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BUCHBESPRECHUNG/217: Hans-Otto Thomashoff - Mehr Hirn in die Politik (Klaus Ludwig Helf)


Hans-Otto Thomashoff

Mehr Hirn in die Politik
Gegen Unzufriedenheit, Polarisierung und Spaltung - Mit den Erkenntnissen der Hirnforschung für eine bessere Politik

Von Klaus Ludwig Helf, Mai 2022


In den letzten Jahrzehnten ist das Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen und Prozesse der etablierten Demokratien am Schwinden, empirisch valide belegt vor allem gegenüber den Parteien und Politikern. Das Gefühl, bei politischen Diskursen und Entscheidungen nicht ausreichend repräsentiert zu sein, kann zu einem Legitimitätsverlust der Demokratie führen und Spaltungstendenzen und populistische Erklärungsmuster verstärken. Der Aktionismus der Politik in der Corona-Pandemie habe diesen Trend noch deutlicher werden lassen, so der Autor des vorliegenden Bandes. Erkenntnisse von Neurobiologie und Psychologie hätten weder in der Theorie noch in der Praxis Berücksichtigung im politischen Alltag gefunden. Das führe dazu, dass politische Entscheidungen beinahe ausschließlich als Reaktion auf scheinbar äußere Sachzwänge getroffen würden. Die Politiker wirkten deshalb oft von den gesellschaftlichen Ereignissen und vom "Hunger ihrer Egos" nach Machterhalt getrieben: "Statt vorausschauender Planung mit dem Ziel, die Lebensqualität der Bürger zu sichern und zu verbessern, regiert kurzfristiges Handeln, das dazu dient, möglichst den Status quo beizubehalten. Weil die langfristige Perspektive fehlt, agiert die Politik nicht, sondern sie reagiert nur: Klimakrise, Staatshaushalt, Rentensicherung, Zukunft der Wirtschaft, Bildung. Corona. Die Liste ist lang ...

In all diesen Fehlentwicklungen sind psychische Mechanismen am Werk, die sich der bewussten Steuerung entziehen, solange sie nicht von uns erkannt und verstanden werden" (S. 12/13). Alle diese Probleme offenbarten, dass die Politik nur Flickschusterei betreibe, dagegen seien aber echte Lösungen gefragt und die Zeit dränge. Die Politik - aber auch die Bürgerinnen und Bürger selbst -, so die zentrale These von Hans-Otto Thomashoff, ignorierten die neurobiologischen Grundregeln, nach denen die Psyche unser Denken und Handeln und die Entscheidungsprozesse nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Gesellschaft organisiere und welche natürlichen Grundbedürfnisse uns leiten. Abläufe und Ergebnisse der Politik seien vielfach nicht mehr nachvollziehbar, Gefühle der Entmündigung, Resignation und Wut seien die Folge.

Hans-Otto Thomashoff ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse in eigener Praxis in Wien sowie promovierter Kunsthistoriker und Naturfotograf, Ehrenmitglied des Weltpsychiatrieverbandes, Aufsichtsratsmitglied in der Sigmund-Freud-Privatstiftung, Mitglied des internationalen P.E.N-Clubs, Autor zahlreicher Sachbücher und Fachpublikationen.

Der Band ist "Unserer Zukunft" gewidmet. Nach der Einleitung folgen sechs Kapitel, ein Ausblick und eine Liste mit Literatur und Links. Hans-Otto Thomashoff will keine politische Analyse leisten, sondern Ansätze für eine Politik entwickeln, "die gezielt das von den Neurowissenschaften erarbeitete Wissen zur Funktionsweise unseres Gehirns nutzt. Praktisch angewendet würde eine solche Politik ihrer zentralen Aufgabe besser gerecht werden, das Zusammenleben aller Bürger so zu regeln, dass die meisten zufrieden sind" (S. 15).

Mit seinem Buch will er den Menschen helfen, die psychischen Mechanismen steuern zu lernen, dazu liefert er nachvollziehbare und neurologisch belegte Informationen und Argumente und praktische Vorschläge für ein Umsteuern in der Politik. Das politisch-repräsentative System erlaube nur alle paar Jahre über Parteien und Inhalte der Politik abzustimmen; als Entscheidungsalternative bleibe meist nur die "Wahl zwischen geringerem Übel und Protest". Diese "faktische Teilentmündigung" stehe dem Streben psychisch erwachsener Menschen nach Eigenverantwortung und damit nach Entscheidungsfreiheit in der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen entgegen und erwecke Unmut. Dabei seien wir Menschen "von Natur aus überraschend genügsam":

"Wie die Hirnforschung belegt, brauchen wir nicht viel, um zufrieden mit unserem Leben zu sein: gute Beziehungen, selbstbestimmtes Handeln, eine funktionierende Stressregulation, das subjektive Gefühl von Stimmigkeit. Diese vier Säulen reichen für ein gesundes Lebensgefühl" (S. 26).

Statt Stillstand und kurzfristiger Krisenbewältigung ("Politik als Geisel des Aktionismus") sei eine zielgerichtete Weiterentwicklung unserer Gesellschaft gefordert mit einer vorausschauenden Planung und mit langfristiger Zielorientierung an den Grundwerten Bindung (intaktes soziales Umfeld), Wirkmächtigkeit (Selbstwirksamkeit durch Mitbestimmung und Mitgestaltung), Stressbegrenzung (Gerechtigkeit und Sicherheit) und Stimmigkeit. Der Status quo stehe dem aber entgegen und fördere Vereinsamung, passiven Konsum und Leistungsstress. Die Politik schaffe es nicht, konsequent und zukunftsorientiert zu handeln. Soziale Schieflagen, Reformstau im Schul- und Hochschulwesen, "Corona-Chaos", "Flüchtlingskrise" und Klimakatastrophe seien nur die Spitze des Eisbergs.

Die Rolle des Staates für das Wohlbefinden der Menschen sei zentral, so Thomashoff. Zwar sei es Privatsache, wie Menschen ihre Beziehungen lebten, doch müsse die Politik den allgemeinen Rahmen für ein gelingendes Leben vorgeben. Wenn nicht, nähme Unzufriedenheit, Resignation und Wut weiter zu. Das wirksamste Mittel gegen Dauerstress seien gute Beziehungen, was in der Politik bisher aber nicht angekommen sei z. B. bei der Gestaltung der Arbeitswelt oder bei der Städte- und Wohnungsplanung oder bei der Sozialpolitik. Die Politik - so Thomashoff - laufe den Ereignissen hinterher und beschränke sich oft auf Selbstinszenierungen und symbolische Politik, wie viele Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie deutlich gezeigt hätten. Wo aber Transparenz, Mitgestaltung, Weitblick und Perspektiven fehlten, herrschten Ratlosigkeit und Unsicherheit. Einfache Antworten auf komplexe Fragen seien dann verlockend und Einfallstore für rechtspopulistische und verschwörungsmythische Angebote. Das Streben nach Stimmigkeit und Kohärenz sei eines unserer angeborenen Grundbedürfnisse. Das menschliche Hirn strebe danach, dass wir uns auskennen, stelle überall Zusammenhänge her, suche permanent nach Erklärungen:

"Unsicherheit mögen wir nicht. Sie macht uns unzufrieden, ja oft sogar Angst. Deshalb suchen wir, wenn wir einmal nicht weiterwissen, den Rat anderer, vertrauen ihnen dann nicht selten blind. Und schon findet in Krisensituationen das simplifizierende Schwarz-Weiß-Denken selbst ernannter Anführer Zulauf" (S. 14).

Diese Erkenntnisse der Neurobiologie und der Psychologie fänden kaum Berücksichtigung in der Politik weder in Theorie noch in der Praxis. Aktuell stagniere unser politisches System und ignoriere, was wir für unser Wohlbefinden bräuchten. Das soziale Miteinander sei dem Diktat der Wirtschaft unterworfen, Entscheidungen der Politik würden ohne unsere Mitsprache getroffen und seien oft nicht nachvollziehbar. Fehlende Mitgestaltung und mangelndes Verständnis aber führten zu Frustration und Wut und stärkten die radikalen Kräfte, während die Mitte resigniere. Was können wir für die Stärkung der Demokratie und gegen rechts- wie linksradikale Gefährdungen tun? Thomashoff bietet einen Stufenplan an. Kurzfristig sollten die Politiker ihren Elfenbeinturm verlassen und gemeinsam mit den Bürgern die Manipulation der Radikalen entlarven und einen Diskurs der Argumente einfordern. Mittelfristig sollten wir unser politisches System zu einer direkten Demokratie weiterentwickeln und langfristig unser Bildungssystem zukunftsfit machen und unsere Kinder zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erziehen:

"Der erste Schritt dazu, die Welt zu verändern, beginnt bei uns selbst. Wir müssen uns eigene Meinungen bilden, und wir müssen Farbe bekennen. Wir müssen uns austauschen mit anderen, uns zusammentun und unsere Grundwerte offensiv vertreten, zu Hause, im Freundeskreis und in der Diskussion mit Andersdenkenden ... Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, unsere Welt zu formen - viel freier, als wir das in unseren kühnsten Träumen auszumalen wagen. Stellen wir uns endlich dieser Verantwortung, und fangen wir damit bei uns selbst an!" (S. 218).

Thomashoff schlägt als utopisches Ziel eine Struktur ähnlich wie in der Schweiz vor mit teilautonomen föderalen Organisationen und mit regionalen Einheiten in überschaubarer Größe, damit die Bürgerinnen und Bürger sich mit ihnen identifizieren könnten. Bei weitgehender Autonomie der politischen Selbstverwaltungen müsse ein verbindlicher Grundrechtskatalog Minderheitsrechte schützen und der Gefahr eines radikalen Umbruchs vorbeugen. Eingebettet werden sollten die politischen Einheiten in eine übernationale Organisation wie die EU, die die Aufgabenbereiche Außenpolitik, Rechtsprechung, Sicherheit und Staatsfinanzen regele. Die Abschaffung der Nationen sei ein langfristiges Ziel.

Hans-Otto Thomashoff hat ein anregendes und aufrüttelndes Buch geschrieben, das anschaulich und leicht verständlich die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Psychologie auf die politische Theorie und Praxis überträgt und zukunftsweisende Ideen vorstellt, eine Fundgrube für die Entwicklung von politischen Visionen einer menschengerechten, sozialen und partizipativen Gesellschaft.


Hans-Otto Thomashoff
Mehr Hirn in die Politik. Gegen Unzufriedenheit, Polarisierung und Spaltung - Mit den Erkenntnissen der Hirnforschung für eine bessere Politik.
Ariston Verlag in der Random House Verlagsgruppe, München 2021
224 Seiten
18 EURO
ISBN: 978-3-424-20230-4

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Quelle:
© 2022 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

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