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BUCHBESPRECHUNG/102: "Der goldene Handschuh" von Heinz Strunk (Roman) (Klaus Ludwig Helf)


Heinz Strunk

Der goldene Handschuh

von Klaus Ludwig Helf, April 2016


Heinz Strunk (*1962) verbrachte Kindheit und Jugend als Mathias Halfpape in Hamburg-Harburg, lebte über 12 Jahre als Musiker einer Tanzkapelle, schrieb autobiographische Romane und ist multimedial präsent als sprachwitziges, intelligentes Super-Talent im sozialkritischen Kabarett (u.a. Humor-Trio Studio Braun, VIVA, Radio Fritz, Titanic, Extra 3, Lesungen mit Charlotte Roche aus "Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern"). Strunk kandidierte mehrmals als Spitzenkandidat auf der Wahlliste der "PARTEI" und auch für das Amt des Ersten Bürgermeisters von Hamburg. In seinem autobiographischen Roman "Fleisch ist mein Gemüse" (2004) schildert er seine Erlebnisse als verkannter, sexgehemmter, akne-geplagter und lebensuntüchtiger Musiker mit der Tanzkapelle "Tiffanys" in der norddeutschen Provinz. Er begeistert darin mit scharfem Blick, Sprachwitz und hintergründigem Humor bei der Schilderung der skurrilen Dorfmusikanten-Milieus - eine gnadenlose, tragisch-humorvolle und doch empathische sozialkritisch-literarische Studie der 80er Kohl-Jahre. Der Erfolg blieb nicht aus und verhalf Strunk zum Durchbruch.

In seinem neuen Roman knüpft er an diese Fähigkeiten und Fertigkeiten zur drastischen und drallen Milieuschilderung an und perfektioniert sie um haarsträubende Dialoge und Formulierungen, die man nicht am Schreibtisch erfinden, sondern aus nur aus dem prallen Leben selbst pflücken kann. Im Mittelpunkt steht die Absturzkneipe "Zum Goldenen Handschuh" auf der Hamburger Reeperbahn, einer Art Vorhölle für die sozial und psychisch abgestürzten und verlorenen Menschen unserer Gesellschaft: Verrückte, Irre, Diebe, Mörder, Schläger, Huren, Säufer, Luden, Matrosen, Psychopathen und Drogenabhängige aller Art. Die Hauptfigur des Romans ist dieses Mal nicht der Autor selbst, sondern der legendäre Frauenmörder Fritz Honka, der Mitte der siebziger Jahre Stammgast im "Goldenen Handschuh" war und dort seine vier Mordopfer kenngelernt und anschließend zu sich nach Hause abgeschleppt, vergewaltigt, gefoltert, ermordet und zerstückelt hatte.

Der Autor Heinz Strunk geriet - wie er selbst im Interview erzählte - 2009 zum ersten Mal in den" Handschuh" und war von dem "Soziotop" extrem fasziniert und überwältigt, hatte bei weiteren Besuchen den jetzigen Chef des Ladens kennengelernt und stieß auch auf den Kriminalfall von Fritz Honka. Nach dem Studium der Polizeiakten des Mordfalls und weiteren Feldstudien in der Kneipe konnte Strunk seine Informationen, Erfahrungen und Eindrücke in einen Roman umgießen, der kein Krimi werden sollte, sondern der literarische Versuch, Schicksal, Ursachen und Umstände der Mordserie aus der Täterperspektive sozial und psychologisch erfahrbar, erklärbar, aber keineswegs persönlich entschuldbar zu machen. Die Monstrosität von Honka im Roman changiert zwischen ehrlicher Anteilnahme und verachtender Abscheu; der aufblitzende Humor und der Sarkasmus bei den drastischen und hautnahen Milieuschilderungen bleiben einem im Halse stecken. Fast könnte einem Honka leidtun, wie er sich abstrampelt, ein halbwegs anständiges Leben zu führen und wie er sich nach den ekelhaften Abstürzen wieder fängt und als Nachwächter arbeitet, dann umso tiefer und heftiger zurückfällt und als brutaler Vergewaltiger und Mörder endet.

Der moralische Finger soll nicht nur gegen Honka zeigen, deshalb steht sein Name auch nicht im Titel des Romans. Die Möglichkeit eines brutalen und hässlichen Absturzes von Menschen ist keine Frage der sozialen Klasse - auch das versucht der Autor erfahrbar zu machen. Heinz Strunk flechtet in die Lebensgeschichte Honkas einen zweiten parallelen Erzählstrang, der in knappen Episoden den Verfall der fiktiven Hamburger Reederfamilie von Dohren drastisch ausmalt. Im "Goldenen Handschuh" werden beide Erzählstränge zusammengeführt, ohne dass sich die Protagonisten dort je bewusst begegnen: Der Dohren-Schwager und soziopathische Rechtsanwalt Karl, Wilhelm Heinrich 3 (WH3), der siebzehnjährige und jüngste Spross des Dohren-Clans und Fritz Honka. Die beiden letzten ähneln sich in gewisser Weise; beide sind körperlich entstellt, potthässlich, sozial ausgegrenzt, notgeil, saufen sich dort zu und baggern Frauen an. Nachdem WH3 auf der Toilette von hinten angepisst wurde, wird dieser fast wahnsinnig:

Ich werd bekloppt, ich dreh durch, ich hack mir den Schwanz ab, denkt er abwechselnd ... Er sieht aus wie ein Huhn, das weiterläuft, nachdem es geköpft wurde und genauso fühlt er sich auch ... Diese ganzen, besoffenen, vollgepissten zerprügelten, zertretenen, verzweifelten Schweine und Hunde und Drecksäue um ihn herum, die ganze Krätze und Notdurft ihrer widerlichen Existenz treiben ihn zur Weißglut. (S. 244) 

Fritz Honka hat den Spitznamen Fiete, von dem er selbst nicht weiß, von wem und warum, aber er ist mächtig stolz darauf, "... obwohl Fiete nur einer zweiter Klasse ist, bedeutet hier eine Auszeichnung und kommt einem Adelstitel gleich. Spitznamen erster Klasse: Ritzen-Schorsch, Glatzen-Dieter, Nasen-Erni, Bulgaren-Harry, Doornkaat-Willy." (S. 18/19) Der kleine, schiefe Mann mit dem eingedrückten Gesicht und den riesigen Händen hat seinen Stammplatz an der kurzen Seite des L-förmigen Tresens; "Fako", Fanta-Korn, im Verhältnis 1:1, ist Fietes Absturzgetränk bis zum "Schmiersuff", der ihm das ganze Denken zuschmiert und zukleistert. Ständig ist er geil auf der Suche nach Frauen, aber da hat er seine Probleme damit: "Wählerisch darf Fiete nicht sein, zerprügelt, zerschunden und zermörsert wie er ist. Bei Frauen seines Alters ist er chancenlos, die bleiben unerreichbar, undurchschaubar, unberechenbar. So lange er denken kann, hatte er Ältere, richtige Omas teilweise." (S. 25) Im "Goldenen Handschuh" sucht und findet er seine um Schnaps und Obdach bettelnden, kaputten Omas, die stinkenden, furzenden, abgestürzten "Säberalmas": "Die heißen so, weil sie ihren Speichelfluss nicht mehr unter Kontrolle haben. Der Alkohol hat das Hirn zerfressen, die Nerven zerstört, und irgendwann rinnt ihnen dann der Speichel aus den Mundwinkeln." (S. 27) Eines Tags sammelt er wieder so eine auf mit eulenartigem Schädel, zerfressener Kopfhaut, eingefallenem Mund, zerfurchtem Gesicht mit unbestimmbarem Alter, die unter ihrem zerschlissenen Mantel nur einen blauen Putzkittel trägt. Mit ein paar Schnäpsen, Schnulzen-Mucke ("Es geht eine Träne auf Reisen", "Du sollst nicht weinen") baggert Fiete die obdachlose, verwahrloste Gerda erfolgreich an. Seine Wohnung ist eine stinkende Kloake - wie auch seine neue Eroberung feststellen muss, die er nach Hause schleppt, um sie dort als seine Sex- und Arbeits-Sklavin einzusperren:

Der Verwesungsgestank hängt schwer in der Wohnung ... Und dann der Ofen, der Tag und Nacht bis zur Besinnungslosigkeit bollert ... Die drückenden, schwelenden, fauligen Gase ziehen in den Kopf und das Nervensystem, die Gedanken verwirren sich. Die Fenster sehen aus wie zugekniffene Augen ... Wonach riecht es eigentlich genau? Pi, wahrscheinlich Pi. Hunderttausendmal danebengepinkelt, vergoren, geronnen, dann riecht es irgendwann eben so. Und tote Ratte, Maus, Tier. Der Kadaver kann überall und nirgends liegen ... (S. 53) 

Aus nackter Not und Verzweiflung unterschreibt Gerda einen Knebelvertrag, den ihr Fiete förmlich aufgesetzt hat; darin erklärt sie sich mit allem, was er mit ihr macht, einverstanden, verzichtet auf eine eigene Meinung und auf freien Willen und verspricht ihm auch die "Zuführung" ihrer Tochter Rosi und übergibt ihm auch ihren Personalausweis. Gerda ist dem kompletten Programm des hochgradigen, paranoiden Psychopathen ausgeliefert - von der dosierten Umschmeichelung mit Pralinen und Alkohol, über öffentliche Demütigungen, Verprügelungen, Kieferbruch bis zur Vergewaltigung:

Er ist derart auf hundertachtzig, hundertneunzig, dass er noch etwas ausprobieren will ... Er schiebt Gerda eine Bockwurst rein, die war noch im Kühlschrank. Gerda macht keinen Mucks und wartet, was sonst noch kommt (S. 49) 

Im Gegensatz zu den nachfolgenden Frauen gelingt es Gerda nach langen Qualen, sich aus den Fesseln von Fiete zu befreien und mit einem "Opa" nach Hannover zu verschwinden. Auch Fiete startet einen hoffnungsvollen Neuanfang als Nachtwächter mit zunächst gemäßigtem Alkoholkonsum und ernsthaften Bemühungen, ein sozial ausgeglichenes Leben mit Interesse für Kultur zu führen. Als er sich in seine verheiratete Kollegin Helga verliebt und bei ihr nach heftiger Zudringlichkeit abblitzt, brechen in ihm die gewaltvollen, schrecklichen Erinnerungen aus seiner Jugend auf: Flucht aus der DDR, zugefügte Gewaltexzesse des Bauern Frerk, Fluchtversuch, Schädelbasisbruch, Vergewaltigung durch einen Mann. Er schwört Rache, da sich keine seiner Hoffnungen erfüllt habe, säuft in manchen Nachtschichten eine ganze Flasche Korn, sein Lohn geht für Nutten und Alkohol drauf. Sein Hass auf Frauen wächst ständig und er hat sich endgültig damit abgefunden, keine "Normale" mehr abzubekommen: "Dieser schreckliche Triebstau, Tag und Nacht und Nacht und Tag, lässt ihn nicht mehr los ... Jetzt will er Rache nehmen dafür und überhaupt für alles, was ihm angetan wurde ... Er stellt sich vor, eine Frau bei vollem Bewusstsein zu sprengen." (S. 189/190). So nimmt das Weitere seinen schrecklichen Verlauf und Fiete ermordet bestialisch drei Frauen.

Heinz Strunk hat einen grandiosen Roman geschrieben, der menschliche Abgründe bis zur Ekelgrenze schonungslos offen, direkt und detailliert beschreibt und auslotet; die Dialoge und Stimmungsbilder sind wahnsinnig grotesk und können so gar nicht "erfunden" werden; die Sprache ist einfach und klar, durchbrochen von poetischen Miniaturen: "Die Stunden sinken zu Boden, die Tage werden fortgespült ins Nichts, verkleben im Schmiersuff." (S. 96)

Heinz Strunk
Der goldene Handschuh
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016
255 Seiten
19,95 Euro

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2016

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