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REZENSION/024: Howard Zinn - Schweigen heisst Lügen (Autobiografie) (SB)


Howard Zinn


Schweigen heisst Lügen



Als nach den Flugzeuganschlägen von 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington Präsident George W. Bush seinem traumatisierten Volk erklärte, die Verantwortlichen für die Schreckenstat seien von Haß auf die demokratischen Freiheiten Amerikas beseelt, weshalb man sie mit einem gnadenlosen "globalen Antiterrorkrieg" überziehen werde, gab es in den USA nur wenige Personen des öffentlichen Lebens, die dem Republikaner aus Texas offen zu widersprechen wagten. An prominentester Stelle gehörte dazu der berühmte Historiker und Sozialaktivist Howard Zinn. In einem Beitrag für die Zeitschrift Progressive schreckte der Veteran der Bürgerrechts- und Anti-Vietnamkriegsbewegung nicht davor zurück, die schockierenden Ereignisse in einen geopolitischen Kontext zu stellen, und erinnerte an die zahlreichen Opfer amerikanischer Militäroperationen in Lateinamerika, dem Nahen Osten und Südostasien.

Für Zinn dürfte die empörte Reaktion auf seine Stellungnahme auf der Seite der meisten Kommentatoren in den amerikanischen Medien und ihrer neokonservativen Stichwortgeber, die sich bereits anschickten, die Ereignisse des 11. September zur Verwirklichung ihrer ehrgeizigen Pläne für eine strategische Neuordnung der Landkarte zwischen Mittelmeer und Hindukusch und eine "Transformation" der US-Streitkräfte zur unangefochtenen globalen Ordnungsmacht zu nutzen, keine Überraschung gewesen sein. Schließlich hat der 1922 geborene, in New York aufgewachsene Sohn bettelarmer Einwanderer aus Österreich-Ungarn und Rußland mehrere Jahrzehnte damit verbracht, den Mächtigen in den USA auf den Schlips zu treten und die Armen und Entrechteten nicht nur intellektuell, sondern auch teilweise unter Lebensgefahr zu unterstützen. In "Schweigen heißt Lügen" läßt Zinn die wichtigsten Stationen und Episoden seines bewegten Lebens, das stets eng mit den politischem Geschehen in den USA verwoben gewesen ist, Revue passieren.

Die ersten Jahre in der Arbeitswelt verbrachte Zinn als Schweißer beim Bau von US-Kriegsschiffen im Navy Yard von Brooklyn, bis er 1943 freiwillig in den Dienst der US-Luftwaffe trat und Bombenschütze wurde. In dieser Funktion nahm er an alliierten Bombenangriffen auf Städte in Deutschland, Frankreich, der Tschechoslowakei und in Ungarn teil. Erst später, als er aufgrund eines staatlichen Stipendiums für ehemalige Soldaten Geschichte studierte und einige der Ortschaften besuchte, die er früher bombardiert hatte, begriff er, woran er sich beteiligt hatte, als ein durch nichts zu rechtfertigendes Menschenabschlachten und wurde zum entschiedenen Friedensaktivisten.

Beim Vergleich der offiziellen Berichte über die angerichteten Bombenschäden - speziell in Bezug auf die Zahl der getöteten Zivilisten - lernte Zinn die herkömmliche Geschichtsschreibung von ihrer häßlichsten Seite kennen und wurde fortan zu einem ihrer erbittersten und erfolgreichsten Widersacher. Sein 1980 erschienenes, fast 800seitiges Opus magnum "A People's History of the United States", eine Geschichte der USA aus der Sicht der Ureinwohner, Sklaven, Kleinbauern, Rebellen, Sozialkämpfer, Fabrikarbeiter und Ausgestoßenen hat sich mit inzwischen mehr als einer Million verkaufter Exemplare zu einem solchen Klassiker entwickelt, das es sogar in Matt Groenings Trickfilmserie "The Simpsons" als Studienmaterial der Familienmatriarchin Marge vorkam.

Nach dem Studium an der New Yorker Universität Columbia nahm Zinn 1956 eine Stelle als Geschichtsprofessor an der Schwarzen-Universität Spelman in Atlanta, Georgia, an, was damals für einen Weißen sehr ungewöhnlich war. Erstmals mit der in den Südstaaten noch üblichen Rassentrennung konfrontiert, schloß er sich denjenigen an, die der Diskriminierung nach Hautfarbe ein Ende setzen wollten. Nachdem Zinn im vergangenen Januar mit 88 Jahren starb, wurde seine FBI-Akte freigegeben, aus der hervorging, wie sehr seine damalige Kritik an der US-Bundespolizei, schwarze Bürgerrechtler kaum bis gar nicht vor Übergriffen weißer Rassisten in Schutz zu nehmen, J. Edgar Hoover und seinen Männern ein Ärgernis gewesen ist. In den Akten stand zudem, daß das FBI damals Zinns Telefon abhörte und ihn wegen seines angeblich schlechten, sozialkritischen Einflusses auf Martin Luther King jun. als Bedrohung der nationalen Sicherheit einstufte - eine Klassifizierung, die sehr zu denken gibt, vergleicht man damit des Historikers eigene Erinnerungen an den damaligen Kampf um nicht weniger als um die Einhaltung der US-Verfassung und der darin verbrieften Rechte eines jeden Bürgers.

Nach dem Wechsel an die Universität von Boston 1964 bekam es Zinn erst richtig mit dem nationalen Sicherheitsstaat zu tun. In jenem Jahr ließ Präsident Lyndon B. Johnston den Krieg in Vietnam durch die Entsendung Zehntausender US-Soldaten drastisch eskalieren. Neben dem deutschen Philosophen Herbert Marcuse sprach Zinn im Frühjahr 1965 im Stadtpark von Boston auf einer der ersten von vielen Antikriegsdemonstrationen. Sein 1967 erschienenes Buch "Vietnam: The Logic of Withdrawal" wurde quasi zum Manifest all derjenigen, die einen Abzug der US-Streitkräfte aus Südostasien forderten. In seiner Biographie schildert Zinn auf recht eindrückliche Weise, mit viel Witz und Selbstironie unter anderem: wie er 1968 zusammen mit dem jesuitischen Priester Daniel Berrigan nach Hanoi reiste, um drei US-Soldaten, welche die nordvietnamesische Regierung als Zeichen des guten Willens freiließ, in Empfang zu nehmen und nach Hause zu begleiten; wie er 1970 Berrigan, der wegen einer Protestaktion in einem Einberufungsbüro auf der Flucht vor der Polizei war, wochenlang bei Freunden versteckte; und wie er im selben Jahr dem ehemaligen Marineinfanteristen und RAND-Militäranalytiker Daniel Ellsberg half, die sogenannten Pentagon-Papiere - eine geheime US-Regierungsstudie über die wahren Hintergründe des Vietnamkrieges - zu veröffentlichen.

Auch nach dem Ende des Krieges in Indochina setzte Zinn sein Engagement für eine gerechtere Gesellschaft in den USA fort, nahm an Arbeitskämpfen an der Bostoner Universität teil, schrieb zahlreiche Bücher und inspirierte nicht zuletzt durch die eigene Großherzigkeit Tausende von Studenten und Besucher seiner Vorträge dazu, sich aktiv für politische Veränderungen einzusetzen. Im Kampf um soziale Verbesserungen betrachtete Zinn zeitlebens den zivilen Ungehorsam als ein unerläßliches Mittel. Vor dem Hintergrund der Proteste gegen den Transport von Atommüll nach Gorleben oder den Bau eines unterirdischen Hauptbahnhofs in Stuttgart oder auch der Pläne des Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg zur Verwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsstreitmacht sind die Schilderungen in Zinns Autobiographie von großer Aktualität und für jeden politischen Aktivisten oder nur Politinteressierten hierzulande von Nutzen.

1970 sollte Zinn, der wegen Teilnahme an einer Sitzblockade vor einer Kaserne und der Weigerung, die deswegen vom Gericht gegen ihn verhängte Geldstrafe zu bezahlen, für mehrere Tage ins Gefängnis. Am Tag, an dem er sich in die Obhut der Justizbehörden begeben sollte, flog er statt dessen von Boston nach Baltimore, um an der Johns Hopkins University gegen den Philosophen Charles Frankel in einer öffentlichen Debatte über das Für und Wider des zivilen Ungehorsams anzutreten. Im Buch schildert Zinn seinen Standpunkt wie folgt:

Nicht der zivile Ungehorsam, so führte ich vor meiner Zuhörerschaft aus, stelle ein Problem dar, wenn auch einige Leute warnten, er sei eine Bedrohung für die gesellschaftliche Stabilität und führe zu Anarchie. Die größte Gefahr, so argumentierte ich, sei der zivile Gehorsam, die Unterwerfung des individuellen Gewissens unter die Regierungsautorität. Solcher Gehorsam führe in totalitären Staaten zu den Gräueln und in liberalen Staaten zur Akzeptanz des Krieges durch die Öffentlichkeit, wann immer auch die sogenannte demokratische Regierung beschließe, Krieg zu führen.
(S. 192)

17. November 2010


Howard Zinn
Schweigen heisst Lügen - Autobiographie
Übersetzt aus dem Englischen "You Can't Be Neutral on a Moving Train -
A Personal History of our Times" von Jürgen Schneider.
Edition Nautilus - Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg, 2010
288 Seiten
ISBN: 978-3-89401-604-3