - Feuerstürme (SB)


Andreas Brandhorst


Feuerstürme



Organisches Leben zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß es getrieben ist, seine Existenz zulasten anderer Organismen aufrechtzuerhalten. Obgleich der Erfolg solchen Verzehrs von kurzfristiger Natur ist, scheint eine Abkehr von diesem Prinzip nicht ohne Preisgabe des eigenen Lebens möglich und wird in der Regel nicht reflektiert, geschweige denn angestrebt. Dieses Grundinteresse der irdischen Lebensformen wird in der Science-fiction-Literatur gern in kosmische Dimensionen projiziert. Auch die Bewohner anderer Planeten, mögen sie Tentakel haben anstelle von Armen, grünhäutig sein oder in kristalliner Form ihr Dasein fristen, werden in den meisten Romanen als Verbrauchswesen beschrieben. Selbst Unsterblichkeit enthebt sie manchmal nicht vor der Notwendigkeit des verharmlosend als Stoffwechsel bezeichneten Freßprinzips.

Der Science-fiction-Autor Andreas Brandhorst setzt mit dem Roman "Feuerstürme", dem zweiten Teil einer Trilogie, die im facettenreichen Kantaki-Universum angesiedelt ist, den verzweifelten Kampf der Menschen und ihrer Verbündeten gegen die Graken und den ihnen symbiotisch angegliederten Vitäen fort. Loses gesellschaftliches Zusammenleben versus Kollektiv - welcher Lebensentwurf sich durchsetzt, wird man vermutlich erst im kommenden Band "Feuerträume" erfahren.

Das symbiotische Kollektiv aus den dominierenden Graken und ihren Vitäen, den Chtai (Wissenschaftlern), Kronn (Soldaten) und Geeta (Kustoden), hat das für Millionen Spezies auf der Erde typische mörderische Absorbieren, Aussaugen, Integrieren und Vernichten anderer Lebensformen hochgradig weiterentwickelt. Die Allianzen der Freien Welten (AFW) befinden sich trotz des im ersten Band dieses Zyklus beschriebenen und in der Romanzeit 23 Jahre zurückliegenden Erfolgs im Kampf gegen die bewußtseinsschlürfenden Graken, die ganzen Planetenbevölkerungen den Lebenssaft Amarisk entziehen, bis nur noch leere, verödete Hüllen übrigbleiben, wieder auf dem Rückzug. Die Graken haben in der Zwischenzeit dazugelernt und sind nicht mehr daran gebunden, mit Hilfe einer Sonne in den Lebensraum ihrer Beute einzutauchen, sondern können Portale in den freien Raum projizieren. Zudem haben sie sich angewöhnt, Planeten mit Feuerstürmen zu überziehen und dadurch den Widerstand gegen ihre Invasion zu brechen.

Abgesehen von dieser überwältigenden äußeren Bedrohung zerfallen die Allianzen der Freien Welten auch aufgrund der unhaltbaren inneren Widersprüche, die bislang mit repressiven Mitteln zugedeckt wurden.

Die mit paranormalen Gaben ausgestatteten Mitglieder der Schwesternschaft der Tal-Telassi auf dem kosmisch bedeutenden Planeten Millennia werden innerhalb der AFW rigoros unterdrückt. Jegliche Psi-Aktivitäten müssen angemeldet und genehmigt werden, andernfalls droht den Betroffenen die Bestrafung. Ein lückenloses Netz aus Alarmanlagen sorgt für die Einhaltung der Bestimmungen.

Dominique, die Tochter Dominiks, des Hauptprotagonisten aus dem ersten Band, hält sich nicht an die Regeln, schließt sich den Insurgenten, der extremistischen Fraktion innerhalb der Schwesternschaft, an und plant mit ihnen eine gewaltsame Erhebung. Sie und ihre Mitschwestern empfinden die Kontrolle des Oberkommandos über Millennia als Besatzung. Dominique verfügt mehr noch als ihr Vater über ganz besondere Fertigkeiten und beherrscht die zehn Stufen des Tal-Telas souverän. Das bedeutet, daß sie über Fähigkeiten verfügt wie, sich von einem Ort zu einem anderen zu versetzen, in die nahe Zukunft zu schauen, sich gedanklich gegen Sondierungen abzuschirmen oder in die Gedanken anderer einzudringen.

Wegen eben dieser Gabe wird Dominique von einer Einsatzgruppe des Oberkommandos der AFW-Welten entführt und zu einem geheimen Forschungslabor auf einem anderen Planeten verschleppt, wo sie in die Gedanken eines jungen Brainstormers namens Rupert, der sich auf den emotionalen Stand eines Kleinkindes befindet, eindringen soll, um ihm sein Wissen zu entreißen. Diesen Versuch hatten schon mehrere zwangsrekrutierte und willenlos gemachte Tal-Telassi nicht überstanden. Auch die unter einen bewußtseinsverändernden Wirkstoff namens Entratol gesetzte Dominique kommt dabei fast ums Leben. Ruperts Zorn schlägt ungeheuer wirkungsvoll zu, dem hat selbst eine Großmeisterin der Tal-Telassi nur wenig entgegenzusetzen. Der Brainstormer besitzt ein enormes Potential, weiß es aber nicht gezielt anzuwenden. Rupert weiß etwas über eine bis dahin unbekannte Macht, die den Graken und ihren Vitäen technologisch überlegen ist und ihnen eine schwere Niederlage beigebracht hat.

Bei dieser Macht handelt es sich um eine dritte gemeinschaftliche Lebensform neben der Menschenallianz und dem Graken-Vitäen-Kollektiv. Diese Macht nennt sich Crotha und ist teilweise künstlicher Herkunft, hat aber organische Wesen und deren Bewußtseine integriert. So auch Keither, einst menschlicher Pilot eines Fernerkunders auf dem Weg in die Nachbargalaxis Andromeda, die als mögliche Zufluchtstätte für die Menschheit in Augenschein genommen werden sollte.

In mehreren parallelen Handlungsebenen schildert Brandhorst, wie Dominique und Rupert aus dem geheimen Brainstormerlabor fliehen und irgendwann ein Schiff der legendären Kantaki einnehmen, wie die Tal-Telassi erfolgreich die Herrschaft des Oberkommandos und dessen skrupellosen Hegemons Maximilian Tubond abstreifen, wie dieser zur Rettung seiner Position mit den Graken paktiert und zum Schluß in deren symbiotische Lebensform integriert wird, wie die Crotha zunächst einmal bezwungen werden, so daß ein uraltes Leben endet, und vieles, vieles mehr.

Brandhorst hat eine fulminante Space Opera entworfen, die sich, ausgestattet mit einer geheimnisvollen Historie und einer übergeordneten Kosmologie, von der ersten bis zur letzten Seite spannend liest. Vieles klärt sich erst im Verlauf der Handlung, manches bleibt offen und dürfte wohl im dritten Band zum Abschluß gebracht werden. Dazu gehört sicherlich die Frage, was es mit dem mächtigen, gnomhaften Wesen Olkin auf sich hat, für den die tödlichen Konflikte zwischen den niederen Wesen nur ein Spielchen auf dem kosmischen Schachbrett zu sein scheinen.

Olkins Einflußnahme auf die Geschehnisse ist unstrittig, sie entzieht sich jedoch weitgehend der Rückführbarkeit. Lediglich dank einem der völlig enthemmten Brainstormer-Schübe Ruperts, bei dem sich Olkin im übertragenen Sinn die Ohren zuhalten muß, um nicht hinweggefegt zu werden, gelingt es Dominique und ihrem im Laufe der Handlung zum Kampfgefährten gewandelten Schützling, sich dem Zugriff des Gnoms zu entziehen und auf einem Kantaki-Schiff zu fliehen. Auf Dominique, die gewissermaßen das Erbe der Kantaki antritt und von Mutter Rrirk, einer jahrtausendealten Vertreterin dieses Volks, den Auftrag erhalten hat, "dem Schattenuniversum Licht" zu bringen, dürften im bereits angekündigten dritten Band noch erheblich größere Probleme zukommen, als sie sie bereits jetzt nicht bewältigt hat.

Wer Gefallen an großen Science-fiction-Entwürfen findet und bereit ist, nicht immer unverzüglich eine Erklärung für das Verhalten der Figuren und deren Interessen serviert zu bekommen, dürfte an diesem zweiten Band aus der "Ära des Feuers" seine Freude haben. Im nebenbei werden klassische Science-fiction-Themen angesprochen, zum Beispiel, ob künstliche Intelligenzen (Megatrone) Bewußtsein und Persönlichkeit entwickeln können, ob sie nicht auch als Leben zu definieren sind (hier werden sie als "falsches Leben" bezeichnet), was der Sinn des Lebens ist, ob und auf welche Weise ewiges Leben erlangt werden kann, und ähnliche Fragen mehr. Es empfiehlt sich, zunächst Band 1 "Feuervögel" zu lesen, wohingegen Kenntnisse aus der ersten Kantaki-Trilogie nicht erforderlich sind.

28. August 2007


Andreas Brandhorst
Feuerstürme
Wilhelm Heyne Verlag, München 2007
ISBN-13: 978-3-453-52236-7
590 Seiten
8,95 Euro