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INTERVIEW/014: Gebührenboykott - Bildungswert hat keine Münzen, Dora Heyenn im Gespräch (SB)


Bologna-Prozeß sabotiert den Bildungsanspruch und zermürbt die Studierenden

Telefoninterview am 7. April 2014



Die Pädagogin Dora Heyenn unterrichtet Biologie und Chemie an einer Schule in Hamburg-Tonndorf. Sie ist Vorsitzende der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft und Fachsprecherin für Schule, Wissenschaft und Umwelt. Dem Schattenblick beantwortete sie einige Fragen zum Boykott der Studiengebühren durch Studierende der Hochschule für bildende Künste (HfbK) und anderer Hochschulen der Hansestadt.

Vor Alsterpanorama - Foto: Linksfraktion Hamburg

Dora Heyenn
Foto: Linksfraktion Hamburg

Schattenblick: Frau Heyenn, am 10. April bringt die Linksfraktion den Antrag in die Hamburger Bürgerschaft ein, in Hinblick auf die an mehreren Hochschulen der Hansestadt gestundeten oder boykottierten Studiengebühren ein Mediationsverfahren einzurichten und die Vollstreckungsmaßnahmen bis Ende 2014 auszusetzen. Mit welcher Zielsetzung wird diese Initiative vorgetragen?

Dora Heyenn: Wir bringen dazu einen Antrag ein, aber melden es nicht zur Debatte an. Da wir immer nur eine Debatte pro Tag anmelden können, haben in dieser Hinsicht andere Fragen Vorrang. Aber der Antrag steht auf der Tagesordnung, und wir hoffen natürlich, daß sich inzwischen auch die Senatorin und die SPD eines Besseren besonnen haben und dem zustimmen.

SB: Welche weiteren Schritte werden daraus folgen?

DH: Weitere Schritte kann es nicht geben. Es handelt sich um den letzten Versuch hinzubekommen, daß die Nachforderung der Studiengebühren für die HfbK-Studierenden kollektiv niedergeschlagen wird. Mehr können wir parlamentarisch nicht tun. Wir haben dieses Thema ja schon als kleine Anfrage eingebracht, wir hatten es bereits einmal im Ausschuß, wir haben es in der aktuellen Stunde behandelt und jetzt bringen wir noch einmal einen Antrag ein. Parallel dazu ist ein Appell an die Senatorin gegangen. Es gibt eine Menge guter Gründe, dieses leidige Thema nun ein für allemal zu beenden und so etwas wie einen endgültigen Schlußstrich unter die Studiengebühren zu ziehen. Letztendlich ist es auch gar nicht Frau Stapelfeldt, die das im Grunde zu verantworten hat. Sie hat sich sehr dafür eingesetzt, daß - wenn auch mit einiger Verzögerung - die Studiengebühren in Hamburg abgeschafft worden sind.

SB: Wie kam es zum Engagement Ihrer Partei in dieser Frage?

DH: Wir haben einen sehr engen Kontakt nicht nur zur Behördenleitung, sondern auch zur Studierendenschaft. Das geht natürlich immer über die ASten, mit denen wir regelmäßig Gespräche führen. Dieses Anliegen ist uns vorgetragen worden, und wir fanden es sehr einleuchtend, zumal gerade die Absolventen der Hochschule für bildende Künste bekanntlich nicht zu denjenigen gehören, die sehr leicht gut dotierte Jobs bekommen. Sie sind doch häufig eher prekär beschäftigt und müssen sehen, daß sie über die Runden kommen. Wenn bei solchen Menschen Kontenpfändungen stattfinden, der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht und Schufa-Eintragungen vorgenommen werden, dann ist das existenzbedrohend.

SB: Wie sind die Positionen der anderen in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien hinsichtlich der Studiengebühren einzuschätzen? Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß die Studiengebühren weniger aus grundsätzlichen Gründen, als vielmehr in einer opportunistischen Reaktion auf den Protest und die öffentliche Meinung abgeschafft wurden.

DH: Nimmt man die Programmatik der Sozialdemokratie ernst, dann wäre es eine ganz klare Schlußfolgerung gewesen, daß die Sozialdemokraten Studiengebühren erstens gar nicht einführen und zweitens wieder abschaffen, wo es sie bereits gibt und ihnen das möglich ist. Das haben sie letztendlich in Nordrhein-Westfalen und dann auch in Hamburg gemacht, wenngleich mit einiger Verspätung. Es ist ein Grundsatz der Sozialdemokratie, daß Bildung sich nicht nach sozialen Voraussetzungen richten darf, sondern die Ungleichheit überwinden muß. Da sind wir uns mit der Programmatik der Sozialdemokraten ziemlich einig, aber der Punkt ist eben, daß man sie häufig daran erinnern muß, was in ihrer Programmatik steht.

SB: Zieht man in Betracht, mit welcher Vehemenz die Sanktionen gegen die Boykotteure vorangetrieben werden, drängt sich der Verdacht auf, daß es dabei um mehr als nur finanzielle Aspekte geht. Soll damit ein politisches Exempel auch zur Abschreckung anderer Studierender statuiert werden?

DH: Ich weiß nicht, warum ausgerechnet an der HfbK besonders stark vollstreckt wird, das ist mir ein Rätsel. Gerade aufgrund der ungünstigen Bedingungen, die Absolventen im künstlerischen Bereich haben, verstehe ich das nicht. Die Vermutung liegt natürlich nahe, daß hier ein Exempel statuiert werden soll, weil die Studierendenschaft der HfbK am heftigsten rebelliert und mit ihrem Boykott ein Zeichen in der Stadt gesetzt hat. Aber ob das der entscheidende Grund ist, müssen Sie die Senatorin fragen.

SB: Wenn man die Frage der Studiengebühren in einen größeren politischen Rahmen stellt, springt ins Auge, daß die Bildungspolitik in Schule und Hochschule vom Bologna-Prozeß massiv in Mitleidenschaft gezogen wird. Welche Möglichkeiten sehen Sie, verlorenen Boden wiedergutzumachen?

DH: Die besondere Problematik der Studiengebühren, gegen die es vor allem an der HfbK heftigen Protest und einen Boykott gegeben hat, hängt eng mit dem Bachelor-Master-System zusammen, das ja sehr stark verschult ist. Dadurch ist es jungen Menschen kaum noch möglich, neben einem Studium Geld zu verdienen. Das geht ja nur noch am Wochenende und das meist nachts in irgendwelchen Kneipen auf St. Pauli. Wir haben also die doppelte Problematik des Bachelor-Master-Systems, in dem keine Luft für irgend etwas anderes bleibt, und der Studiengebühren, so daß die Studierenden auf zweifache Weise belastet und sozial ausgegrenzt werden. Nimmt man dann noch die sehr schwierige Wohnungssituation für Studierende in Hamburg dazu, ist das schon ziemlich dramatisch.

SB: Im Zuge dieser Umwälzung des gesamten Bildungssystems werden auf seiten der Lehrenden und Lernenden buchstäblich ganze Denk- und Handlungsweisen entsorgt. Wie erleben Sie diese Veränderung in ihrer Arbeit als Pädagogin und wie bewerten Sie sie als Fachsprecherin der Linksfraktion für Schule und Wissenschaft?

DH: Ich kann Ihnen sagen, daß viele Schülerinnen und Schüler, nachdem sie das Abitur gemacht haben, erst einmal von der Schule so die Nase voll haben, daß sie entweder ein freiwilliges soziales Jahr, ein freiwilliges ökologisches Jahr oder Work & Travel machen, um erst einmal wieder Luft zu holen. Hinzu kommt, daß natürlich viele kein Einser-Abitur machen - das ist ja auch alles sehr hochstilisiert -, sondern ein ganz normales Abitur mit einem Schnitt von 2,0 oder 2,2, was früher ja schon überdurchschnittlich war. Die überlegen sich, ob sie überhaupt ein Studium anfangen sollen. Denn sie laufen ja Gefahr, nach einem Bachelor-Studium gar keinen Masterplatz mehr zu bekommen, weil sie vielleicht einen Bachelor mit 2,5 abschließen und dann gar keine Chance auf ein weiterführendes Studium haben. Es gibt kaum ein Studium, mit dem man ohne Masterabschluß wirklich so qualifiziert ist, daß man in einem entsprechenden Job arbeiten kann.

Daher haben wir in Hamburg die Situation, daß über 50 Prozent aller Ausbildungsplätze von Abiturienten eingenommen werden. Es findet eine Verdrängung statt, weil viele Schülerinnen und Schüler, die kein exzellentes Abitur schaffen, einfach Angst haben zu studieren, weil sie nicht wissen, ob sie nicht nach dem Bachelor abgehängt sind. Also machen sie lieber erst einmal eine Banklehre oder sonst irgend etwas, damit sie etwas in der Hand haben. Damit verdrängen sie die guten Realschüler, und das ist natürlich eine ganz gefährliche Tendenz.

SB: Wir hörten im Gespräch mit AStA-Mitgliedern der HfbK, daß im Lehrkörper viele Vertreter der älteren Generation buchstäblich das Handtuch geworfen haben, weil sie sich mit ihrer Auffassung von Bildung nicht mehr vertreten fühlten. Zugleich ist offenbar eine neue Generation von Studierenden nicht mehr fähig oder bereit, sich weitergehenden Inhalten zu widmen, geschweige denn politische Positionen zu entwickeln.

DH: Die 68er Generation der Lehrerinnen und Lehrer hat einen bestimmten Anspruch an Bildung, auch an wissenschaftliche Ausbildung an Hochschulen. Dieser Anspruch ist durch den Bologna-Prozeß so gut wie ausgehebelt worden. Daß diese Generation dann konsequenterweise keinen Sinn mehr in ihrer Tätigkeit sieht, ist nur zu verständlich. Hinzu kommen tiefgreifende Veränderungen auf seiten der Studierenden. Ich bin neulich nach einer Veranstaltung beim Interreligiösen Beirat über den Campus zum Dammtor gegangen. Auf dem Unigelände standen immer so Grüppchen von drei bis fünf oder sechs Studierenden. Und wissen Sie, ich habe die ganze Zeit nur "Credit points", "Klausuren", "Note sowieso" gehört, nur solche Sachen. Die stehen derart unter Druck und haben einen so engen Zeitplan für ihr Studium, daß ihnen überhaupt keine Luft mehr für irgend etwas anderes bleibt. Diese Form des Bachelor-Master-Studiums hat zweifellos eine stark apolitisierende Wirkung. Die meisten Studierenden sehen überhaupt nicht, daß sie auch nur ein bißchen Zeit hätten, um sich politisch zu informieren, von Engagement gar nicht zu reden.

SB: Sie haben einen persönlichen Bezug zur Kunst, da sie mehrere Fachbücher zum Thema Keramik veröffentlicht haben wie auch als Galeristin tätig waren. Erforderte nicht gerade ein Studium an der HfbK größere Freiheitsräume, um eine künstlerische Ausbildung zu gewährleisten?

DH: Das gilt natürlich insbesondere für die Kunst, und insofern ist es auch kein Wunder, daß es ausgerechnet an der Kunsthochschule diesen Boykott gegen Studiengebühren gab. Wenn man künstlerisch tätig ist, braucht man natürlich besonders viele Freiräume, und diese Freiräume sind durch das Bachelor-Master-System sehr stark eingeengt. Das gilt aber auch für die anderen Studiengänge. Ich selbst habe Chemie und Biologie studiert, Erziehungswissenschaften sowieso, aber ich habe mir die Freiheit genommen, auch noch Philosophie zu studieren, ohne daß ich da viele Scheine machen wollte. Ich wollte mich einfach nur orientieren, den Horizont erweitern und die Naturwissenschaften aus einer anderen Perspektive betrachten. Dafür ist heute in diesen verschulten Studiengängen überhaupt kein Zeitfenster mehr offen. Früher fing man erst einmal an zu studieren, orientierte sich und nahm dafür einen gewissen Freiheitsrahmen in Anspruch. So etwas ist längst nicht mehr möglich, und insofern ist der Protest der Studierenden der Hochschule für bildende Künste natürlich ein Symptom, das auf die grundsätzlichen Mißstände hinweist.

SB: Frau Heyenn, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

Bisherige Beiträge zum Thema Boykott der Studiengebühren im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → TICKER:

CAMPUS/001: Offener Brief - versprochen, gebrochen ... 1 (AStA HfbK, GEW Hamburg, Kanzlei 49)
CAMPUS/002: Offener Brief - versprochen, gebrochen ... 2 (AStA HfbK)

sowie unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → REPORT:

BERICHT/032: Gebührenboykott - Strafen und Exempel (SB)
INTERVIEW/013: Gebührenboykott - parteiverdrossen, kampfentschlossen ... Marion Meyer und Martin Klingner im Gespräch (SB)

9. April 2014