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BUCHBESPRECHUNG/211: Dieter Schimang - Populismus oder der Aufstieg der Unmündigkeit (Klaus Ludwig Helf)


Dieter Schimang

Populismus oder der Aufstieg der Unmündigkeit. Eine Deutung aus kulturanthropologischer Sicht.

von Klaus Ludwig Helf, Januar 2022


Populistische Parteien und Bewegungen haben sich im 21. Jahrhundert weltweit zu einer ernsthaften Herausforderung und Bedrohung für die liberalen Demokratien entwickelt. Sie verstehen sich als die Stimme des 'einfachen Volkes', das von den Regierungen nicht mehr vertreten werde, da diese zu einer abgehobenen Elite gehörten. Populistische Bewegungen kommen aus allen Teilen des politischen Spektrums von links, aus der Mitte und von rechts.

Der Autor des vorliegenden Bandes verweist zu Recht darauf, dass es heute kaum eine Demokratie in der Welt gebe, die nicht mehr oder weniger starken populistischen Strömungen ausgesetzt sei: "Die autoritären oder halb-autoritären Regime in Russland, der Türkei, den Philippinen, Indien oder anderswo stützen ihre Herrschaft ganz wesentlich auf populistische Elemente. Umso dringender ist es, ihn selbst und die Gründe für seine globale Ausbreitung zu verstehen" (S. 16).

Das Abschneiden Donald Trumps bei den Präsidentschaftswahlen in den USA 2020 (73 Millionen Stimmen, 48% der Wählerschaft) und dessen aggressive Irrationalität, Machtgier, Vernunft- und Demokratieverachtung werde von fast der Hälfte der Wählerinnen und Wähler in den USA mitgetragen. Dies zeige, dass das zentrale Problem aller populistischen Regime nicht primär in den Führungsfiguren liege, sondern auch in der Basis, auf die sie sich stützen und die sie führen. Trumps sture Ignorierung ökologischer Probleme und seine Politik der Re-Karbonisierung oder die systematische Zerstörung der brasilianischen Regenwälder durch Präsident Bolsonaro zeigten auch, dass Populismus nicht nur die Demokratie, sondern auch das ökologische Gleichgewicht gefährden könne.

Zum Thema Populismus existierten in Deutschland bereits eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen und Publikationen aus sozialwissenschaftlichen, zeithistorischen, sozialpsychologischen und ökonomischen Perspektiven, kaum bearbeitet sei dagegen ein Zugang aus der Perspektive der Kulturanthropologie, aus den Bezügen zu den 'Bedingungen des Menschlichen' schlechthin. Dazu solle der vorliegende Band einen Beitrag liefern, was auch hervorragend gelungen ist.

Dieter Schimang promovierte 1970 mit einer ethnografischen Studie über die Merina von Madagaskar, publiziert zu den Themen Rassismus und Diskriminierung, engagiert sich in antirassistischen und interkulturellen Projekten, arbeitet als Dozent u.a. am Goethe-Institut, an der VHS Frankfurt und an der Marmara-Universität in Istanbul.

Der Band ist in drei Teile mit zwölf Kapiteln gegliedert, hat eine problemorientierte Einleitung und ein Literaturverzeichnis. Im ersten Teil wird der anthropologische Anteil am Populismus herausgearbeitet ('Ethnisierung'), Teil zwei analysiert den historischen Umgang der bürgerlichen Gesellschaft mit diesem 'ethnischen Erbe'. Teil drei entwickelt Lösungsvorschläge, basierend auf den historischen und aktuellen Erfahrungen: "Angesichts der Anfänge erscheint uns der heutige Populismus als Déjà-vu, den wenigen noch Überlebenden als dramatisches Menetekel... Dessen ungeachtet ist noch kein wirksames Rezept zur Eindämmung des Populismus gefunden worden" (S. 16).

Historisch-kulturanthropologisch betrachtet sei die frühe Hegemonie des Sozialen abgelöst worden von einer bis ins Extrem gesteigerten Individualisierung durch populistische Tendenzen der Re-Ethnisierung und der reaktionären Auflösung in die 'Vor- Bürgerlichkeit'. Aus anthropologischer Sicht gehe es aber darum - so der Autor - die Ambivalenz menschlichen Daseins zwischen Individualität und Sozialität in eine ausgewogene Beziehung zu setzen. Dies erfordere die Beendigung einer nur 'formalen Mündigkeit'. Das 'Sapere Aude' und die individuelle Freiheit sei nur möglich, wenn das Individuum selbst und selbst-bewusst aller Entgrenzung und Ambiguität fähig sei, sich auszusetzen: "Demgegenüber geht es um die Einlösung dessen, was Kern und Forderung der Aufklärung war, nämlich um die Befähigung aller zu inhaltlicher, zu wirklicher Mündigkeit, zu einer sozialen Emanzipation des Individuums... Diese Emanzipation und Mündigkeit der Erben Kants kann in keinem Fall zu teuer sein, zumal der Preis der reaktionären Alternative uns unendlich teurer zu stehen kommen würde" (S. 24).

Den Autor umtreibt, warum sich Menschen gegen Aufklärung und Emanzipation entscheiden und welche Gründe für den Aufstieg von Populismus und Un-Mündigkeit verantwortlich sind. Einerseits sei die westlich-bürgerliche Gesellschaft zu Recht stolz auf ihren revolutionären Ursprung, der mit dem Sturz der traditionellen Autoritäten und Hierarchien einherging und aufbaut auf Rationalität und Liberalität als Maßstab menschlichen Denkens und Handelns. Andrerseits erlebe man zum zweiten Mal im Laufe eines Jahrhunderts den Aufstieg von Irrationalität, Entzivilisierung und Gewalt und den lauter werdenden Wunsch nach autoritärer Führung. Der Populismus bekämpfe die liberale Demokratie und die offene Gesellschaft offensiv und aggressiv, widerrufe sie geistig-politisch und räumlich-praktisch, 'alles Andere' und 'alle Anderen' würden ideologisch, sozial und praktisch ausgegrenzt und ausgeschlossen und als unvereinbar mit dem Eigenen erklärt.

In seinem Frontalangriff auf die Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft enthülle sich der Populismus als eine reaktionäre Ideologie und Bewegung, die den Rückzug in eine vor-bürgerliche Gesellschaft mit ihren traditionellen Merkmalen wie Il-Liberalisierung und Ent-Zivilisierung anstrebe: "Das Reaktionäre dieser Bewegungen besteht darin, dass sie den Individualisierungsprozess der Moderne - wie er über Renaissance, Humanismus, Reformation und Aufklärung verlaufen ist - rückgängig machen wollen. Ihr Programm richtet sich gegen die Fundamente dieses Prozesses, gegen die Akzeptanz und Herausforderungen, die die universalistische Entgrenzung, Ambiguität und Kontingenz für das Individuum bedeuten "(S. 21).

Mit kulturanthropologischen Tiefenbohrungen analysiert Schimang akribisch die Grundbedingungen menschlicher Existenz und deren Einfluss auf die modernen Gesellschaften und deckt auf, dass dort, wo die sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen individueller Emanzipation fehlen, die zerstörerischen Tendenzen aufkommen. Beim aktuellen Umgang mit dem Populismus konstatiert Schimang eine "große Hilflosigkeit". Solange er nur beklagt, verdrängt und juristisch verfolgt werde, solange werde dieser anwachsen. Man müsse ihn an seinen Wurzeln packen. Die lägen vor allem im Bereich der materiellen und sozialen Sicherheit, im Mangel an Bildung und Begegnung sowie am Bewusstsein, der gleichen Gattung anzugehören.

Diesen Mängel abzuhelfen, erfordere allerdings eine ganz andere Dimension gesellschaftlicher Bemühung und Investition, als sie es heute üblich sei: "Angesichts der aktuellen Fehler und Erfordernisse muss ein Bildungsziel für alle Bildungseinrichtungen verbindlich sein: den Kindern und Heranwachsenden, ja, auch den Erwachsenen jene Bildung zu geben, die sie begegnungsfähig und ambiguitätsfähig macht" (S. 255). Das könne aber die aktuelle Bildungskonzeption als 'Zurüstung' auf die Erfordernisse von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik nicht leisten. Gefordert sei daher eine Bildung "als Befähigung der Menschen, selbstbestimmt, selbstverantwortlich und kompetent mit sich, mit ihrer Umwelt und ihrer Zukunft umzugehen, Bildung vor allem zur Menschlichkeit" (S. 235).

Das für den Populismus typische Individuum sei die männliche autoritäre Persönlichkeit im Sinne von Adornos autoritärem Charakter. Daher sei es wichtig, den Frauenanteil auf sämtlichen Ebenen massiv zu erhöhen, da Frauen sozial und historisch um ein Vielfaches besser gerüstet seien für die Lösung der großen Probleme der Gesellschaft. Für einen 'sehr großen Teil' der Gesellschaft müssten erst die notwendigen Voraussetzungen für eine Emanzipation in die Mündigkeit geschaffen werden, gleichwohl gelte: "Niemand kann 'emanzipiert werden'. Emanzipation ist der selbstbestimmte Schritt in die Mündigkeit und die Selbstverantwortung. Die Gesellschaft kann sehr wohl für die Befähigung der Menschen sorgen, 'für sich selbst' sprechen zu können. Ob sie es dann auch tun, liegt nicht mehr in ihrer Macht, sondern in der Verantwortung der Individuen - aber immerhin solcher, die die Gesellschaft zu dieser Verantwortung befähigt hat" (S. 258).

Dieter Schimang eröffnet mit diesem Band essenzielle und bedenkenswerte kulturanthropologische Dimensionen des Populismus und gibt damit konkreten gesellschaftlichen Lösungsansätzen eine weitere, produktive Perspektive. Der Band lässt sich außerdem mit neugieriger Lust und Freude lesen.


Dieter Schimang: Populismus oder der Aufstieg der Unmündigkeit. Eine Deutung aus kulturanthropologischer Sicht. Büchner-Verlag Marburg 2021, 250 Seiten, Klappenbroschur, 18.00 EUR.

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Quelle:
© 2022 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

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