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BUCHBESPRECHUNG/185: Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Walter Lippmann

Die öffentliche Meinung
Wie sie entsteht und manipuliert wird

Von Klaus Ludwig Helf, Februar 2020


Walter Lippmanns Werk "Public Opinion" erschien in den USA erstmals 1922 und gilt dort bis heute als Standardwerk der Medien- und Politikwissenschaften sowie der Sozialpsychologie, als Gründungswerk der Medien- und Meinungsforschung. Es spielte auch eine entscheidende Rolle bei der Begründung und Entwicklung des Neoliberalismus vor allem in Bezug auf die Schaffung von imaginären Bildern ("die unsichtbare Hand", der "Markt" als Naturgesetz, der "homo oeconomicus" mit seiner unerschöpflichen Gier, permanentes "Wachstum" als Triebfeder von Wohlstand u.a.).

In Deutschland bisher kaum bekannt, ist der Band in einer deutschen Übersetzung im Westend Verlag erschienen, herausgegeben von den beiden Ökonomen der Cusanus-Hochschule Walter Otto Ötsch und Silja Graupe. Walter Lippmann schrieb den Band unter dem Eindruck seiner lebhaften, authentischen und persönlichen Erfahrungen mit der Wirkungsmacht von Propaganda vor allem des "Committee on Public Information" (CPI) der US-Regierung während des Ersten Weltkriegs und auch danach. An dessen propagandistischen Erfolgen war er selbst maßgeblich beteiligt und darüber beunruhigt und erkannte darin die potenziellen Gefahren einer bewusst gesteuerten Manipulation für die Demokratie.

Walter Lippmann (1889-1974) war ein US-amerikanischer Journalist, Publizist und Politikberater, der in den USA als meistgelesener und einflussreichster politischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gilt. Politisch machte er mehrere Kehrtwendungen vom Unterstützer sozialdemokratischer Politiker, Vordenker von Woodrow Wilsons Friedensplänen für Europa nach 1918, über die Förderung, dann massive Ablehnung des "New Deal" von Franklin D. Roosevelt bis zum Verfechter einer "gelenkten Demokratie" und Vordenker des neoliberalen Marktfundamentalismus. Das "Colloque Walter Lippmann" in Paris (1937) war entscheidend für die Formulierung und Entwicklung des Neoliberalismus und Vorläufer der Mont Pèlerin Society. Lippmann war jahrzehntelang Kolumnist in vielen bedeutenden Presseorganen und erreichte damit ein Millionenpublikum. Er gewann zwei Pulitzer-Preise. Seine Auffassung von der eingeschränkten Rolle des Journalismus in der Demokratie wurde vor allem von dem Philosophen John Dewey kritisiert. Lippmann formulierte den Begriff der "Atlantischen Gemeinschaft" und sorgte für die wirkmächtige Verbreitung des Begriffs "Kalter Krieg" in der medialen Öffentlichkeit und im politischen Bewusstsein.

Nach einem problemorientierten und einordnenden Essay der beiden Herausgeber folgen acht Kapitel des Werkes von Walter Lippmann, die jeweils weitere Unterkapitel haben: Einleitung / Annäherungen an die äußere Welt / Stereotypen / Interessen / Die Entstehung eines gemeinsamen Willens / Das Bild der Demokratie / Zeitungen und Organisierte Intelligenzen. Es folgen Anmerkungen, Literaturhinweise der Herausgeber und ein Personen- und Sachregister. Walter Lippmann hat keine wissenschaftliche, systematisch-analytische Abhandlung vorgelegt, sondern schreibt als Journalist assoziativ und erzählerisch aus seinen persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen, nimmt aber auch Bezug auf wissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse sein.

Walter Lippmann beschreibt in seinem Band anschaulich und pointiert, wie Menschen durch imaginative Bilder beeinflusst und gesteuert werden können zu einer Zeit, als es noch kein Radio und Fernsehen, geschweige denn Internet gab. Die eilige Leserin und der eilige Leser mögen über die vielen zeitgenössischen Kontexte, in die Lippmann seine Analysen als authentische Belege einbettet, hinweglesen, aber seine argumentativen Kerngedanken sollten sie gründlich studieren, da sie nach wie vor und gerade heute hochaktuell seien, in einer Zeit der Massenbeeinflussung- und -manipulation, wie die Herausgeber in der Einleitung zu Recht schreiben:

"Es wird höchste Zeit, dass wir uns als Gesellschaft über die Macht innerer Bilder zumindest wieder jenes Wissen aneignen, das vor gut 90 Jahren über sie existierte. Lippmanns Werk ist hierfür ein guter Ausgangspunkt." (S. 53) 

Lippmann mit seinem Werk könne als früher Warner für eine Entwicklung gelten, wie wir sie heute in der neoliberalen, digitalen Informations- und Kommunikationsgesellschaft erlebten mit Marketing und Werbung, politischem Spin und Framing, Beeinflussung sozialer Veränderungsprozesse, Inszenierungen aller Art und mit bewusst produzierten Fake News. Diese Manipulationen könnten wir keineswegs nur als passive Rezipienten erdulden, sondern sie durch die Kreation eigener Bilder und mit umfassender (Medien-)Bildung durchbrechen.

Unsere Welt - so Lippmanns Kernthese - sei zu komplex und dynamisch, um sie direkt erfassen zu können. Die meisten politischen und wirtschaftlichen Ereignisse wie Kriege und Krisen erfahren wir indirekt aus zweiter Hand über die Medien. Diese beeinflussten maßgeblich die inneren Bilder und Stereotype, die unser gesamtes Denken, Fühlen und Handeln als "Pseudoumwelt" bestimmen:

"... die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden ... Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen Karten von dieser Welt haben. Ihre beständige Schwierigkeit besteht darin, dass sie sich Karten beschaffen müssen ..." (S. 65) 

Zugleich verhinderten Stereotype in den Köpfen, dass sich die Menschen ein unvoreingenommenes Bild von einem Ereignis machen könnten, selbst wenn sie es mit den eigenen Augen beobachteten. Bevor Menschen etwas beobachten, hätten sie bereits ein Urteil darüber gefällt: "Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, sondern definieren erst und schauen dann." (S. 110). Der Durchschnittsbürger werde durch diese inneren Bilder, die er für die Realität hält, leicht lenkbar:

"Wir werden behaupten, dass alles, was der Mensch tut, nicht auf unmittelbarem und sicherem Wissen beruht, sondern auf Bildern, die er sich selbst geschaffen oder die man ihm gegeben hat." (S. 72) 

Es sei oft aufschlussreich - so Lippmann -, sich selbst zu fragen, wie man zu den Fakten gelangt sei, auf denen die eigene Meinung basiere:

"Wer sah, hörte, fühlte, erzählte, erwähnte die Angelegenheit, zu der man eine Meinung hat? ... Man kann sich diese Fragen selbst stellen, aber man kann sie nur selten selber beantworten." (S. 86/87) 

Die "Macht des Bildermachens" sei das entscheidende Herrschaftsinstrument in modernen Gesellschaften, in denen die Medien und die Journalisten eine entscheidende Rolle einnähmen. Wer regiert, müsse die Bilder in den Köpfen der Menschen beherrschen und lenken. Lippmann sieht da keinen Widerspruch zu demokratischen Prinzipien. Unter den Bedingungen der steuernden und manipulativen Macht der Medien seien die meisten Menschen nicht mehr in der Lage, sich angemessen zu informieren und zu handeln, daher präferierte Lippmann das Modell einer "gelenkten Demokratie", in der im Sinne Platons Expertenkommissionen die Politiker neutral beraten sollten.

Bei allem Respekt vor dem Klassiker der Propaganda-Literatur kritisierten linke Intellektuelle wie Noam Chomsky diese Vision einer Gesellschaft mit gutem Recht als elitäre, anti-demokratische Gedankenspiele, die dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen widersprechen. Dennoch lohnt es sich, die manipulativen Erfahrungen Lippmanns vor 100 Jahren gerade im aktuellen Zeitalter von Fake News, manipulierten Bildern, Meinungsmache und neoliberalen Heilsversprechen gründlich zu studieren, sein Dreieck "Mensch - Pseudowelt - reale Handlungswelt" als Schlüssel für das Verständnis unserer Gesellschaft zu aktualisieren und wirksame Immunisierungs-Strategien gegen populistische, demagogische und demokratiegefährdende Entwicklungen aufzubauen.

Walter Lippmann
Die öffentliche Meinung
Wie sie entsteht und manipuliert wird
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Walter Otto Ötsch und Silja Graupe
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2018
gebunden
384 Seiten
26,00 EURO

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Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2020

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