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BUCHBESPRECHUNG/064: Der Schneider von Ulm - zur Geschichte der KP Italiens (Gerhard Feldbauer)


Der Schneider von Ulm

Ein Buch über die Geschichte der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP) mit neuen Erkenntnissen, Anregungen aber auch Problemen

Von Gerhard Feldbauer, 23. März 2015


Lucio Magri, Jahrgang 1932, ein engagierter Mitgestalter der kommunistischen und linken Bewegung Italiens, legt in einer Autobiografie, eingebunden in den komplizierten internationalen Rahmen (Oktoberrevolution, Komintern, "Wende von Salerno", Haltung Stalins, Nachkriegssituation und Kalter Krieg) seine Sicht auf die Auseinandersetzungen um den Charakter und die Strategie der IKP, die Haltung der revolutionären Linken dazu und dabei gewonnene Erfahrungen dar, wirft Fragen auf, die Anregungen vermitteln, zieht Schlussfolgerungen. Dabei gereicht es ihm zum Vorteil, dass er relativ spät zur IKP stieß und dann eineinhalb Jahrzehnt außerhalb der Partei agierte. Besonders aus diesem Zeitraum fügt er Meinungen kommunistischer Zeitgenossen ein. Er betont gleich im ersten Kapitel, sein Buch "kann und will keine genaue und vollständige Geschichte der KPI sein". Aus der Jugendorganisation der großbürgerlichen Democrazia Cristiana (DC) kommend trat er Ende der 1950er Jahre der IKP bei. Als Gegner des Historischen Kompromisses (der Regierungszusammenarbeit mit der DC) gründete er 1969 zusammen mit Rossana Rossanda, Luigi Pintor und weiteren Linken die oppositionelle Zeitschrift Manifesto. 1970 wurden sie deshalb aus der Partei ausgeschlossen. 1974 bildete Manifesto mit einem verbliebenen Teil der 1964 von linken Sozialisten (Lelio Basso, Emilio Lusso) aus Protest gegen den Eintritt der Sozialistischen Partei (ISP) in die DC-geführte Mitte-Links-Regierung gegründeten Sozialistischen Partei der Proletarischen Einheit (PSIUP) deren Fortsetzung bzw. Neugründung als Partei der Proletarischen Einheit für den Kommunismus (PdUP). Ein Teil der PSIUP hatte sich bereits 1972 der IKP angeschlossen. Auch der Versuch, mit der PdUP, die Magri zum Generalsekretär wählte, der reformistischen Entwicklung in der IKP eine revolutionäre linke Alternative entgegenzustellen, scheiterte und die Partei löste sich im November 1984 auf. Die meisten ihrer Mitglieder traten der IKP bei, Magri stieg ins Zentralkomitee auf.

Dieser Vorspann soll die Zerrissenheit der Linken illustrieren, vor deren Hintergrund Magri nach Erklärungen sucht, warum es nicht gelang, diesen verhängnisvollen Prozess, der in der "Beseitigung der IKP", der stärksten KP der kapitalistischen Industriestaaten, gipfelte und zu der seitdem anhaltenden tiefen Krise der Linken führte, aufzuhalten. Wenn Magri schreibt, er habe "die Strategie des historischen Kompromisses von Anfang an für grundsätzlich falsch angesehen und vor allem nach 1976 ihr Scheitern vorausgesagt", dann führt er dazu aufschlussreiche Aspekte an, die aber in keine marxistische Analyse münden. So übersieht er, dass Berlinguer schon 1971 die Regierungszusammenarbeit zur "Überwindung der Klassenschranken" anstrebte (Unita vom 12. November 1971 über Berlinguer auf der ZK-Tagung). Die Ereignisse in Chile nahm Berlinguer dann zum Anlass, die bereits vorher verfolgte Konzeption unter den Linken glaubwürdig zu vertreten.

Mit der gebotenen Kürze aus der Fülle der Themen zu einigen Schwerpunkten: Magri bringt viel Nachdenkenswertes zum theoeretischen Erbe Antonio Grasmcis ("eine Fundgrube an Ideen", die in der "Politik der KPI immer im Schatten geblieben sind") zur Sprache, was verdeutlicht, dass da noch manche weiße Flecken zu bearbeiten sind. Er wirft die Frage auf, ob Stalin die Situation zum Kriegsende und beim Übergang zum Kalten Krieg richtig einschätzte. Hier schwebt die unter sowjetisch-russischen Militärhistorikern seit geraumer Zeit diskutierte Frage im Raum, ob es richtig war, dass Stalin die angloamerikanischen Alliierten mit der um mehrere Wochen auf den 12. Januar 1945 vorverlegten Offensive der Roten Armee vor einem Desaster bei der Ardennenoffensive der Wehrmacht bewahrte, während die westlichen Verbündeten dann wochenlang tatenlos verharrten und die UdSSR nochmals die schwersten Lasten bei der Zerschlagung Hitlerdeutschlands tragen musste. Das Bemühen Stalins, die Antihitlerkoalition zu erhalten, wirkte sich ganz offensichtlich auf den Verzicht Togliattis aus, antifaschistisch-demokratische Veränderungen, die einen antiimperialistischen Inhalt haben mussten, mit revolutionären Masseninitiativen durchzusetzen. Magri nennt das richtig "gebremste Revolution". Die IKP habe, als sie sich noch in der Regierung befand, auch keinen Versuch unternommen, das "Thema der nationalen Unabhängigkeit und der Ablehnung der Machtblöcke" aufzuwerfen. Interessant, dass er meint, der Kalte Krieg werde vom Imperialismus eigentlich seit der Oktoberrevolution geführt.

An anderer Stelle stellt Magri jedoch klar, dass Togliatti um eine eigenständige nationale Linie der IKP rang und weist sowohl die These zurück, die IKP habe linientreu die Weisungen aus Moskau befolgt, oder sei andererseits nach 1945 von Anfang an eine sozialdemokratische Reformpartei gewesen. Unter anderem wird der wenig bekannte Vorgang erwähnt, dass Togliatti sich seiner von Stalin ins Auge gefassten Ablösung und der Berufung an die Spitze der Kominform mit Unterstützung der Führung widersetzte.

Dem Autor unterlaufen Fehleinschätzungen, er verwechselt historische Fakten oder erwähnt auch manche nicht. So wenn er meint, die herrschenden Klassen dachten 1914 "an keinen Weltkrieg, noch wünschten sie ihn". Bei den Antikriegspositionen der Linken nennt er die der italienischen Sektion der Zweiten Internationale "eine zaghafte Ausnahme", vergißt völlig die der Bolschewiki und hält fest, "Lenin blieb allein". Zur Haltung der übrigen sozialistischen Parteien "mißfällt" ihm das Wort "Verrat". Die Regierung der Nationalen Einheit datiert er bis 1948 und negiert damit, dass De Gasperi die Kommunisten und Sozialisten bereits im Mai 1947 per Staatsstreich aus der Regierung vertrieb. Gramsci als einen "der Inspiratoren der Spaltung von 1921" (IKP-Gründung) zu bezeichnen dürfte nicht der richtige historische Ansatz sein. Gramsci sah im Mißlingen seiner Konzeption der Umwandlung der ISP in eine revolutionäre Partei des Proletariats "den größten Triumph der Reaktion". Er schätzte grundsätzlich ein, dass "unsere Partei mit ihrem Entstehen endgültig das historische Problem der Bildung der Partei des italienischen Proletariats gelöst hatte." Er sah die Erfahrungen der Räterepublik in Ungarn, wo er im Zusammenschluss der Kommunisten und Sozialdemokraten einen Fakt sah, der zur Niederlage beitrug. Darüber hinaus wäre es ohne die Gründung der IKP nicht möglich gewesen, eine revolutionäre Strategie der Arbeiterklasse als entscheidende Basis des Kampfes, der zum Sturz Mussolinis und zur Niederlage des Faschismus führte, zu erarbeiten. Umgekehrt wurde mit der Liquidierung der IKP 1991 die wichtigste antifaschistische Kraft beseitigt, was drei Jahre später dem Mitglied des Dreierdirektoriums der faschistischen Putschloge P2, Silvio Berlusconi, ermöglichte, mit seiner rechtsextremen Forza Italia und den MSI-Faschisten und Lega-Rassisten "eine schwarze Regierung" zu bilden (Manifesto 15. Mai 1994).

Die Rolle Luigi Longos bleibt verschwommen. Er warnte schon 1945 Togliatti vor zu weitgehenden Kompromissen und forderte, die außerparlamentarische Kraft und die Mobilisierungsfähigkeit der Partei nicht zu vernachlässigen. Togliatti räumte diese Versäumnisse auf einer Organisationskonferenz im Oktober 1946 ein und gab zu, die nach dem Sieg der Resistenza günstige Ausgangssituation sei "im Grunde genommen nicht genutzt worden" (wiedergegeben in Rinascita, Nr. 33/1972). Wenn Magri Ursachen des Strebens der IKP, zu einer einheitlichen Partei der Linken zu kommen, nachgeht, wäre angebracht gewesen, den von Togliatti noch vor Beginn des bewaffneten Aufstandes im April 1945 Pietro Nenni unterbreiteten Vorschlag zur Vereinigung beider Arbeiterparteien anzuführen. Bei der Einfügung wirtschaftlicher und sozialer Aspekte wäre zu wünschen gewesen, im Rahmen des in der ISP in den 1950er Jahren einsetzenden Kurses der Sozialpartnerschaft herauszuarbeiten, dass die soziale Basis dafür die mit dem Machtantritt des Faschismus 1922 unterbrochene Herausbildung einer Arbeiteraristokratie (Stichpunkt Paternalismus) bildete.

Angesichts der wiederholten Bezugnahme darauf, dass die IKP und die Linken die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus im Rahmen des Kalten Krieges, in dem Italien die Südflanke der Nato bildete, führten, fallen Unterbelichtungen hier besonders auf. Die Rolle Giorgio Napolitanos, des Frontmannes der Liquidierung der IKP, wie Losurdo deren Auflösung charakterisierte, der zum "favourite Comuniste" Hernry Kissingers (Corierre della Sera, 9. Sept. 2001) aufstieg und für sein Renegatentum mit dem Aufstieg bis ins höchste Staatsamt, des Präsidenten der Republik, belohnt wurde, erwähnt Magri mit keinem Wort. Die Funktion der faschistischen Putschloge P2 als einer Zentrale der Spannungsstrategie wird eher nebenbei auf einer halben Seite angeführt; die geheime Nato-Truppe Gladio überhaupt nicht; die Manipulierung der "Roten Brigaden" (BR) als Instrumente im Mordkomplott gegen Aldo nennt er "einfach absurd". Hat er das Buch von Rossana Rossanda und Carla Mosca "Brigate Rosse" (Deutsch, Hamburg 1996) nicht gelesen, in dem BR-Chef Mario Moretti einräumen muss, dass das Entführungskommando gar nicht über die Fähigkeiten verfügte, das fünfköpfige Begleitkommando in wenigen Sekunden zu liquidieren. Mit diesem Komplex hat sich Sergio Flamigno (IKP, später PdS), Mitglied mehrerer Parlamentskommissionen, in fünf Büchern beweiskräftig beschäftigt. Aber hier wie an anderen Stellen fragt sich, wie der Autor die umfangreiche Literatur zur Thematik, aber auch die Dokumente der IKP ausgewertet hat. Darunter fällt auch "La Formazione del Gruppo dirigente del PCI" (Rom 1962), zu dem nicht wenige Einschätzungen Magris im Widerspruch stehen. Ein darüber Auskunft gebendes Literaturverzeichnis fehlt leider.

Das Buch schließt, von einigen Ausblicken abgesehen, mit der Liquidierung der IKP auf ihrem letzten, dem 20. Parteitag vom 31. Januar bis 3. Februar 1991, fast auf den Monat genau 70 Jahre nach ihrer Gründung am 21. Januar 1921. Magri stieß dann im Dezember 1991 zu den Gründern einer Nachfolgepartei in Gestalt der Partei der Rifondazione Comunista (PRC), in der es nicht gelang, den aus der IKP mitgeschleppten Opportunismus zu überwinden, weshalb sie heute ein bedeutungsloses Dasein fristet. Bei der Gründung 130.000 Mitglieder, zählt sie heute noch etwa 10.000 bis 15.000. Dass Magri diesen Niedergangsprozess nicht weiter verfolgte, ist sicher auf sein tragisches Lebensende zurückzuführen. Er konnte den Verlust seiner geliebten Frau Mara nicht verwinden und folgte ihr am 28. November 2011 im schweizerischen Bellinzona mit dem Freitod.

Der von Lucio Magri gewählte Titel "Der Schneider von Ulm", dessen Schicksal Berthold Brecht ein Gedicht widmete, drückt die im Buch wiedergegebene Überzeugung aus, dass so, wie der Mensch nach Etappen des Scheiterns fliegen lernte, der Weg der Geschichte über Irrtümer und Fehler vorwärtsgehen wird zu einer Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit, für die Italiens Kommunisten im Sinne Gramscis stets eingetreten sind.


Anmerkung:
Magri verwendet in seinem Buch durchgängig die Parteibezeichnung KPI. Das war der Name, den die italienische KP seit ihrer Gründung 1921 bis 1943 (Auflösung der Komintern) führte: Kommunistische Partei Italiens (KPI), der in der vollen Schreibweise angehängt wurde: Sektion der Kommunistischen Internationale (KI). Der Rezensent hat die seit 1943 übliche Bezeichnung IKP (Italienische Kommunistische Partei) verwendet.


Lucio Magri: Der Schneider von Ulm. Eine mögliche Geschichte der KPI. Argument Verlag / InkriT, Berlin 2015. 460 S., 46 Euro, ISBN 978-3-86754-106-0.

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Quelle:
© 2015 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2015

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