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REZENSION/034: Klaus-Rüdiger Mai - Gutenberg. Der Mann, der die Welt veränderte (SB)


Klaus-Rüdiger Mai


Gutenberg. Der Mann, der die Welt veränderte

von Christiane Baumann



Mediale Zeitenwende: die Welt Johannes Gutenbergs. Zur neuesten Biografie von Klaus-Rüdiger Mai.

Wie schon bei seinen Biografien über Luther und Dürer geht es Klaus-Rüdiger Mai auch in seinem neuesten Buch zu Johannes Gutenberg um höchst aktuelle Fragen. Gutenberg war der "Steve Jobs der Renaissance", wie auf dem Einband zu lesen ist. Der Vergleich mit dem Apple-Gründer, marketingstrategisch klug gewählt, hat viel für sich. Beide waren Erfinder, Unternehmer und Visionäre. Der eine machte das Buch, das bislang nur den Eliten zur Verfügung stand, zum Massenmedium, der andere entwickelte u.a. iPod, iPhone und iPad und ließ den Computer alltagstauglich werden. Die Analogie, die zunächst neugierig macht, wird beim Lesen der Biographie zur Folie, provoziert Fragen zu unserem digitalen Zeitalter, das als vierte industrielle Revolution gelten kann. Dabei zieht Klaus-Rüdiger Mai eher unaufdringlich Parallelen zwischen unserem Heute und einer vergangenen Zeit, die mit ihrem Finanzgebaren, ihren Geschäftspraktiken und ihrem Marktdenken plötzlich sehr gegenwärtig wirkt. So wie Gutenbergs Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern die Welt revolutionierte und den Beginn der europäischen Wissensgesellschaft markierte, die den schriftlichen Diskurs als Zeichen des Fortschritts feierte, erleben wir mit dem World Wide Web einen Wandel, der alle Lebensbereiche radikal verändert. Mai interessiert genau dieser, wie er ihn nennt, gesellschaftliche Paradigmenwechsel.

Daneben wird ein zweiter Vorgang wichtig. Wie schon in seiner Dürer-Biographie will Mai hinter dem Überlieferten, in diesem Fall hinter der Legende, der "Maske" Johannes Gutenberg, den Menschen Henne zur Laden, wie er genannt wurde, sichtbar machen. Die Biographie geht somit von Henne zur Laden aus und versucht, der Legende ihre Identität zurückzugeben. Nähert man sich Johannes Gutenberg, so ist die biographische Faktenlage vergleichsweise bescheiden. Doch gerade das macht es für Mai reizvoll, Lebenswelt und Zeitgeist, die historische Folie aufzurollen, um über diesen Weg dem Mainzer Patrizier Henne zur Laden zu begegnen. Dabei folgt er dem Grundsatz der Plausibilität, ohne "skrupulös zu zaudern" (S. 22), wenn es gilt, Gestaltungsspielräume zu nutzen oder Gedankenspielen nachzugehen. Angesichts der überschaubaren Gutenberg-Forschung und dürren Kenntnisse zum Leben des Erfinders des Buchdrucks erweist sich Mais ästhetisches Verfahren, das er bei seinem Luther-Buch entwickelte und in seinem Dürer-Band verfeinerte, ausgehend von wissenschaftlichen Recherchen der historischen Wahrheit nachzuspüren und zugleich der dichterischen Phantasie Räume zu eröffnen, als produktiv. In diesem archäologischen Sichtungsprozess werden neue Lesarten möglich, wie die des Erfinders und Künstlers Gutenberg, der ästhetischen Gestaltungswillen mit handwerklichem Geschick verband, des knallhart kalkulierenden Geschäftsmannes und findigen Finanziers.

Indem Mai die Frage aufwirft, warum der Buchdruck in Mainz und nicht in den damaligen Kultur- und Wissenschaftsmetropolen Paris, Rom Florenz oder Bologna erfunden wurde, unterstreicht er seine sozial-historisch fundierte Methode, die nicht der Legendenbildung nacheifert, sondern den Menschen Gutenberg in seinen sozialen Beziehungen ausleuchtet. Spätestens an dieser Stelle hat das Buch den Leser gepackt, womit auch ein dritter Vorgang benannt ist, der die Biografie trägt. Mai entwirft ein beziehungsreiches und plastisches Bild von Gutenberg im "Herbst des Mittelalters", das "in seiner Vielfalt nicht nur im Bereich der Kunst, der Literatur, der Technik und der Wissenschaft, sondern auch in allen Bereichen der Wirtschaft, von der teils manufakturartigen Produktion bis hin zu hochinnovativen Finanzierungs- und Geldgeschäften" (S. 101) glänzte und von dessen Freizügigkeit im Denken wir kaum noch eine Vorstellung haben. Dabei kann Mai aus einem Materialfundus schöpfen, den er in Vorgänger-Werken, in seinem Bach-, Luther- oder Dürer-Buch, ausgebreitet hat.

Die spannende, biographische Reise bringt dem Leser Gutenberg als Sohn eines Patriziers und einer vermögenden Kaufmannstochter, somit der reichen städtischen Oberschicht entstammend, nahe. Seine Kindheit wird geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen Zünften und Patriziat, das, geht es nach zünftischem Willen, endlich auch Steuern und Abgaben zahlen soll. Gutenberg erlebt somit in der Kindheit die Brüchigkeit der Lebensverhältnisse, den Niedergang der Stadt Mainz wie auch den Machtverlust seines Standes und seiner Familie. Er spürt diese Brüchigkeit nicht zuletzt im Großen Abendländischen Schisma, der zeitweisen Spaltung der lateinischen Kirche. Mai nimmt für Gutenberg eine zweijährige Erfurter Studienzeit in Anspruch, für die es zwar keine Belege, aber Indizien gibt, wie seine Verankerung in der "via moderna", die ihn mit William von Ockhams Philosophie in Berührung brachte und schließlich jene geistigen und handwerklichen Grundlagen lieferte - Kenntnisse in Latein, im Kopieren von Büchern und im professionellen Umgang mit der Schrift - ohne die die Erfindung des Buchdrucks nicht gelingen konnte. Mai entwirft eine Biografie von Henne zur Laden, der eigentlich von seinen Renten hätte leben können und wirtschaftlich unabhängig war, als einem durchsetzungsstarken, cleveren Geschäftsmann, dessen Weg zum Buchdruck nicht über das Buch, sondern über Marktverständnis, Managementfähigkeiten, Finanzgeschick und über das Interesse an der Mechanik führte. Gepaart mit seiner "Fähigkeit, arbeitsteilige Prozesse zu entwickeln, in der Erkenntnis zudem der Möglichkeiten eines mechanischen Werkzeuges - der Presse - als industrielles Vervielfältigungsmittel" (S. 150) gelangte er zum Buchdruck.

Mais "Lesart" von Gutenberg versteht sich als Plädoyer für ein Unternehmertum, das die Innovation suchte und selbstverständlich damit Geld verdienen wollte. Ob beim Aachener Pilgerspiegel oder beim Bibel-Druck - Gutenberg war beseelt vom Drang "als freier Unternehmer auf dem Markt zu reüssieren, ihn zu erobern" wie sein Genie darin bestand, "beides, Maschinen und Verfahren, Technik und Technologie zusammenzudenken" (S. 167). Somit wird das Genie sozial "geerdet", die historischen Rahmenbedingungen seiner Erfindung werden nachgezeichnet, Gerichtsprozesse nüchtern in ihren Interessenlagen beleuchtet. Mai setzt gegen Spekulation und von heutigem Denken geprägte Sichtweisen die historische Analyse, polemisiert gegen übermäßiges Psychologisieren oder gar Moralisieren. Er sondiert akribisch, wenn es darum geht, Indizien zum Beweis zu erheben, fügt Puzzleteile zusammen, bis das, was gewesen sein könnte, auch ist. Dabei verfügt er über die Fähigkeit, mit ungeheurer Phantasie den Leser in die mittelalterliche Szenerie zu versetzen, wie die Große Aachener Heiligtumsfahrt von 1440 zeigt. Und aus diesem historischen Zeitverständnis heraus beantwortet er auch die Frage, was Gutenberg mit seiner Bibel, diesem "Renommierobjekt" eigentlich bezweckte: "Im Werk sollte seine Buße liegen - und Triumph, Vergebung und Heiligung" (S. 227). Das gottgefällige Streben sollte die Erlösung nach dem Tod sichern.

Das freie Unternehmertum eines Gutenbergs, die Freiheit eines Christenmenschen Luthers als Geburtsstunde des schöpferischen Ichs und die Universalität im Denken eines Dürers, so wie sie Klaus-Rüdiger Mai nicht zufällig in drei großartigen Biografien beschrieben hat, stießen das Tor auf zur Neuzeit, zum deutschen Humanismus, der - wurzelnd im christlichen Wertekanon - eine nationale kulturelle Identität in Deutschland begründete. Mai hat in seinen panorama-artigen Romanbiografien den gesellschaftlichen Umbruch vom Mittelalter zur Renaissance in allen Facetten, von der Literatur und Kunst über Technik, Wissenschaft und Wirtschaft, beschrieben. Gutenberg stand am Anfang dieser Entwicklung. Er war der Erfinder der ersten Technologie zur Massenkommunikation und schuf damit die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Öffentlichkeit, wie sie sich bis heute in unsere Demokratie fortgesetzt hat. Ohne ihn ist die Reformation, in der gedruckte Flugschriften zu einem wichtigen Propagandainstrument wurden, undenkbar. Sie wurde wiederum Dürer in seiner Krise zum Anker. So begegnen sich letztlich drei Geistesgrößen in einer sozialen Umwälzung und in einem Prozess geistig-kultureller Erneuerung, der die Welt grundlegend veränderte. Aus dieser historischen Perspektive, die den Chancen des gesellschaftlichen Umbruchs nachfragt, kann Mai entschieden kulturpessimistischem Denken entgegentreten, im dem das Internet als Ende der "Gutenberg-Galaxis" und als Bedrohung des Individuums firmiert. Durch die Gutenberg-Brille gesehen, ist das Internet nur ein weiterer Quantensprung in unserer gesellschaftlichen Kommunikation, allerdings unter einer wesentlichen Bedingung: "wenn wir lernen, damit umzugehen" (S. 322). Damit ist Mai bei hochaktuellen Fragen, die Philosophen wie Richard David Precht, Informatiker wie Manfred Broy oder Soziologen wie Zygmunt Bauman umtreiben bzw. zur Diskussion gestellt haben. Die digitale Zeitenwende muss gestaltet werden, darf im Ergebnis nicht nur "Effizienzgewinn und Monopolisierung um jeden Preis"[1] sein, sondern bedarf einer gesellschaftlichen Vision. Das jedoch ist keine technische, sondern eine politische Aufgabe.

Gutenberg ist nicht zuletzt ein im Äußeren sehr anspruchsvolles Buch, das den Gegenstand "sichtbar" macht, indem Gutenberg-Bibelseiten auf Pergament eingelegt wurden und mit roter Farbe - "rubrum" - Absätze, Überschriften, Zitate usw. hervorgehoben, d.h. "rubriziert" (S. 255) wurden, wie es zu Gutenbergs Zeiten üblich war. Der Text im Blocksatz kennt keine herkömmlichen Absätze, reduziert die Leere (der Seiten) und antizipiert damit "eine Geschlossenheit der Welt im Sinne eines von Gott geordneten Universums" (S. 254), wie sie dem Zeitverständnis Gutenbergs entsprach. Kostproben buchmalerischer Gestaltung werden eingeflochten, so dass der Leser einen bildlichen Eindruck, von den Anfängen des Gutenberg'schen Buchdrucks bekommt. In der Form wird das Erzählte visuell erlebbar.

Kurz: In Gutenberg treffen sich in ganz wunderbarer Weise Philosophie, Geschichte und Buchdruck in einer hochaktuellen und schillernd erzählten Biographie über den Erfinder des industriellen Buchdrucks, präsentiert in einem meisterhaften Werk heutiger Buchkunst.


Anmerkung:

[1] Broy, Manfred und Richard David Precht: Daten essen Seele auf. In: Die Zeit, No. 5, 26. Januar 2017, S. 8.

Im Schattenblick zu Klaus-Rüdiger Mai erschienen:

Eine Reise ins Herz unserer Zeit: Martin Luther - Prophet der Freiheit. Schattenblick, 20.12.2014.
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/biograph/bubir030.html

Christiane Baumann im Gespräch mit Klaus-Rüdiger Mai. Schattenblick, 24.11.2015.
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0031.html

Albrecht Dürer. Das Universalgenie der Deutschen. Schattenblick 03.12.2015.
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/redakt/dbrr0005.html

Schwund mit den Wurzeln - seismische Signale ... Klaus-Rüdiger Mai im Gespräch - Klaus-Rüdiger Mai: Gehört Luther zu Deutschland? Schattenblick, 12.04.2016
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkri0037.html

Klaus-Rüdiger Mai:
Gutenberg.
Der Mann, der die Welt veränderte.
Propyläen Verlag, Berlin, 2016.
383 Seiten,
28,00 Euro,
epub 24,99 Euro,
ISBN: 978-3 - 549-07467-1


13. Februar 2017


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