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REZENSION/028: Hanna Schygulla - Wach auf und träume (SB)


Hanna Schygulla


Wach auf und träume

Die Autobiographie



Wie paßt ein Leben zwischen zwei Buchdeckel? Gar nicht, möchte man spontan antworten und hätte damit die inhärente Problematik eines ganzen Genres in seiner Ambivalenz zwischen Dokumentation und Erinnerung im Kern getroffen.

Die Frage überfällt einen umso mehr, wenn man die soeben im Schirmer/Mosel Verlag erschienene, nur knapp 200 Seiten starke Autobiographie von Hanna Schygulla, Schauspielerin und Sängerin, die durch den Ausnahmeregisseur Rainer Werner Fassbinder in den 60er Jahren bekannt und mit Filmen wie Die Ehe der Maria Braun und Lili Marleen weltberühmt geworden ist, zur Hand nimmt. Um dann zu entdecken, wieviel Leben sich auf 200 Seiten entfalten läßt.

Die Erinnerungen und Reflexionen, die keiner strengen Chronologie folgen und kaum Zeitangaben oder Jahreszahlen enthalten, erspinnen ohne jedes Pathos das Manuskript eines ungewöhnlichen und bemerkenswerten Weges. "Zurück in die Zukunft", heißt es in einer der Kapitelüberschriften. So, wie wir unser Leben nicht in einer Abfolge von Zeitabschnitten erinnern, sondern eher anhand eindrücklicher Erlebnisse und nachhaltiger Begegnungen, wie wir mal aufregende 13, dann wieder gefühlte 70 sind, schildert Hanna Schygulla mit bisweilen lyrisch-literarischer Leichtigkeit, oft in atemberaubender Kürze aufs Wesentliche gebracht oder in fast schroffer Nüchternheit Ereignisse und Erkenntnisse, Gedanken und Gefühle, die die Auseinandersetzung mit ihrem Leben geprägt haben. Die großen, wie die Begegnung mit Rainer Werner Fassbinder - "Ohne ihn hätte es die Schauspielerin Hanna Schygulla nie gegeben" - und die eher unscheinbaren, die, wie jeder aus der eigenen Erfahrung weiß, nachhaltig unvergessen bleiben:

Ich bin sieben Jahre alt. Ich bin in der Schule in der Turnhalle. Es geht darum, wer den Weihnachtsengel spielen darf. Ich habe so einen Drang. "Schau, Fräulein, was ich kann, schau!" Ich schieße einfach ein paar Purzelbäume ab. Aber das Fräulein sagt "Geh in die Ecke und schäm dich." Von da an schäme ich mich, wenn ich toll sein will. Aber wollen tu ich's doch.
(S. 19)

Widersprüche bleiben ihre Begleiter, willkommen, nicht gemieden sind sie es, die sie vorantreiben. Schon früh entdeckt sie, die als polnisches Flüchtlingskind beargwöhnt wird, ihre Liebe zum Gleich- wie auch zum Anderssein, die Faszination des Fremden, des Neuen. Fragen werden ihr zum Element; auch gerade solche, die ohne Antworten bleiben. Das Buch ist voll davon.

Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

'Es gibt ein Kinderbild von mir, das mir immer wieder zeigt, wo's lang geht' - Hanna (in der Mitte) begeistert unterm Tannenbaum
Foto: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

Den ersten Teil habe sie, so die Autorin im Vorwort, schon vor 30 Jahren geschrieben - und wundert sich, daß sie nach einem so langen Zeitraum nichts hinzuzufügen, wegzulassen oder wesentlich zu verändern hat. Heißt das, daß es da keine Veränderung gab, also Stillstand oder eher, daß schon früh die Groschen gefallen sind für bleibende Erkenntnisse, die wie Mosaiksteine eine Persönlichkeit zusammengesetzt haben?

Auch die Entstehung der Biographie verweist auf das beständige Nebeneinander von zukunftsweisender Vergangenheit und Gegenwart: "Auf dem rechten Blatt notiere ich, was jetzt gerade passiert, ... Auf dem linken Blatt schreibe ich, die ich nun nicht mehr 'die Jüngste' bin, über das Gewesene." (S. 59)

Geboren wird Hanna Schygulla 1943 in Kattowitz in Oberschlesien als einziges Kind des Holzarbeiters Joseph Schygulla und seiner Frau Antonie. 1945 flieht die Mutter mit der Zweijährigen nach Westen. Hanna wächst in München auf, besucht das Gymnasium und fällt schon früh aus der Rolle, längst "bevor die Rollen mir zufielen". Das Verhältnis zwischen Vater und Mutter ist spannungsreich, das der Tochter zu ihren Eltern auch. Es wird sich erst am Ende ihrer Tage neu beleben, wenn Hanna zu ihnen zurückkehrt, um sie zu pflegen. Das waren die schönsten Jahre zu dritt, für die Eltern, aber auch für die Schauspielerin selbst.

Nach dem Abitur geht sie als Au Pair nach Frankreich. Die Mühe damit, eine Deutsche zu sein, die Hypothek von Verdrängung und Verantwortung der Eltern für das Kapitel deutscher Geschichte zwischen 1933 und '45, das seinen scheinbar widerspruchslosen Übergang ins Wirtschaftswunder findet, prägen eine ganze Generation. "Kein Wunder, dass mir ein Ohr aufgeht, für 'wer dient wem', ..." (S. 26)

Sie entschließt sich für ein Studium der Romanistik und Germanistik, läßt sich dann von einer Freundin mit zur Schauspielschule nehmen, derselben, die auch Rainer Werner Fassbinder besucht. Als der sie für einen ersten Film holt, hat sie die Schauspielschule schon wieder geschmissen. "Ich kann mich nicht erinnern, daß es mir sehr viel ausgemacht hat. Nicht, dass da unter großen Gefühlen ein Traum zusammengestürzt ist. Und doch war es ein Traum." (S. 32) Hanna Schygulla ist von schneller Entscheidung. Sie wägt nicht nach Vorteilen, sie wagt und folgt ihrer Intuition, ihrer flamme sacrée.

Foto: Bruna Bertani - Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

Arm in Arm mit Fassbinder 1980 auf der Filmbiennale in Venedig
Foto: Bruna Bertani
Verlagsarchiv Schirmer/Mosel

In Fassbinders Antiteater wird sie zum unverzichtbaren Teil des Ensembles, mit ihr entstehen seine ersten Filme, darunter Katzelmacher, Liebe ist kälter als der Tod, Die bitteren Tränen der Petra von Kant und die Fernsehreihe Acht Stunden sind kein Tag. Die Schygulla wird zum Eckpfeiler, ja zum Motor seiner Arbeiten, wird der Regisseur einmal sagen, aber nie zu ihr.

Aber auch ich habe es ihn wohl nicht genügend wissen lassen, dass ich es von Anfang an gespürt habe, dass wir füreinander bestimmt waren, ohne dass wir allzu viel gemein hatten, weder Spaß an denselben Veranstaltungen noch dieselben Ansichten, außer vielleicht einer tiefen Vorliebe fürs Labyrinth der Widersprüche ..." (S. 98)  

Was an der Schauspielschule nicht gelang - das Rauslassen - in der freien Improvisation gelingt es: Mach einfach!

Es ist die große Zeit des Aufbruchs, nicht nur in Theater und Film, und Hanna ist mittendrin. Die Jahre um '68 prägen auch sie - wie zwangsläufig alle jener Generation, ob sie sich bewußt zu einer radikalen Veränderungswürdigkeit der Gesellschaft bekennen oder nicht. Die Stimmung von damals wird in dem Buch - nicht ganz ohne Klischees - mit Parolen und Songzeilen veranschaulicht - Make love not war oder Macht kaputt, was euch kaputt macht oder Sein statt Haben, die denjenigen, die dabei waren, manchen Erinnerungshorizont eröffnen mögen, für die Nachgekommenen vielleicht aber eher bloße Plakate bleiben, zumal einiges davon der Konsumindustrie zum wohlfeilen Opfer der Vereinnahmung wurde.

Nach Effi Briest schmeißt Hanna Schygulla zum zweiten Mal. Gegen den Horror der Wiederholung und Stagnation - nach fünf Jahren, einem Dutzend Filmen und mehreren Theaterstücken. Es trennen sich die Wege des Protagonisten des Neuen Deutschen Films, von dem die Schygulla sagt, man hätte zu seinen Lebzeiten nicht immer so genau gewußt, was man an ihm hatte, und des Anti-Stars, als den sie sich auch selbst bezeichnet. Sie wollte nicht so leblos sein, kein "dressiertes Wesen, ... und dahinter erstickt ein Mensch." (S. 39)

Aus ist es auch mit ihrer Beziehung und mit dem Studium, kurz vorm Examen. Hanna Schygulla nimmt sich eine Auszeit, begibt sich, wie viele zu jener Zeit, auf die Suche nach sich selbst und auf eine Tramptour durch die USA in das Land der Hopi-Indianer, geleitet von ihrem beständigsten Begleiter, dem Zufall.

Vier Jahre später holt Fassbinder sie erneut für einen Film: Mit Die Ehe der Maria Braun gelingt der internationale Durchbruch. Es folgen Die Dritte Generation, Lili Marleen und Berlin Alexanderplatz, wieder fürs Fernsehen. Andere Autoren und Regisseure fragen um eine Zusammenarbeit an, darunter Gabriel Garcia Márquez, Jean-Luc Godard, Ettore Scola, Carlos Saura, Marco Ferreri, Andrzej Wajda, George Tabori, Wim Wenders, Volker Schlöndorff und zuletzt Fatih Akin. Manche Begegnung fängt mit einem Nein an. Bei David Lynch bleibt es dabei. Die Rolle der hintergründigen Nachtclubsängerin Dorothy Vallens in Blue Velvet wird Isabella Rossellini spielen.

1982 geht Hanna Schygulla ein zweites Mal nach Paris - der Liebe wegen - und bleibt, auch wenn die Liebe nach 13 Jahren zerbricht. Sie beginnt eine zweite erfolgreiche Karriere als Sängerin, nicht ohne den Antrieb und die Inspiration von Alicia Bustamante aus Kuba, ebenfalls Schauspielerin und Sängerin, mit der sie bis heute eine innige Freundschaft verbindet und der ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Sie ist es auch, die es ihr ermöglicht, den Wohnsitz in Paris aufrechtzuerhalten, als die Eltern pflegebedürftig werden. Die nächsten zehn Jahre wird Hanna Schygulla zwischen Frankreich und Deutschland pendeln, Beruf und Karriere hintenan stellen; die Mutter wird ihr zu dem Kind, das sie nie hatte.

Foto: Andrée Girard

Mit Alicia Bustamante 2013 in Paris
Foto: Andrée Girard

2011 bei Dreharbeiten zu Avanti zwingt ein Wirbelsäulenvorfall Hanna Schygulla in den Rollstuhl. Sie kämpft sich wieder heraus und erfährt, daß "Nur das hilft, wenn die Gefahr am größten ist: Glauben, dass es gelingen wird, und dem Zweifel keinen Platz geben." (S. 55)

Heute, kurz vor ihrem 70. Geburtstag, denkt sie an eine endgültige Rückkehr in ihre eigene Sprache, diesmal nach Berlin. Ein Anlaß, die langen Jahre in Paris und das "süße Leben in Frankreich" auch vor dem Hintergrund der Beziehungen beider Länder noch einmal neu zu reflektieren.

Die Autobiographie Hanna Schygullas ist eine ausgesprochen kurzweilige und anregende, zeitenübergreifende Reise durch ein aufregendes Leben in einer außergewöhnlichen Epoche und auch ein Stück Geschichte um die Nachwehen deutscher Vergangenheit, um Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung und Proben des Aufstands. In Andeutungen eröffnet sie Horizonte, die keiner Flut von Zeilen bedürfen und die dem Leser Platz lassen für eigene Erinnerungen. Da schreibt eine, die nicht nur mit dem Kopf denkt und die sich den Aufbruch der frühen Jahre bewahrt hat, auch wenn das für Hanna Schygulla so wichtige Wort 'trotzdem' von einem Entweder-Oder eher zu einem Sowohl-als-Auch geworden ist. Der Titel Wach auf und träume hätte nicht besser gewählt sein können, bewahrt er doch im Neuanfang auch die Vision als das, was Gestaltung erst möglich macht. "Angst ist natürlich auch dabei. Wo ist die Angst nicht dabei? Das ist ja der große Trick, um dranzubleiben. Ich sage dazu Angstfreude. Angstfreude ist mein Signal zum Aufbruch." (S. 35)

Laut George Tabori hat Theater auch die Aufgabe, den Schauspieler zum richtigen Menschen zu machen und nicht den Menschen zum richtigen Schauspieler. Man könnte meinen, bei Hanna Schygulla sei dieses Anliegen fruchtbar aufgegangen. Aber man vergäße dabei, daß nicht nur die Bühne einen Menschen sich entwickeln läßt - sondern das ganze Leben. Auch davon zeugt dieser Lebensweg.

Beigefügt ist dem Buch neben zahlreichen Fotos, die vorwiegend aus dem Privatarchiv stammen und die wie der Text in wirkungsvoller Zurückhaltung ins Buch gebracht sind, im Anhang ein kleines, gelungenes mediales Überspringsel in Form einer eigens für dieses Buch gestalteten Web-Adresse, über die man an mehr Infos und auch eine Leseprobe von Hanna Schygulla selbst gelangen kann.

Man möchte sich am Ende wünschen, es möge dies nicht Hanna Schygullas letztes Buch gewesen sein und der Autorin eine weitere Karriere in der schreibenden Kunst.


Anmerkung:

Ein ausführliches Interview, das der Schattenblick am 28. Oktober 2013 mit Hanna Schygulla führte, finden Sie unter:
Schattenblick → INFOPOOL → KUNST → REPORT
INTERVIEW/024: Traumgenau dem Wunsch entgegen - mit Hanna Schygulla im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kuri0024.html

7. November 2013


Hanna Schygulla
Wach auf und träume
Die Autobiographie
200 Seiten, 63 Abbildungen
Schirmer/Mosel Verlag, München 2013
19,80 Euro
ISBN 978-3-8296-0658-5