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BUCHBESPRECHUNG/266: Julian Nida-Rümelin - Ähren im Wind. Politische Orientierung in fordernder Zeit (Klaus Ludwig Helf)


Julian Nida-Rümelin:

Ähren im Wind. Politische Orientierung in fordernder Zeit.

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2025


Der Philosoph, Wissenschaftler und ehemalige SPD-Kulturpolitiker Julian Nida-Rümelin hat ein kluges, nachdenkliches und zugleich unterhaltsames Buch über politische Orientierung vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und Reflexionen geschrieben. Es ist kein Beitrag zur Geschichtsschreibung, wie er selbst einräumt, aber dennoch das Resultat aktiv und kritisch erlebter und zum Teil mitgestalteter politischer Zeitgenossenschaft seit den 1970er Jahren. Im Rückblick habe ihn vor allem das Phänomen "Ähren im Wind" immer wieder bedrückt, fassungslos, manchmal auch sprachlos gemacht. Als Naturschauspiel sei es wunderschön, als Metapher für eine Gruppe von Menschen, die in der Menge gemeinsam im Gleichklang mal nach links, mal nach rechts wiegen, sei es eher beunruhigend. Manche, wie z.B. der bewegliche Intellektuelle Hans-Magnus Enzensberger oder ehemalige Dogmatiker der 68er- oder der Friedens- und Umwelt-Bewegung seien immer vorne dabei, spürten frühzeitig jedes Lüftchen von zeitgeistigem Meinungsumschwung und richteten sich danach aus.

So wurden in den siebziger Jahren aus überzeugten kalten Kriegern ebenso überzeugte Befürworter der Entspannungspolitik und aktuell aus bedingungslosen, friedensbewegten Pazifisten eifernde Bellizisten. Ehemalige Aktivisten für eine sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft und Sozialordnung mutierten im Zuge der neoliberalen Wende der achtziger und neunziger Jahre zu eifrigen und wachsamen Verfechtern einer Agenda der Sprach- und Kulturpolitik (u.a. Cancel Culture, Gender, Wokeness): Kulturkampf statt Klassenkampf.

Besonders volatil und anfällig für voreilige und undifferenzierte Festlegungen und ideologisches, moralingetränktes Eiferertum seien die Kulturindustrie, Zeitungs- und Rundfunkredaktionen, Theater- Bühnen und Social-Media-Plattformen und das politische Führungspersonal: Wer seine Meinung dem Zeitgeist anpasst und sich so regelmäßig revidieren muss, der kann für sich keine entwickelte politische Urteilskraft beanspruchen. Den Trend, Politik als einen alternativen Karriereweg zu begreifen, auch noch ohne Ausbildung/Beruf und ohne langjährige Berufserfahrung außerhalb der Politik hält Nida-Rümelin für problematisch und riskant: Wer sich beruflich und existenziell von der Politik abhängig mache, verliere nicht nur seine äußere, sondern auch seine innere, geistige Freiheit, denn politische Entscheidungen sollten primär dem Gemeinwohl und nicht der eigenen Karriere dienen. Berufspolitik beeinträchtige die Repräsentativität der Parlamente und der Regierung, fördere die Abkopplung des politischen Systems und öffne damit populistischen Stimmungsmachern gegen die politischen Eliten Tor und Tür.

Nida-Rümelin greift kenntnisreich und scharfsinnig viele Themen auf und spannt einen weiten Bogen vom Protest seiner Eltern gegen die Nazis über die Restauration der Adenauerzeit, den Kalten Krieg und dessen Überwindung, zur sozialliberale Ära unter Willy Brandt, über Helmut Schmidt und Helmut Kohl zu Angelika Merkel bis zur Corona-Pandemie und zu dem Ukraine-Konflikt. Besonders anregend sind seine Ausführungen zur Autonomie von Kunst und Kultur, zur Belebung des Keynesianismus, über die Gefahr eines neuen Kalten Krieges und über Gentechnik und Künstliche Intelligenz. Julian Nida-Rümelin hat ein kraftvolles, temperamentvolles und überzeugendes Plädoyer geschrieben: Für Vernunft, Humanismus, Toleranz und Skepsis und gegen dogmatische Gewissheiten: Ein vernünftiger Realist weiß um die Fehlbarkeit seiner Überzeugung, er weiß aber auch um die Grenzen des Bezweifelbaren.


Julian Nida-Rümelin:
Ähren im Wind. Politische Orientierung in fordernder Zeit.
Piper Verlag München 2024, 304 Seiten, 24 EUR.

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Quelle:
© 2025 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. Februar 2025

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