Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/071: Tim O'Brien - Was sie trugen (Vietnam) (SB)


Tim O'Brien


Was sie trugen



Sicherlich könnte man Tim O'Brien den Vorwurf machen, daß er in seinem Vietnam-Erzählband "Was sie trugen" nicht ein einziges Mal zu den imperialistischen Interessen der US-Regierung an diesem Krieg Stellung nimmt, zu ihrer auf lange Sicht angelegten Weltherrschaftsstrategie. Dennoch ist sein Buch keineswegs stellungslos und gerade für jene lesenswert, die sich mit dem Gedanken tragen, sich aufgrund ihrer politischen Meinung an eine Front zu begeben, an der nicht nur Wortgefechte ausgetragen werden. Denn niemand, der an den bestehenden Verhältnissen etwas ändern möchte, kommt daran vorbei, sich mit seinen eigenen Beteiligungen an diesen Verhältnissen zu konfrontieren. Und genau das hat Tim O'Brien in seinem Buch auf eine Weise getan, die es unbedingt empfehlenswert macht.

Ob er es nun als verlogen empfindet, sich kritisch über die politischen Machenschaften eines Landes zu äußern, dessen Privilegien er als amerikanischer Schriftsteller genießt, oder ob er einfach der Meinung ist, nach immerhin zwanzig Jahren politischer Aufklärung über die Hintergründe des Vietnamkriegs gäbe es dem nichts mehr hinzuzufügen, sei einmal dahingestellt. O'Brien schreibt in erster Linie nicht über Politik, er schreibt über Menschen, die sich durch Feindesland bewegen, weil man es ihnen befohlen hat und weil sie sich diesem Befehl nicht entziehen konnten oder wollten. Er beschreibt, wozu der Einzelne als der Ausgangspunkt jedweder politischen Gesinnung unter außergewöhnlichen Umständen plötzlich fähig oder aber unfähig ist. Fähig zum Verbrennen und Erschießen von Frauen und Kindern, unfähig, dem besten Kameraden zu helfen, weil man den Gestank des Drecks, in dem er versinkt, nicht mehr ertragen kann. O'Brien begibt sich in die Zone, in der sich eine politische Meinung urplötzlich in Luft auflösen oder in ihr Gegenteil verkehren kann, er begibt sich in die Zone, wo nur das Überleben zählt oder aber eine Position, die mit dem Überleben identisch geworden ist - und die sicher nur die wenigsten für sich realisiert haben.

In "Was sie trugen" gibt er Erlebnisse und Begebenheiten aus dem Vietnamkrieg wieder, wie sie nur jemand wiedergeben kann, der sich entschlossen hat, am Beispiel der eigenen Person aufzuzeigen, daß Menschen im Krieg nicht plötzlich zu Helden werden, sondern vor allem Bekanntschaft mit jenen Seiten machen, die sie vorher für sich selbst weit von sich gewiesen hätten: mit Feigheit, Würdelosigkeit, krassem Egoismus, sadistischer Grausamkeit, abergläubischer Furcht und dem unbändigen Drang zur Freude, wenn es anstelle von einem selbst diesmal noch den anderen erwischt hat.

Er wollte nicht an Ted Lavender denken, aber dann dachte er doch daran, wie schnell es gegangen war, kein großes Drama, umgekippt und tot, und wie schwierig es war, noch ein anderes Gefühl als Überraschung aufzubringen. Es kam ihm unchristlich vor. Er hätte gern tiefe Trauer oder auch Wut empfunden, aber es ging nicht, und er konnte es nicht erzwingen. In erster Linie war er froh, noch am Leben zu sein. Er freute sich über den Geruch des Neuen Testaments, auf dem er lag, Leder, Druckfarbe, Papier und Leim oder irgendwelche Chemikalien. Sogar seine Müdigkeit tat ihm gut, die steifen Muskeln, das Kribbeln im Körper, das Gefühl zu schweben. Er freute sich, daß er nicht tot war. [...] Aber wenn er die Augen schloß, konnte er immer nur denken: rumms und aus. Er spürte nichts als Erleichterung, weil er endlich die Stiefel von den Füßen hatte, und er freute sich über die Nebelschwaden, die ringsum aufzogen, über die feuchte Erde, die Bibelgerüche und den wohligen Trost der Nacht. (S. 23/24)

Wie gesagt, O'Brien erzählt vom Krieg in Vietnam, ohne tiefer auf dessen politische Hintergründe einzugehen. Eigentlich beschreibt er am Beispiel einiger amerikanischer Soldaten in dem südostasiatischen Land nichts anderes als den Menschen in all seiner Häßlichkeit, unabhängig von Nationalität und politischer Gesinnung. Wie nur selten einem Autor, der sich mit solch einem Thema befaßt, gelingt es ihm dabei, die Moral außen vor zu lassen. Tim O'Brien bezieht die eigene Person voll mit ein, er wagt sich ungewöhnlich weit vor, was das Aufdecken eigener Beteiligungen an den Schrecken des Krieges angeht - so, wie es eigentlich nur jemand kann, der das Ideal eines reinen Gewissens, einer schuldlosen Existenz oder eines inneren Friedens hinter sich zurückgelassen hat.

Bestechend an O'Briens Erzählweise ist, daß er sich kaum dazu aufschwingt, die Begebenheiten, von denen er berichtet, vom Standpunkt des Zivilisten aus zu betrachten und psychologisch oder auch nur logisch auszudeuten. Auf diese Weise gelingt es ihm tatsächlich, eine Ahnung davon zu vermitteln, wie es sein könnte, wenn im Angesicht der Gefahr und in einer völlig fremden Umgebung plötzlich die meisten der mitgebrachten Lebensregeln ihre Gültigkeit verlieren, weil sie der Prämisse des physischen und psychischen Überlebens schlichtweg im Wege stehen. Was in irgendeiner Hinsicht dem Überleben dient, ist wichtig, was ihm nicht dient, ist hinderlich. Ob ein Neues Testament oder der vertrocknete Daumen eines verbrannten Vietcong ihren Besitzern "wirklich" Glück bringen, ist auf einmal völlig egal. Hauptsache sie helfen, die mörderische Angst niederzuhalten, die einen sehr wohl den Verstand und auch das Leben kosten kann.

Der im "friedlichen" Alltagsleben so breite Raum, andere wegen vermeintlich irrationaler Verhaltensweisen zu belächeln, schrumpft in der Todeszone des Krieges vollkommen zusammen. Plötzlich ist es gleichgültig, w i e jemand überlebt, Hauptsache ist nur, d a ß es ihm gelingt. Wer überlebt, ist der Gewinner und wie irrational seine Methoden auch sein mögen, sie werden respektiert.

Selbst der sogenannte Drückeberger wird insgeheim dafür bewundert, wenigstens genug Entschlossenheit aufzubringen, um sich nicht länger in Richtung Tod dahintreiben zu lassen:

Es wäre wirklich nicht schwierig gewesen. Man brauchte bloß einen Schwächeanfall vorzutäuschen, zusammenzusacken, alle Muskeln zu entspannen, nicht mehr zu sprechen und sich nicht mehr zu rühren, bis man von den Kameraden in den Hubschrauber gehoben und mit heulenden Motoren in die Welt hinausgetragen wurde. Sie hätten sich bloß fallen lassen müssen, aber es ließ sich keiner fallen. Es war nicht eigentlich Mut, es ging nicht um Tapferkeit. Vielmehr war es so, daß sie zuviel Angst hatten, um feige zu sein. (S. 27)

Leider gewinnt am Ende des Buches doch der ansonsten nur wenig störende Aspekt der persönlichen Vergangenheitsbewältigung des Autors zunehmend an Bedeutung. Er begibt sich in seine Kindheit zurück, stellt die eigene Person zu sehr in den Mittelpunkt, so als habe er die anfangs mutigen Bekenntnisse seiner Ängste und Schwächen zur Methode gemacht, derer er sich nun geradezu professionell bedient. Für den Leser macht sich dies als deutlicher Authentizitätsverlust bemerkbar. O'Brien überschreitet am Ende seines Erzählbandes die Grenze des Mediums Buch, denn seine Ausführungen setzen ein Interesse an seiner Person voraus, was ein Autor doch eher vermeiden sollte, weil es allzu leicht ins Aufdringlich-Exhibitionistische abgleitet.

O'Briens am Schluß des Buches heraufbeschworener Wunschtraum als Schriftsteller, durch das Erzählen von Geschichten etwas Lebendiges hervorzubringen, Menschen wieder zum Leben zu erwecken, paßt nicht unbedingt zum Thema und ist auch zu vage und unausgegoren, um an die Eindrücklichkeit der vorausgegangenen Erzählungen heranzureichen. O'Brien begibt sich hier auf eine eher abstrakte, psychologische Ebene, die er vorher aufs Eindrucksvollste vermieden hat.

Es hat den Anschein, als habe ihn im Laufe seiner Arbeit als Schriftsteller 20 Jahre nach dem Vietnamkrieg schließlich doch die Gegenwart und mit ihr die Zivilisation endgültig eingeholt. Sonst hätte er sich wohl kaum damit zufriedengegeben, jenen Menschen, die ihm viel bedeutet haben, in niedergeschriebenen Geschichten eine dröge, papierne Existenz zu verleihen. Er wäre, der von ihm beschriebenen Begründungsfreiheit und Nonkausalität des Dschungelkämpfers entsprechend keinen Zentimeter von dem Anspruch abgewichen, sie mittels seiner Erzählung wirklich und unbezweifelbar zum Leben zu erwecken, nicht bloß in einem erklärten Traumland oder in der berühmten schriftstellerischen Phantasie, wie er es so bescheiden formuliert:

Geschichten können uns retten. Ich bin inzwischen dreiundvierzig Jahre alt und Schriftsteller, aber noch heute, hier und jetzt, träume ich mir Linda ins Leben zurück. Genau wie Ted Lavender, Kiowa und Curt Lemon, einen schlanken jungen Mann, den ich getötet habe, einen alten Mann, der neben einem Schweinekoben lag, und andere, deren Leichen ich aufgehoben und auf einen Lastwagen geworfen habe. Sie alle sind tot. Aber in einer Geschichte, die fast so etwas wie ein Traum ist, können die Toten lächeln, sich hinsetzen und in die Welt zurückkehren. (S. 228)
Als der Schriftsteller, der ich heute bin, möchte ich Linda das Leben retten. Nicht den Körper - das Leben. Natürlich ist sie gestorben. Sie war neun Jahre alt, und sie ist gestorben. Sie hatte einen Gehirntumor. Sie erlebte noch den Sommer und die erste Septemberhälfte, dann war sie tot. Aber in einer Geschichte kann ich ihre Seele stehlen. Wenigstens für kurze Zeit kann ich das Absolute, Unveränderliche wieder aufleben lassen. Das Äußere spielt keine Rolle, wichtig ist die Identität dahinter. In einer Geschichte können Wunder geschehen. (S. 239)
Wie sie wirklich hieß, ist unwichtig. Sie war neun Jahr alt. Ich habe sie geliebt, und sie ist gestorben. Doch im Bann von Erinnerung und Phantasie kann ich sie noch sehen wie durch eine Eisschicht hindurch, als ob ich in eine andere Welt blicke, wo es keine Gehirntumore und Bestattungsinstitute gibt, eine Welt ohne Tote. Ich kann auch Kiowa sehen, Ted Lavender und Curt Lemon, und manchmal erkenne ich sogar Timmy [Spitzname des Autors, Anm. d. Red.], der mit Linda im gelben Scheinwerferlicht Schlittschuh läuft. Ich bin jung und glücklich. Ich werde niemals sterben. Ich gleite auf der Oberfläche meiner Lebensgeschichte dahin, immer schneller, bis das Eis unter meinen Kufen schmilzt, ich fahre meine Bögen und drehe meine Pirouetten, und wenn ich einen hohen Sprung ins Dunkle wage und dreißig Jahre später wieder lande, merke ich, daß ich als Tim zurückkomme, der Timmy mit einer Geschichte das Leben retten will. (S. 248/49)

Die psychologische Pirouette, die O'Brien hier dreht, ist offenbar Ausdruck der Distanz, die er im Laufe der Arbeit zu seinen eigenen Erzählungen gewonnen hat. Zwar bekennt er sich zu seinem Traum, durch das Erzählen Leben zu erschaffen oder wiedererstehen zu lassen. Aber indem er sich auf den "Bann von Erinnerung und Phantasie" beschränkt, sperrt er diesen Traum gleich wieder in das Korsett der Rationalität, weil alles andere doch zu verrückt wäre, als daß es sich gegen den gesunden Skeptizismus des vietnam-genesenen Veteranen durchsetzen könnte. Dabei hat er selbst beschrieben, als wie haltlos sich dieser Skeptizismus erweist, wenn es im Dschungel um einen herum finster wird. Mit jener Magie, die er sich zu wünschen scheint, aber eben nur in der gezähmten Version, auf schriftstellerische Träumereien beschränkt, hat er in Vietnam ja offensichtlich Bekanntschaft gemacht:

Wir kämpften gegen Mächte, die sich nicht an die naturwissenschaftlichen Gesetze des zwanzigsten Jahrhunderts hielten. In der Nacht, wenn man Wache hatte, kam es einem so vor, als ob ganz Vietnam lebte und schillerte - seltsam wogende Formen in den Reisfeldern, der schwarze Mann in Sandalen, tanzende Gespenster in alten Pagoden. Es war ein Geisterland, und Charlie Cong war der Herrscher der Geister. Wie er nachts herauskam. Wie er sich nie richtig zeigte und man ihn nur erahnen konnte. Wie er auf fast magische Weise verschwand und wieder auftauchte. Er konnte mit dem Land verschmelzen, die Gestalt verändern, sich in Bäume oder Gras verwandeln. Er konnte schweben. Er konnte fliegen. Er konnte durch Stacheldraht gehen, wie Eis zerfließen und sich geräuschlos anschleichen. Er war unheimlich. Bei Tag glaubte man vielleicht nicht an diesen Unsinn. Man lachte darüber. Man riß seine Witze. Aber in der Nacht wurde man schnell bekehrt: Im Schützenloch gab es keine Skeptiker. (S. 207)

Kein Zweifel, daß Tim O'Brien seinen "gesunden" Skeptizismus wiedergefunden und demzufolge endgültig das Schützenloch verlassen hat. Er hat seine Wünsche und Träume getreu den für ihn wieder in Kraft getretenen Regeln westlicher Zivilisation dorthin sortiert, wo sie dem psychisch stabilen Bürger zugestanden werden: in das Reich der Träume. Und diese freiwillige, "vernünftige" Selbstbeschränkung wird dafür sorgen, daß aus seinen Erzählungen nie mehr wird als Literatur, nie mehr wird als ein Dokument seiner Kapitulation vor jenen gesellschaftlichen Kräften, die ihm vorschreiben, wo die Grenzen seines Strebens sind. O'Brien scheint es leichter zu fallen, sich zu seiner selbstgewählten Kleinmütigkeit zu bekennen, als sich an ihre Überwindung zu machen. Aber er hat auch nie behauptet, besonders streitbar zu sein.

Die oben zitierte Textstelle beginnt: "Wir kämpften gegen Mächte, die sich nicht an die naturwissenschaftlichen Gesetze des zwanzigsten Jahrhunderts hielten." Das hat O'Brien damals selbst so erlebt. Aber er kommt offensichtlich nicht auf den Gedanken, zumindest erzählerisch etwas ähnlich Grenzüberschreitendes leisten zu wollen. Vermutlich denkt O'Brien inzwischen eher wie Horace Engdahl, der in seiner Laudatio anläßlich der Nobelpreisverleihung an Günter Grass in Stockholm die "Macht der Literatur" heraufbeschwor: "Sie haben aufgezeigt, daß die Literatur eine Macht bleibt, solange sie erinnert, was Menschen gerne schnell vergessen." ("Der Spiegel" Nr. 50/1999, S. 257) Wie überzeugend diese angebliche Macht der Literatur ist und wie tief sie durch das gernbeschworene Erinnern das Verhalten einer Nation beeinflussen kann, haben die Amerikaner in Ex-Jugoslawien ja gerade erst bewiesen.

Doch ungeachtet dessen darf keinesfalls aus dem Blickfeld geraten, daß O'Briens Erzählweise erst gegen Ende des Buches zugunsten von Selbstreflexionen ihre Unmittelbarkeit einbüßt. Was davor liegt, ist eindrücklicher als die bloßen Betrachtungen und Erinnerungen eines Vietnam-Veteranen. Und gerade deshalb ist es doppelt schade, daß O'Briens künftigen Werke wohl getreu seiner abschließend gefaßten Selbstdefinition nichts anderes mehr sein wollen und sein werden als einfach bloß - Literatur.


Tim O'Brien
Was sie trugen
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Regina Rawlinson
Luchterhand Literaturverlag GmbH, München 1999
249 Seiten
ISBN 3-630-87025-2