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BUCHBESPRECHUNG/148: Helikoptermoral, von Wolfgang Schmidbauer (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Wolfgang Schmidbauer
Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2018


Die Bereitschaft, sich über andere zu empören und ihre Handlungen vorschnell zu beurteilen, sei in unserer Gesellschaft dramatisch angestiegen, das Motto "leben und leben lassen" verschwinde immer mehr - so lautet die Hauptthese des Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer in seinem neuesten Buch. Er bezeichnet diese gesellschaftlich auffällige Haltung und Handlungsweise vieler Menschen im öffentlichen Raum wie auch in den Medien als "Helikoptermoral". Diesen Begriff leitet Schmidbauer ab von den "Helikopter-Eltern", die ihre Kinder mit Bewertungen überversorgen und ihnen vermitteln, dass die Eltern in allem besser Bescheid wissen. Wenn das Kind nach den Bewertungen der Eltern funktioniert, dann wird schon alles gut gehen. Wenn etwas schlecht geht, dann hat das Kind eben nicht nach den elterlichen Vorgaben funktioniert und dann werden die Vorgaben intensiviert nach dem Motto von Mark Twain: "Sobald wir das Ziel aus den Augen verloren haben, verdoppelten wir unsere Anstrengungen". Es wird ein Mangel wahrgenommen. Je weniger man diesen Mangel versteht, umso intensiver wird er bewertet. Für die "Helikoptermoral" sind - so Schmidbauer - eine übersteigerte, ängstliche Aufmerksamkeit und hastige Bewertungen ganz ohne Empathie und ohne den Blick für die Zusammenhänge kennzeichnend. Es entsteht ein schnelles und dramatisches Urteil, das ohne Interesse am Verständnis des Problems sofort die Bewertung parat hat: Die Anklage ist zugleich der Schuldspruch, der Ankläger wird zum Richter und zum Henker.

Das gesellschaftliche Klima sei insgesamt bewertungsfreudiger geworden. Woher kommt das? Die Unübersichtlichkeit und Komplexität der gesellschaftlichen Prozesse im globalisierten Finanz- und Konsumkapitalismus steigere die generelle Orientierungslosigkeit und Angst-Bereitschaft der Menschen - dies ist empirisch belegt. Das vorschnelle Werturteil - so Schmidbauer - sei ein Mittel, diese Angst zu reduzieren und Orientierung und Halt zu gewinnen: Indem ich etwas bewerte, kann ich es abhaken und muss mich erst einmal nicht mehr darum kümmern. Dadurch täusche man eine Kompetenz vor, dass man alles im Griff habe - eine Art "moralischer Aktionismus":

Viele Menschen sondern Urteile ab wie ein Rüde seinen Urin. In der Tat sind beide Aktionen verwandt: Reviere werden markiert, um einen sicheren Raum zu gewinnen ... Wer seine Werte nach außen trägt, hofft auf Aufmerksamkeit und Anerkennung für seinen Eifer. Er dokumentiert seine Einsicht in das Wahre und Gute. Er trägt bei zur Besserung der Welt. Werturteile, blitzschnell und radikal, sind typisch für Rassismus: Fremdes verunsichert, es muss erkannt, bewertet, ausgegrenzt werden. (S. 77) 

An vielen Beispielen aus dem Alltag und aus den Medien zeigt Schmidbauer, wie die "Helikoptermoral" aus dem Versuch entsteht, die Unübersichtlichkeit in der globalisierten Konsumwelt zu bewältigen. Die eigentlich drängenden Probleme wie Umwelt, Klima, soziale Spaltung und Deklassierung würden verschleiert, indem man permanent einfache, radikale und vorschnelle Werturteile produziere, ohne Reflexion und ohne den Kontext einzubeziehen. Wie ihr Pendant, die "Helikoptereltern", ist auch die "Helikoptermoral" immer schon da, immer bereit, Stellung zu beziehen. Das tue sie mit viel Lärm und mit schnellen Urteilen, um so die Affekte von Angst und Wut scheinbar zu bewältigen. Vorschnelle Urteile ohne Empathie und moralische Bewertungen aus vermeintlich höherer Warte seien im öffentlichen wie im halböffentlichen Raum allgegenwärtig und ein markantes Kennzeichen des Zeitgeistes. Plakative Aussagen über Richtig und Falsch, über Gut und Böse, über Schwarz und Weiß fungieren als "Bordorchester unserer lärmenden Eventkultur", als kurzfristige emotionale Entlastung, nicht als Lösung der realen Probleme auf lange Sicht.

Die "Helikoptermoral"

... erhebt sich über den Kompromiss, über die Suche nach dem kleineren Übel, über die Toleranz für Widersprüche und die Bereitschaft zu verzeihen, was nun einmal nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Diese Phänomene gibt es im Mikrokosmos von Liebe und Partnerschaft wie in der Politik. (S. 47) 

Was ist zu tun? Schmidbauer empfiehlt reflektierende und umsichtige Sorgfalt beim Umgang mit Problemen und Innehalten statt Drauflospoltern. Wir sollten uns doch erst einmal fragen, ob und wie wir etwas verändern wollen oder müssen. Häufig kämpften wir mit den Werkzeugen des Perfektionismus gegen unsere Ängste und multiplizierten sie auf diese Weise. Aus psychoanalytischer Sicht sei ein wirksamer Gegenpol zur "Helikoptermoral" die Zivilcourage, in privaten wie in öffentlichen Angelegenheiten. Wir sollten unabhängig von moralischen Zuschreibungen anderer das tun, was wir für richtig hielten. Schmidbauer liefert in seinem Band scharfsinnige Beobachtungen und Reflexionen über nachwachsende Strömungen im Gemütszustand unserer Gesellschaft aus psychoanalytischer Sicht in Verbindung mit gesellschaftskritischen Positionen.

Nach der Lektüre dieses Textes wird klar, wie tief sich die neoliberale Ideologie bereits in die Hirne und Herzen der Menschen eingefressen hat.

Wolfgang Schmidbauer:
Helikoptermoral.
Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum
kursbuch. edition
Murmann Verlagsgesellschaft 2017
256 Seiten
20,00 EURO
e-book 16,99 EURO

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Quelle:
© 2018 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2018

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