Bernhard Hommel
Wir triggern uns zu Tode. Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft
von Klaus Ludwig Helf, Dezember 2024
Ähnlich wie in Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" kann man 100 Jahre nach dessen Erscheinen aktuell auch in unserer Gesellschaft ein seltsames Klima der Gereiztheit und des Neurotizismus feststellen - nicht nur alltagsimpressionistisch und subjektiv eingefangen, sondern auch empirisch erhärtet. Immer mehr Menschen stoßen an ihre psychischen Grenzen, sind unablässig empört, wütend oder niedergeschlagen, immer öfter gestresst und überfordert, isoliert und einsam: "Es steht nicht gut um unsere geistige Gesundheit"- so beginnt der vorliegende Band. Die Gesellschaft scheint gespalten und polarisiert zu sein, befeuert durch die immense Informationsflut in den digitalen Medien, durch die Großkonflikte der Gegenwart wie Inflation, Wirtschaftsflaute, soziale Nöte und Ängste, Klimakrise, Kriege und durch die Zukunftsängste der Menschen. Der Autor sucht nach den psychologischen Ursachen für diesen Ausnahmezustände, die vor allem neurotischer Natur seien und sucht nach möglichen und wirksamen Gegenstrategien: "Nur wenn wir verstehen, wie wir so geworden sind, können wir diese Entwicklung vernünftig einordnen und ihr konstruktiv begegnen" (S.13).
Bernhard Hommel ist Professor und Grundlagenforscher an der Shandong Normal University in Jinan, China, ist Senator der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Zuvor war er Lehrstuhlinhaber an der Universität Leiden, forschte am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München und an der TU Dresden.
Nach der Einleitung entwickelt und begründet der Autor - auch für psychologische Laien verständlich - überzeugend das Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft in zwei Kapiteln: Was sind Neurosen? Wie werden wir neurotisch? Nachfolgend beschäftigt ihn das Problem, wie wir unsere Neurosen wieder loswerden und macht dazu einige Vorschläge. Es folgen ein Nachwort und eine thematisch gegliederte Literaturliste. Ähnlich wie die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser stellt Hommel aus psychologischer Sicht fest, dass für Entstehung und Ausmaß der aktuellen gesellschaftlichen Konflikte "Triggerpunkte" verantwortlich seien, auf die die Menschen besonders heftig und emotional reagieren.
Als Neurosen definiert der Autor psychische Störungen ohne körperliche Ursachen wie z.B. unangemessene Ängste, Phobien oder Komplexe. Viele gesellschaftspolitische Veränderungen und Moden der letzten Jahrzehnte seien geradezu prädestiniert, neurotische Reaktionen in uns hervorzurufen, zu verstärken oder auch dauerhaft in einem "autoneurotischen Teufelskreis" festzusetzen. Die öffentliche Rehabilitierung des Bauchgefühls, die ständige Moralisierung in der öffentlichen Diskussion und der hohe moralische Anspruch an individuelles Verhalten, die dauernde Betonung der Bedeutung von Empathie und der Authentizität für die Wahrheitsfindung hätten - so der Autor - trotz unterschiedlicher Entstehungsgeschichten alle dieselbe Wirkung: "Sie erhöhen systematisch die Aufmerksamkeit gegenüber emotionaler Information und machen uns mehr und nicht weniger anfällig für die Flut der emotionalen Trigger, für die ständige Aktivierung unseres Mandelkerns. Mit anderen Worten, die systematische Veränderungen des sozialen Klimas hat dem Aufbau effektiver Bewältigungsstrategien im Umgang mit emotionaler Informationen entgegengewirkt" (S.121).
Nicht alle seien gleichermaßen empfindlich und empfänglich für das Zusammenspiel der emotionalen Trigger, der ineffektiven Bewältigungsstrategien und der Fülle von negativ gefärbtem Komplexen: "Wir sind also ohne Zweifel empfindlicher geworden, und so ganz würden wir dieses Rad sicher nicht zurückdrehen wollen" (S. 125). Im Mittel bewegten wir uns als Gesellschaft in dieselbe Richtung, die uns an unsere Grenzen bringe oder noch bringen werde. Sind Neurosen der Preis dafür, dass wir uns als Gesellschaft verfeinern, sensibilisieren und empfindlicher werden? - fragt der Autor und weist zu Recht darauf hin, dass wir damit alle mit unserer geistigen Gesundheit spielten und daher effizient und nachhaltig dieses Problem angehen müssten.
Da der Autor kein Psychotherapeut ist und auch kein Selbsthilfebuch konzipiert hat, beschränkt er sich auf einige wenige hilfreiche Techniken aus der psychologischen Forschung: Einübung einer "neuen Sachlichkeit" (Schutz gegen emotionale Trigger wie Auszeiten, bewusstes Auswählen von Informationen, emotionales Detachment), dem Zweifel mehr Raum und Wertschätzung geben, Lust auf gedankliche statt auf identitäre Diversität und konstruktiver Umgang mit Konflikten: "Es kann nicht so schwierig sein, dass wir uns alle grundlegende dialektische Fähigkeiten aneignen, die es uns erlauben, nicht das Herausfordernde und Problematische, sondern das Interessante und Lehrreiche in einem Konflikt zu sehen, statt uns darüber unnötig aufzuregen. Lassen sie uns diese Chancen doch nutzen und unseren Neurosen die Tür weisen!" (S. 148). Dem ist nichts hinzuzufügen, ein kritisches Buch, das zum Nachdenken und zum mutigen Umkehren der eigenen, festgefrorenen Wege anregt.
Bernhard Hommel: Wir triggern uns zu Tode.
Psychogramm einer neurotischen Gesellschaft.
Westend-Verlag Neu-Isenburg 2024, 160 Seiten, 20,00 EURO
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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 14. Februar 2025
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