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INTERVIEW/024: Suchmaschine - Ein hoher Preis ...    Prof. Dorothea Wenzel im Gespräch (SB)


An neuen Lernorten zur Besinnung kommen

SUMA-EV-Kongreß am 11. Februar 2015 in Hamburg


Prof. Dorothea Wenzel ist Dekanin der Fakultät Design, Medien und Information (DMI) der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg. In ihrer Eröffnungsrede zum diesjährigen SUMA-EV-Kongreß warf sie, ganz im Sinne des Leitthemas "Das Internet im Zeitalter von Überwachung und Manipulation", die Frage auf, wo die Gefahren des allgegenwärtigen Zugangs zur Informationsquelle des elektronischen Datennetzes liegen und wie sehr der permanente Umgang der meisten Menschen mit dem Internet im allgemeinen und Suchmaschinen wie Google im besonderen bereits den Anspruch auf Privatsphäre aushöhlt.

Was mit dem Wissen, das auch an der HAW jeden Tag produziert wird, geschieht und wer es sich letzten Endes aneignet, ist in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft allemal von Belang. Ihr gehe es darum, in diesem vermeintlichen Spiel nicht in eine Spielfigur verwandelt zu werden, sondern auch in der Informationsökonomie ein selbstbestimmtes Leben zu führen. So gab Dorothea Wenzel den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses die Frage mit auf den Weg, wann wir die Selbstbestimmung aufgegeben haben und was wir tun müssen, um sie zurückzuerlangen.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Dorothea Wenzel
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Wenzel, könnten Sie erläutern, wie der Zugang zum Thema Informationstechnik und Suchmaschinen in bezug auf die Arbeit in Ihrer Fakultät aussieht? Gehen Sie an dieses breite Feld mit einer eher kulturell oder eher ökonomisch gewichteten Fragestellung heran?

Dorothea Wenzel (DW): Es ist eine Mischung. Es gibt drei Wissenschaftskulturen in unserer Fakultät, einmal die Informationswissenschaft, die eher zu den Geisteswissenschaften gehört, zum anderen Design, das eher das Künstlerische anspricht, und zum dritten Medientechnik, die eher zu den Ingenieurswissenschaften gerechnet wird. Das gleiche haben wir bei den Modedesignern, wo es auch die Ausrichtung als Bekleidungsingenieure gibt. Wir haben also immer mehrere Kulturen, die wir in eine Beziehung zueinander bringen müssen.

Meine Aufgabe besteht im Management der Fragestellungen, die daraus erwachsen, um sie auf den Hochschulalltag umzusetzen und mit dem betriebswirtschaftlichen Management zu verknüpfen. An dieser Stelle erhalte ich Unterstützung durch einen Geschäftsführer. Natürlich geht es auch darum, eine Entwicklung voranzutreiben, die in erster Linie aber nicht von mir, sondern von einem Dekanat vorgedacht wird, das die verschiedenen Departementsleitungen miteinander abstimmt. Das Dekanat ist also ein komplexes und großes Leitungsgremium mit einer Primus inter pares-Struktur, um diese Wechselwirkungen richtig diskutieren und daraus die angemessenen Schlüsse fassen zu können. Unser Ziel ist, die Schnittstelle dieser drei Kulturen immer wieder durch gemeinsame Projekte zu befruchten, damit die Kollegen miteinander arbeiten und diese Kulturherausforderung auch diskutieren.

Wir haben als Ergebnis für solche Prozesse seit einigen Jahren den Karl H. Ditze Förderpreis für das Beste Projekt in unserer Fakultät. Ziel dieses Preises ist es, genau diese interdisziplinären Ansätze und die Teamfähigkeit der jeweiligen Kollegen und Studierenden in diesem Bereich des kulturellen und auch fachwissenschaftlichen Austausches zu befördern. Denn die Fachsprache im Design ist vollkommen anders als bei den Ingenieuren oder Informationswissenschaftlern. Es gilt also, sich in diesen verschiedenen sprachlichen Wissenschaftsmodellen so auszudrücken, daß ein erfolgreicher Projektverlauf entsteht. Das ist meine Rolle an dieser Stelle.

SB: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem SUMA-EV, um diesen Kongreß auszurichten, und welches Interesse hat die HAW daran?

DW: Das Interesse der HAW betrifft die Qualität unserer Lehrenden. Wir haben 67 Professoren und fast ebenso viele unterschiedliche Lehrgebiete. Die Intention ist dabei immer, daß wir als Fachhochschule nicht unbedingt nur Lehre machen wollen. Wenn unsere Kollegen zehn Jahre bei uns sind, stellt sich die Frage, woher sie ihr aktuelles Wissen bekommen. In unserer Fakultät sind wir darauf angewiesen, sehr aktuell mit dem Wissen umzugehen. Ein solcher Kongreß ist eine wunderbare Gelegenheit, Kollegen, Studierende, aber auch die Lehrgebiete selber so aufzufrischen, daß sie ein Stück weit eine Weiterentwicklung in bezug auf Studienreform, Lehrveranstaltungskonzepte und so weiter erbringen. Deshalb fördern wir diese Kooperation. Herr Lewandowski, der bei uns das Lehrgebiet Web Information Retrieval vertritt, ist an den SUMA-EV herangetreten und hat den Kongreß an unsere Hochschule geholt. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit veranstalten wir diverse Ringvorlesungen beispielsweise im Bereich Games oder Textil Recycling mit Green Cycles und an ganz vielen anderen Stellen, weil wir darin ein Modell sehen, den wissenschaftlichen Entwicklungsprozeß sehr intensiv zu pflegen und zu fördern.

SB: Wie verändert sich der Zugang zur Wissenskultur aus Ihrer Sicht als Wissenschaftlerin und Hochschulexpertin im Vergleich zu früher, als man zum einen noch Bibliotheken besuchen mußte und zum anderen eine ganz andere Form von Materialität im Umgang mit Schriften und Texten vorherrschte?

DW: Meine persönliche Erfahrung ist, daß die Vergangenheit uns aufgrund der Langsamkeit der sich beständig wiederholenden Prozesse - lesen, schreiben, suchen, weglegen und so weiter -, gezwungen hat, intensiver mit den Texten zu arbeiten. Dazwischen gab es immer Suchzeiten, wo ich von einem Ort zum anderen gehen mußte. Letztendlich habe ich mein Gehirn auf eine Reise geschickt und ihm damit die Möglichkeit gegeben, über Dinge, die ich gesehen, gedacht oder geschrieben habe, noch einmal nachzudenken. Damit bin ich in einen neuen Austausch gekommen, ob ich das aktiv betrieben habe oder nicht, sei erst einmal dahingestellt.

Aber ich hatte eben Zeitfenster, in denen mein Gehirn diese Leistung erbringen konnte. Diese Zeitfenster habe ich jetzt nicht mehr, das heißt, es geht viel mehr in Richtung Konsum und weniger in Richtung Reflexion. Die Qualität, die beim Lesen und Schreiben entsteht, ist darauf angewiesen, daß Zeitfenster des Nachdenkens vorhanden sind, um darüber zu reflektieren, was man gelesen hat, und gegebenfalls zu entscheiden, weitere Schriften heranzuziehen. Das Internet nimmt uns häufig die Möglichkeit, uns angemessen wissenschaftlich aufzustellen, weil uns die Geschwindigkeit ein Stück weit vorgaukelt, wir wären Herr der Situation. Aber im Grunde genommen sind wir nur Dompteure von Informationsmassen, aber nicht mehr Denker in bezug auf ein Ziel, das ich für meine Arbeit oder meinen Vortrag erreichen will.

Für die Studierenden ist das extrem schwierig, aber das gilt auch für die Lehrenden, obwohl sie häufig aus einer anderen Zeit kommen und damit noch andere Modelle kennen. Die Jungen hingegen, die jetzt 20, 25 Jahre alt sind, kennen kaum andere Modelle, das heißt, sie müssen eigentlich in diesen langsamen Prozeß wieder zurückgeführt werden. In fünf Wochen werden wir hier auf dem Campus einen Neubau mit einer Bibliothek, die wir in den letzten viereinhalb Jahren nicht hatten, eröffnen. Es soll keine Bibliothek im Sinne von Regalen mit Büchern sein, sondern ein Lernort, an dem man Bücher rausholen, lesen, wieder wegstellen und diskutieren kann. Wir müssen jetzt Formate finden, wie wir den Jugendlichen die nächsten Zeitfenster geben, indem wir sagen, redet doch einmal darüber, was ihr gerade gelesen habt. Deshalb haben wir ein Café, die Mensa, ein Forum Finkenau, in dem wir auch solche Konferenzen machen, damit dieser Dialog zwischen Lesen, Denken, Diskutieren, und dieses in eine iterative Situation hineinzubringen, wieder angeregt werden kann, und nicht nur: Ich mache, ich bin fertig, wo ist das nächste.

SB: Damit stellt sich auch die Frage nach der Verknüpfung von Wissen. Beim heutigen permanenten Zugang zur Information könnte der Verdacht aufkommen, daß sich das auf die Merkfähigkeit und damit auch auf die Strukturierung von Inhalten auswirkt. Hat sich da möglicherweise ein Defizit entwickelt, mit dem man sich befassen müßte?

DW: Ich weiß nicht, ob sich da ein Defizit abbildet, aber es ist ganz eindeutig, daß unser Gehirn ein assoziatives Organ ist und daß seine kognitive Strukturen nur gewährleistet sind, wenn Informationen miteinander verknüpft werden. Erst daraus ergibt sich eine Art von Wissen oder Verständnis. Das bedeutet letztendlich, daß man Möglichkeiten zur assoziativen Verknüpfung in der kognitiven Struktur schaffen muß. Tue ich das nicht und stelle nur eine Art Durchlauferhitzersituation her, also ich lese, ich höre, ich spreche frei nach dem Motto der Journalisten "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern!", dann habe ich keine Möglichkeit, eine Denkstruktur und Vernetzung aufzubauen. Das heißt, das Wissen, das ich besitze, ist letztendlich ganz aktuell, aber nicht verfügbar in der Zukunft. Also die Vergangenheit abzuschalten, indem man sagt, das brauche ich nicht mehr zu wissen, geht gar nicht. Man muß eine Verknüpfung zwischen altem und neuem Wissen herstellen. Das muß unsere Gedächtnisstruktur leisten, damit man auch Fragen an die Informationen, die man irgendwo gelesen hat, provozieren kann. Sonst kann man das nämlich nicht.

Wie sich diese Wissenstruktur bildet, dafür sind wir nicht verantwortlich, weil wir das nicht beeinflussen können, aber wir können Rahmenbedingungen schaffen, in denen das aufgrund von Zeitfenstern und Fragestellungen überhaupt möglich ist. Das ist mein persönliches Ziel, und ich denke, es ist auch das Ziel der vielen Kolleginnen und Kollegen, genau diese Zeitfenster zu schaffen, damit eine Wissensvernetzung im Gehirn als Wissensbasis existent wird - und nicht nur flüchtige Informationen, die eigentlich keine Verknüpfung haben.

SB: Das erinnert an den allgemeinen Diskurs zum Thema Entschleunigung. Die Menschen merken immer mehr, daß sie von einer Produktivität aufgerieben werden, die sich nicht einmal besonders auszahlt, weil sie mehr verbraucht, als sie hergibt.

DW: An dieser Stelle muß man auch sehen, daß Energiehaushalt, körperliche Fitneß und Konstitution der Studierenden, die zwischen 20 und 25 Jahre alt sind, deutlich dazu geeignet sind, sich diesem Prozeß zu stellen. Je älter man wird, desto eher merkt man, daß man sich diesem Prozeß aufgrund der physischen Gegebenheiten nicht mehr stellen kann. Ich muß also ein Modell oder eine Strategie entwickeln, die meine Physis ins Verhältnis zu den Anforderungen stellt. Aber ich muß dieses Modell schon als Student gelernt haben, damit ich es später abrufen kann, wenn eine solche subjektiv empfundene Situation bei mir eintritt. Wenn ich kein diesbezügliches Modell habe, fühle ich mich schlecht und hilflos. Das heißt, man braucht auch Verhaltensmodelle für die Fragestellung: Wann bin ich überfordert, wie gehe ich mit Überforderung oder gegebenenfalls Unterforderung um? Mit diesen Fragen hatte es jeder in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten zu tun, aber dieses Mal kommt der Faktor Zeit hinzu, der die Überforderung auch noch in eine Beschleunigung hineinbringt.

SB: Sie sind auf dem Kongreß als einzige Frau aufgetreten, ansonsten treten nur männliche Referenten auf. Läßt das vielleicht auf einen spezifischen Zusammenhang zwischen Frauen und Informatik bzw. Informationstechnik schließen, oder würden Sie sagen, daß heute nur zufällig eine einzige Frau ans Rednerpult tritt?

DW: Ich glaube nicht, daß es zufällig ist. Wir haben bei uns in der Hochschule eine Fakultät Technik und Informatik, dort ist das Verhältnis Frauen zu Männern 1 zu 9. Es ist einfach so, daß es Themen in unserer Gesellschaft gibt, von denen männliche Jugendliche viel stärker angezogen werden als weibliche. Dennoch gibt es einen Wandel in diesem Bereich. Ich erinnere nur an Aktionen wie MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) oder die Initiative NaT (Naturwissenschaft und Technik), die hier in Hamburg gestartet sind, um Schülerinnen an diese Themen heranzuführen. Sie fangen allmählich an zu greifen, aber das Denken von Frauen und das Denken von Männern wird durch viele Erziehungsprozesse in Schule und Zuhause unterschiedlich konditioniert. Das heißt, wir müssen diese unterschiedlichen Konditionierungen in der Diskussion erst einmal abgleichen, um zu prüfen, ob wir die gleichen Zugänge zum Wissen haben, und wie erforderlich es ist, Themen in der gleichen Art zu diskutieren.

Frauen würden vielleicht eine ganz andere Art von Vortrag machen mit dem Inhalt: Ich will dich warnen. Daran sieht man, daß die Verteilung von Männern und Frauen bei dieser Diskussion nicht zufällig so ausfiel. Sicherlich gibt es einen Wandel, aber dieser Wandel muß aktiv gestaltet und bewußt gewollt werden, damit beide Geschlechter in ihrem subjektiven Zugang zu Wissen, zu Information, zu Kommunikation aufeinander zugehen und sich auch mit Respekt begegnen. Es muß gewährleistet sein, daß jemand aus seinem persönlichen Erfahrungsfeld an das Thema herangeht, während ein anderer mit einer Abstraktion kommt. Wo trifft sich das, wer ist eigentlich der Vermittler zwischen dem abstrakten Modell und dem empirischen Ansatz? Gibt es da eine Möglichkeit, sich zu verständigen oder gehen die Leute wieder auseinander, weil sie nicht den Zugang zueinander finden, weil der eine nicht vom Abstrakten aufs Gegenständliche transferieren kann und der Empiriker nicht in der Lage ist zu abstrahieren? Das ist einer der Punkte, die wir auch in der Hochschule intensiver in den Fokus nehmen müssen, um Frauen und Männern auf einer kommunikativen Ebene gleichermaßen Chancen zu geben, an diesem Diskussionsprozeß teilzunehmen.

SB: Frau Wenzel, vielen Dank für das Gespräch.


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unter dem kategorischen Titel "Suchmaschine" erschienen:

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26. Februar 2015


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