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REZENSION/067: Tilman Röhrig - Funke der Freiheit (Hist. Jugendbuch) (SB)


Tilman Röhrig


Funke der Freiheit



Am 23. März 1819 wurde in Mannheim der Theaterdichter, Publizist und Kaiserlich Russische Staatsrat Friedrich von Kotzebue erstochen. Über diesen Vorfall geben Geschichtsbücher Auskunft.

Tilman Röhrig hat sich nun mit seinem Buch "Funke der Freiheit" das Ziel gesetzt, den historischen Hintergrund dieses Mordes zu beleuchten. Für seine Darstellung wählt er die Romanform, wobei er den jungen Attentäter Katzebues, Carl Ludwig Sand, größtenteils selbst zu Wort kommen läßt.

Die verwendeten Fakten betreffend, hält sich der Autor nachweislich an das historische Quellenmaterial. Was den Roman jedoch von der Lektüre eines Geschichtsbuchs abhebt und unterscheidet, ist der besondere Wert, den Tilman Röhrig auf die Beschreibung der Persönlichkeit Carl Ludwig Sands legt. Dadurch wird eine Fußnote der Geschichte mit Leben gefüllt und auf die denkbar anschaulichste Weise in den Vordergrund gestellt. Gleichzeitig dient die Beschäftigung mit der Person und den Beweggründen Carl Sands als Plattform für eine Auseinandersetzung mit einigen herausragenden zeitgeistlichen Strömungen seines Lebensumfelds.

Bei einer inhaltlichen Beschreibung des Romans vermischt sich entsprechend der Herangehensweise des Autors das historische Faktenmaterial mit der subjektiven Sichtweise des jungen Studenten Sand. Dessen Sichtweise ist jedoch so fließend in den Text integriert, daß sie gleichfalls hundertprozentig authentisch wirkt:


Die Tatsache, daß es sich bei dem jungen Attentäter um einen Theologiestudenten handelt, wie auch der Umstand, daß er den Mord ganz offensichtlich vorsätzlich begeht, sorgte in den deutschen Staaten des letzten Jahrhunderts für Aufsehen und Verwunderung.

Der Attentäter, Carl Ludwig Sand, ist 23 Jahre alt und erklärt, den konservativen Kotzebue ermordet zu haben, da dieser "die Deutschen beleidigt" und insbesondere die liberalen Ideen der Burschenschaften verspottet habe. Durch den Mord will er ein Opfer für sein Vaterland bringen und ein Zeichen setzten, welches ein Signal für die Befreiung Deutschlands geben soll.

[Anmerkung: Im Originaltitel des Romans: "Der Freiheit eine Gasse", kommt das Motiv des Selbstopfers noch stärker zum Ausdruck. Der Titel spielt auf eine Begebenheit an, in der sich ein Kämpfer in einer Schlacht in die Reihen der Feinde stürzt, deren Aggression auf sich zieht, und auf diese Weise den nachfolgenden Freunden den Weg ebnet.]

Sand fügt sich selbst bei dem Attentat eine tödliche Wunde zu. Während er von Ärzten betreut wird, die ihn nach allen Regeln damaliger medizinischer Kunst wieder zusammenzuflicken, erhält er Besuche von hohen Regierungsbeamten, die ihn zu dem Mordfall befragen. In Gesprächen mit diesen Beamten berichtet Sand von seiner Kindheit und Studienzeit und enthüllt damit seine Motivation zu dem Attentat, das in einer geschichtlich brisanten Epoche hohe Wellen geschlagen hat.

Carl Sand fühlt sich in keiner Weise schuldig. Während des Verhörs ist er sogar der Ansicht, "der Welt" - mindestens aber alle Deutschen - die Richtigkeit seiner Tat vermitteln zu können. Der junge Mann ist durch und durch Patriot und der unerschütterlichen Überzeugung, daß er einer guten Sache - nämlich der Einheit Deutschlands - einen richtungsweisenden Impuls gegeben hat.

Der Vernehmungsbeamte, der Carl Sand auf dem Krankenlager verhört, hat den Verdacht, daß er in einem Punkt nicht die Wahrheit sagt: Sand hält an der Version fest, daß er das Attentat allein verübt hat, und niemand anderen Schuld trifft. Der Beamte geht vom Gegenteil aus und will herausfinden, wer der "Aufwiegler" im Hintergrund ist, der "diesen wohlerzogenen jungen Mann" zu einem Mord angestiftet hat. So besteht also auf beiden Seiten großes Interesse daran, das "Verhör" so lange und so gründlich wie möglich zu führen: Carl Sand möchte der Welt den hohen Wert seines "Opfers" begreiflich machen; die Vernehmungsbeamten dagegen sind bestrebt, ihn zu einer Aussage gegen die mutmaßlichen 'Hintermänner' zu bringen.


Tilman Röhrig verbindet gekonnt die Fakten und Umstände eines Mordfalls aus dem Jahr 1819 mit den Erinnerungen und Gedanken des jungen Attentäters. Auf diese Weise erhält man das Panorama einer politisch ereignisreichen Zeit, über die heute normalerweise nicht mehr allzuviel gesprochen wird. Er beleuchtet dieses Kapitel deutscher Geschichte - eine Zeit des Umbruchs in Europa - und stellt den damaligen Zeitgeist eines radikalen Nationalismus in den Vordergrund. Dabei beschäftigt ihn besonders die Frage, ob Carl Sand ein kaltblütiger Mörder oder ein Verführter ist. Der Autor beantwortet diese Frage eindeutig.

Gerade dadurch, daß die Romanfigur Sand selbst noch mit schwindenden Leibeskräften darum bemüht ist, seine Freunde - und besonders seinen Mentor - nicht zu verraten, macht seinen zu allem entschlossenen Fanatismus deutlich. Nach Auffassung des Autors ist Sand ein Verführter, der sich mit Begeisterung und Todesverachtung zum Werkzeug eines frühen deutschen Nationalismus macht. Daß er selbst von der Richtigkeit seiner Tat felsenfest überzeugt ist, macht ihn dieser Logik folgend noch längst nicht mündig. Das heißt, die Hauptverantwortung an dem Attentat liegt nicht bei Carl Sand, sondern seinen radikalen Lehrern, Dr. Karl Follen und Friedrich Ludwig Jahn mit ihrer fanatischen Forderung nach einem deutschen Nationalstaat.


Bei einem parallelen Blick in ein Geschichtsbuch ist, wie gesagt, leicht feststellbar, daß der Autor sehr dicht an den historischen Ereignissen schreibt, die sich in der Zeit von Carl Sands Jugend ereignet haben. Erinnerungen an die Schlacht bei Leipzig von 1813, das Wartburgfest im Jahr 1917, sowie der ganze Mordfall sind authentisch. Selbst Details wie etwa die besondere Farbwahl der Kleidung oder auch eingeflochtene zeitgenössische Gedichte entsprechen überlieferten Zeugnissen.

Fast wirkt es, als sei der Autor zum "Medium" bzw. zum Sprachrohr der Zeit geworden. Nie denkt man beim Lesen: Na, das schreibt er aus unserer heutigen Sicht so auf - ein Umstand, der einem das Lesen historischer Romane durchaus verleiden kann.

Besonders unterstützt wird der Eindruck der Authentizität auch durch die Sprache des Romans. Allerdings läßt gerade die gelungene Kombination des Themas mit dem auf die damalige Zeit abgestimmten Stil die Frage aufkommen, ob dieses Buch von Jugendlichen gern gelesen wird. Die Kehrseite des Bemühens um einen authentischen Tonfall wie auch der angesprochenen Problematik liegt darin, daß der Roman nicht eben eingängig lesbar ist. Er ist zwar sprachlich nicht schwierig, doch besonders für Jugendliche sicher inhaltlich wie auch formal höchst ungewohnt.

Ganz bestimmt ist der Roman hervorragend geeignet, um etwa im Geschichts- oder Deutschunterricht gelesen zu werden. Wie gesagt, die Recherchetätigkeiten des Autors sind beispielhaft verarbeitet. Andererseits weiß wahrscheinlich auch jeder aus eigener Erfahrung, wie unendlich verleidend und kontraproduktiv Unterrichtslektüre sein kann.

Vor diesem Hintergrund sei die Frage gestattet, ob es sich bei dem Roman wirklich um ein Jugendbuch handelt. Gedacht ist es als solches, das steht außer Frage. Doch wie sieht es mit der Bereitschaft oder dem Interesse Jugendlicher aus, sich mit dem Patriotismus Anfang des letzten Jahrhunderts auseinanderzusetzen?

Dieses Thema spricht eher Erwachsene an, die sich bereits mit anderen zeitgeistlichen Strömungen in dieser Richtung befaßt haben. Der Roman könnte also eher bei den Eltern der angestrebten Leserschaft zum Bestseller werden.


Zum Schluß ein Zitat, bei dem es um das Attentatsmotiv von Carl Sand geht:

"Mit leiser Stimme erinnerte er an all die schandbaren Schmierereien, mit denen der Verräter immer schon Studenten und Professoren besudelt hatte. "Sie waren nicht der Anlass. Auch nicht seine schlüpfrigen, unkeuschen Theaterstücke. Erst als sein geheimes Bulletin bekannt wurde. Erst dann fühlte ich zum ersten Mal tiefen Hass." [...]
"Dann aber. Im letzten Herbst auf dem Aachener Congress verteilte dieser Russe Stourdza, dieser Lakai des Zaren, eine Denkschrift über uns Deutsche an die Monarchen Europas."
Was soll das jetzt? Bitte, Sand, konzentrieren Sie sich. Warum Kotzebue?
Unbeirrt fuhr Carl fort:
"Infamste Beleidigungen! Die 'Isis' hat Auszüge abgedruckt. Unsere Universitäten nichts als gotische Trümmer des Mittelalters! Sammelplätze aller Irrtümer des Jahrhunderts, aller lügenhaften Lehren! Unsere geeinte Burschenschaft ist zügellos und gefährlich! Er verlangt von den Fürsten die deutschen Universitäten unter strengste Aufsicht zu stellen. Auch die Presse!"
Carl keuchte; unter heftigen Schmerzen gelang es ihm, den Husten zu unterdrücken. "Noch nie! Noch nie hat man uns Deutsche so beleidigt! Und das von einem Russen, einem feigen Walachen." [...] "Und dieser Kotzebue machte sich zum Verteidiger. Die Schrift sei offiziell. Enthalte nur Tatsachen und Wahrheiten. Diese Schrift sei die Meinung des russischen Zaren und wir Deutsche sollten gut daran tun, auf die Russen zu hören. Nichts denken, nichts tun, was der Zar nicht billigt." Gepeinigt rang er nach Luft. "Dieser Hundsfott wollte das höchste Gut wieder zunichte machen. Freiheit. Ehre. In die alte Knechtschaft wollte er uns zurückstoßen."" (Seite 215-217)

Zu diesem Taschenbuch liegt eine Unterrichtserarbeitung vor. Informationen darüber erhalten Sie beim Arena Verlag, Würzburg.


Tilman Röhrig
Funke der Freiheit
Titel der Originalausgabe: Sand oder Der Freiheit eine Gasse
Gustav Lübbe Verlag, 1993
Arena-Taschenbuch, Würzburg, 1. Auflage 1998
392 Seiten (+ 2 Seiten Literaturverzeichnis)
ISBN 3-401-02586-4