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REZENSION/063: Margaret Atwood - Verletzungen (Selbstfindung) (SB)


Margaret Atwood


Verletzungen



Margaret Atwoods Roman "Verletzungen" beschreibt den wohl als "typisch weiblich" geltenden Selbstfindungstrip einer Enddreißigerin. Vermutlich erst durch die Identifikation mit der Heldin erschließt sich dem Leser die Spannung und die Kraft der Szenen, für die das Buch von der Kritik gelobt wird. Gelingt diese Identifikation jedoch nicht, dann ist die Lektüre von "Verletzungen" ähnlich unerbaulich, wie stundenlang einem leidenschaftlichen Nasebohrer zuzusehen. Auch das Fazit des Buches kommt an Profanität und Unbrauchbarkeit dem Resultat gleich, das ein solcher gemeinhin zutage fördert.

Zum Inhalt: Die kanadische Journalistin Rennie hat eine Brustkrebsoperation hinter sich und läßt sich von einer Zeitung auf die kleine Karibikinsel St. Antoine schicken, vorgeblich um dort einen Reisebericht zu verfassen, tatsächlich um mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen. Von ihrem Freund Jake hat sie sich kurz zuvor getrennt. Die absichtlich lockere, unverbindliche Beziehung hatte den Krebs nicht verkraftet. Rennie kann sich nicht damit abfinden, daß ihr Körper nach der Operation nicht mehr unversehrt erscheint. Der Tod ist ihr zu nahe gekommen, als daß sie seine offenkundig gewordene Gegenwart weiterhin mühelos verdrängen könnte.

Dennoch verbirgt Rennie ihre Ängste und Zweifel hinter der Fassade der selbständigen, berufstätigen Frau, die cool und mit einer Prise Selbstironie auch mit den herberen Schicksalsschlägen lässig umzugehen versteht. Weil sie sich und anderen ständig etwas vormacht, sich nicht einmal ansatzweise die Frage stellt, was sie selbst eigentlich will, ist ihre Weltsicht abgehoben und distanziert, hohl und deprimierend. Auch die Menschen, die ihr begegnen, bleiben für sie Statisten vor dem Hintergrund ihres Geltungsbedürfnisses und ihrer Ignoranz, die sie als Zynismus verkauft.

Rennies Herkunft aus einem kleinen Ort mit typisch bürgerlicher Enge und verlogener Moral hängt ihr nach, doch die Unverbindlichkeit und scheinbare Unverletzlichkeit, in die sie sich flüchtet, ist nur eine andere Spielart desselben Spiels. Sie paßt sich den Vorstellungen und Bedürfnissen des Mannes an, mit dem sie zusammenlebt. Natürlich ist er unverklemmt, freiheitsliebend, unkonventionell (sofern es nicht zu Lasten seiner Bequemlichkeit geht) und haßt gegenseitige Ansprüche in Beziehungen ebensosehr wie langweiligen Sex.

Rennie ist das typische Beispiel einer Frau, die erst durch die Anerkennung anderer überhaupt lebt. So ist sie auch erst fähig, ihren Körper wieder zu akzeptieren, nachdem ihr neuer Liebhaber Paul, den sie auf ihrer Reise kennenlernt, sich nicht an ihrer Operationsnarbe stört. Sie läßt sich von ihm ihren Körper "zurückgeben".

Ständig gerät Rennie in Situationen, in denen sie verunsichert ist und nicht weiß, wie sie sich verhalten soll, was man von ihr erwartet. Und als sie immer tiefer in die politischen und kriminellen Machenschaften der Leute auf St. Antoine hineingezogen wird, verschlimmert sich diese Situation noch.

Rennie verhält sich stets wie ein Zuschauer, auch dann noch, als sie im Zuge politischer Unruhen auf der Nachbarinsel St. Agatha gemeinsam mit ihrer Bekannten Lora ins Gefängnis gesteckt wird. Dort wird sie Zeugin brutaler Mißhandlungen, zuletzt wird Lora gar vor ihren Augen beinahe zu Tode geprügelt.

Beim Anblick der Willkür und Brutalität, mit der die Gefängniswärter gegen die Gefangenen vorgehen, kommt Rennie plötzlich die Erkenntnis, daß es gar nicht sicher ist, ob sie jemals lebend aus dem Gefängnis herauskommt, daß sie von dem Geschehen um sie herum nicht ausgenommen ist. Dies ist der Höhepunkt ihrer "Selbsterfahrung". Danach folgt nur noch ihre Befreiung durch einen kanadischen Regierungsvertreter und ihr Flug in Richtung Heimat. Kein Wort mehr über Lora, die offenbar schwer verletzt im Knast zurückbleibt, kein Wort mehr über ihren Liebhaber Paul, dessen Schicksal ebenso ungewiß bleibt. Die Heldin Rennie hat ja, was sie wollte.

Daß alle Menschen irgendwann sterben müssen und der Krebs sie lediglich darauf aufmerksam gemacht hat, ist Rennie Fazit aus der Reise. Die Erkenntnis, mit dem Tod nicht allein zu sein, genügt ihr. Sie hat den Tod relativiert, es ist alles gar nicht so schlimm, sie kann nun weiterleben wie vor ihrer Erkrankung:

Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, egal, für was. Aber allen anderen geht es genauso. Sie ist darauf nur aufmerksam geworden, das ist alles. Nie wird sie gerettet werden. Sie ist bereits gerettet worden. Sie ist nicht ausgenommen. Statt dessen hat sie Glück, plötzlich, endlich, sie strömt über vor Glück, es ist dieses Glück, das sie aufrecht hält. (S. 295)

Dieser Schlußsatz legt gleichzeitig nahe, daß Rennie durch ihre Erfahrungen im karibischen Knast weiß, daß es anderen (beispielsweise Lora) sehr viel schlechter geht als ihr. Wenn das nichts ist, was einen glücklich machen kann!

Vorausgesetzt, daß Margaret Atwood dieses Buch nicht als satirische Studie weiblichen Rollenverhaltens gemeint hat - und nichts deutet darauf hin - ist es ein "Frauenroman" der übleren Sorte. Selbstachtung geht der Heldin genauso ab wie irgendein über den unmittelbaren Lustgewinn hinausreichendes Interesse an anderen, und das wird auch noch als eine Art weiblicher Lebensklugheit dargestellt. Margret Atwood singt das Loblied der "modernen Frau", die ihr eigenes Kunstprodukt ist, gefertigt nach männlichen Vorstellungen. Trotz leichter innerer und äußerer Lädierungen ist die Frau nach erfolgreichen "Selbstfindung" am Ende wieder wohlfeil auf dem Markt der Unverbindlichkeit. Na also!

Ein Buch, das man sich nicht unbedingt antun muß.


Margaret Atwood
Verletzungen
Selbstfindungs-Roman
claassen Verlag, Düsseldorf 1982
295 Seiten
ISBN 3-546-41104-8