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REZENSION/025: Cees Nooteboom - Rituale (Philosophisch) (SB)


Cees Nooteboom


Rituale



In seinem Roman "Rituale" beschreibt Nooteboom Erfahrungen und Weltsicht eines abgeklärten, egozentrischen, seinen Neigungen ergebenen Kunsthändlers und Müßiggängers im Amsterdam der 60er und 70er Jahre. Besagter Kunsthändler mit der gewollt lächerlichen Namensimitation Inni (nach dem englischen Architekten Inigo) denkt über alles mögliche nach und spricht über alles mögliche mit den Personen, die ihm im Verlauf der Geschichte begegnen. Beispielsweise leuchten Gedanken um Frauen, Sex, Beziehungen, die Zeit, Kirche, griechische Mythologie, Mystiker, Malerei, Kalligraphie, Sekten, Namen, Selbstmord, Sartre, die Teezeremonie und den Tod jeweils für kurze Zeit in seinem Bewußtsein auf.

In seiner distanzierten, oberflächlichen Art interpretiert und beurteilt Inni die Welt des Arnold Taads, der durch seine streng ritualisierte Lebensführung versucht, einen Zugriff auf die scheinbare Beliebigkeit des Daseins zu erlangen. Typisch für Innis Lebenseinstellung ist, daß er keinerlei Bemühungen zeigt, zu Arnold Taads, der sich aus unbekannten Gründen in einen minutiös durchgeplanten Tagesablauf geflüchtet hat, mehr als einen unverbindlichen Kontakt herzustellen. Taads bleibt Objekt seiner teilnahmslosen Beobachtungen, das gerade durch seine offensichtliche Notlage das Selbstwertgefühl von Inni zu erhöhen verspricht. Daß Arnold Taads schließlich in seiner Ferien- Eremitage in den verschneiten Bergen erfriert, erscheint wie die Bestrafung seines ebenso hilflosen wie vergeblichen Versuchs, durch Disziplin Kontrolle zu erlangen.

Jahre später begegnet Inni rein zufällig Philip Taads, dem Sohn Arnolds, der seinem Vater jedoch nie begegnet ist. Auch mit Philip Taads' Gedankenwelt beschäftigt Inni sich auf dieselbe, zoobesucherartige Weise, um bald festzustellen, daß sie der von Arnold Taads sehr ähnlich ist. Nur orientiert sich die Lebensweise, die Philip Taads sich auferlegt hat, eher an fernöstlichen Lehren, die Inni auf nur schwer erträgliche Weise interpretiert, beispielsweise in einer Gleichsetzung der japanischen Teezeremonie mit dem christlichen Abendmahl:

Wie oft hatte er selbst, dachte Inni, das Wasser aus dem Krug in den goldenen Kelch gegossen, wonach der Priester das mit Wasser verdünnte Blut mit einer schnellen, schwenkenden Bewegung in dem goldenen Schimmer herumwirbelte, um dann den Kelch in einem einzigen kraftvollen, saugenden Zug leerzutrinken. Bei diesem letzten Abendmahl ging es nicht anders zu. Frisches Wasser aus dem Kessel, die Schale gereinigt, die gleichen Handlungen, die gleiche Verneigung, und nun war es Inni, der die lodernde, zerbrechliche Form in den Händen hielt und mit geschlossenen Augen trank ... (S. 222)

Wie sein Vater, so geht auch Philip Taads schließlich an seiner Lebens- bzw. Denkweise zugrunde, indem er einen lange geplanten Selbstmord verübt. Zurück bleibt Inni, der sich in seiner Lauerhaltung auf mundgerechte Ereignisse und Begebenheiten endgültig bestätigt sieht. Nur ab und zu läßt Inni in seinen Träumen die beiden Taads noch einmal auferstehen - nur um sich zu freuen, daß er vergleichsweise so viel besser dran ist:

Es gab somit unverkennbar zwei Welten: eine, in der die beiden Taads sich aufhielten, und eine, in der sie abwesend waren, und zum Glück befand er sich noch in der letzteren. (S. 230)

Dieses Buch hat Cees Nooteboom offenbar für alle Innis der Welt geschrieben, die hinter der Fassade des ernüchterten, erwartungslosen Ereignisgourmets die Euphorie klammheimlicher Überlegenheit kultivieren, um sich über ihr papiernes Lebensgefühl hinwegzutrösten. Denn so substanzlos wie die Gedankensplitter von Nootebooms Hauptfigur ist auch deren Charakter - Inni wird von Reizen gelockt oder abgestoßen, hat sich ganz dem Strom der Ereignisse überantwortet gemäß dem in seiner Generation (Inni soll um die 45 sein) weitverbreiteten Aberglauben, immerfort der wählende Kunde zu sein.

Nootebooms Inni umgibt sich gedanklich gern mit Untergang und Verwesung, was in seinen Kreisen offenbar als Indiz für intellektuelle Ausgereiftheit gilt.

Die Welt stank schon seit langem, Amsterdam fing langsam an, vor sich hin zu räuchern ... (S. 15)

Und Nooteboom läßt es sich auch nicht nehmen, sich über so bedeutende körperlich Prozesse wie Kotzen, Schwitzen oder Ejakulieren ausgiebig auszulassen, vielleicht als körperbezogenes Gegengewicht zu Innis gedanklichen Höhenflügen oder einfach um zu zeigen, wie bewundernswert unverklemmt er ist.

Die Bar war lang und dunkel, bestimmt für Börsenjobber und Provinzler, ein schlechtes Publikum, das zu spießig war, zu den Huren zu gehen ... (S. 18)

Über die Nöte von Arnold und Philip Taads setzt Inni sich jedenfalls mit souverän durchgehaltener Gleichgültigkeit hinweg, ähnlich einem Theaterpublikum, dem es ja auch egal ist, ob der Schauspieler gerade Liebeskummer hat oder an einer schweren Krankheit leidet. Der Schauspieler soll für den Zuschauer eine bestimmte Funktion erfüllen, und entweder gelingt ihm das oder er taugt eben nichts. Die Funktion, die Arnold und Philip Taads für Inni zu erfüllen haben, liegt lediglich in der Bestätigung seiner dem Abwarten, der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und einem abgehobenen Pseudo-Realismus gewidmeten Lebensweise, die offenbar in der recht elitären Überzeugung wurzelt, nichts und niemanden ernst nehmen zu müssen.

Aus der Zahl der Selbstmörder, die er kannte - und so muß man das wohl sagen, denn die Tatsache, daß jemand stirbt, setzt erst einmal einen Schlußstrich unter die Bekanntschaft, und sei es nur, weil er oder sie einem keine Überraschung mehr bereiten kann -, leitete er ab, daß sein Bekanntenkreis wohl aus tausend Personen bestehen müßte. Wenn er alle diese freiwilligen Toten zum Tee bitten wollte, würden zwei Dutzend Stückchen Torte von Berkhof kaum ausreichen. (S. 36)

Wie erbärmlich es tatsächlich um Inni bestellt ist, macht auch das Dienstmädchen seines Onkels mit einer kleinen Geste deutlich, die von Inni letztlich aber wie alles andere, was ihm widerfährt, ohne weitere Nutzung konsumiert wird.

""Ach, wie blaß du wieder aussiehst, Kerlchen", sagte sie, und irgend etwas an der Art und Weise, wie sie diese Worte aussprach, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er war es nicht gewohnt, daß Menschen freundlich zu ihm waren." (S. 114)

Symptomatisch für Innis Einstellung zu anderen Menschen ist seine Einstellung gegenüber Frauen, einer entpersonifizierten Spezies, die Sachwalter eines ominösen, an keiner Stelle genauer definierten Wissens sein soll, von dem Inni sich irgend etwas zu versprechen scheint, und sei es nur, seiner Reizabhängigkeit ein fadenscheiniges Gewand von Sinnsuche überzuwerfen.

Er wußte genau, was er suchte. Sex war niemals das, worum es wirklich ging, Sex war nur das berauschende Transportmittel. Frauen, alle Frauen waren ein Mittel, das dazu diente, in die Nähe, in den Ausstrahlungsbereich des Geheimnisses zu kommen, über das sie, nicht aber die Männer walteten. Durch Männer - doch das würde er erst sehr viel später sagen können - lernt man, wie die Welt ist, durch Frauen jedoch, was sie ist. (S. 124f.)

Wie ansprechend eine solche im Grunde völlig inhaltsleere Aussage sein muß (um was für ein Geheimnis es geht, wird vom Autor geflissentlich geheimgehalten), beweist die Tatsache, daß sie als Zitat in dicken Buchstaben den knallroten Buchdeckel der Suhrkamp- Ausgabe ziert.


Fazit

Auf den ersten Blick greift Nooteboom in seinem Buch die Orientierungsnot des Menschen auf und kritisiert die daraus resultierende Neigung, sich mit sinnleeren Ritualen zu betäuben. Doch tatsächlich legt er ein totales Unvermögen offen, sich irgend etwas aus seinem Umfeld - sei es nun christlichen, fernöstlichen oder selbsterdachten Ursprungs - nutzbar zu machen. Nooteboom scheint davon auszugehen, daß Handlungen wie das Abendmahl oder eine Teezeremonie einen bestimmten Inhalt haben müssen, der sich beim Ausführen der jeweiligen Handlungsanweisungen offenbart. So als würde die vorgegebene Form sich tatsächlich auf den Menschen auswirken und nicht umgekehrt:

Vor der Heiligen Jungfrau, vor dem Heiligen Herz, vor dem Allerheiligsten Sakrament, an Taufbecken und Särgen, - immer diese durchgebrochene Haltung, dieser unnatürliche Bruch im Körper, der Erniedrigung und Ehrerbietung ausdrücken sollte. (S. 219)

Ob Nooteboom nie vermutet hat, daß die durchgebrochene Haltung nichts mit dem Niederknien an sich, sondern mit seiner persönlichen Lebenseinstellung zu tun hat, die nichts anderes zuläßt als Anpassung? Nooteboom liegt der Gedanke fern, daß es sich bei den von ihm entdeckten Ritualen um Formen handeln könnte, die in einem ganz bestimmten Zusammenhang sehr wohl einen Nutzen hatten - zum Beispiel bei der Wissensvermittlung von einem Menschen an einen anderen -, also Instrumente des Lernens gewesen sind und keine geheimnisvollen Sammelbehälter der Weisheit. Die Möglichkeit, daß derartige Formen nutzbar gemacht werden könnten, kommt bei ihm nicht vor. Es ist nicht sein Anliegen, irgend etwas nutzbar zu m a c h e n. Entweder, eine Sache bringt etwas, oder sie bringt nichts. Wenn man dann, wie Nootebooms Romanfigur Inni in nahezu infantil anmutendem Trotz beschlossen hat, daß die Welt nicht gewillt oder in der Lage ist, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ...

"Er hatte sich, so dachte er, im Gegensatz zu den meisten anderen nur nicht durch Zeitungen, Fernsehen, Heilslehren und andere Philosophien zu der Doktrin bekehren lassen, dies sei "trotz allem" doch eine ganz annehmbare Welt, nur weil sie nun einmal existierte." (S. 208)

... dann bleibt nur noch, was Inni am Beispiel von Arnold und Philip Taads vormacht: das noch größere Elend anderer zur scheinbaren Verbesserung der eigenen Befindlichkeit zu nutzen. Würde man damit übereinstimmen, müßte man - frei nach Nootebooms Inni - mit hämischer Genugtuung sagen:

Es gibt somit unverkennbar zwei Welten: eine, in der Nooteboom sich aufhält (in der Welt aller Innis), und eine, in der er abwesend ist, und zum Glück befindet man sich in der letzteren.


Cees Nooteboom
Rituale
Philosophischer Roman
Suhrkamp Verlag, 1985
231 Seiten
ISBN 3-518-40522-5