Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → REPORT

INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)


Interview mit Petra Gehring am 14. Mai 2011 in Hamburg


Die Philosophin, studiert hat sie auch Politologie und Rechtswissenschaft, Petra Gehring lehrt an der TU Darmstadt Philosophie. Unter anderem als Autorin von Publikationen wie "Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens" (2006), "Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung" (2008) und "Theorien des Todes. Zur Einführung" (2010) hat sich Petra Gehring umfassend mit den gesellschaftlichen Bedingungen und kulturellen Grenzbestimmungen menschlicher Existenz befaßt. Beim Kongreß "Die Untoten" war sie mit zwei Vorträgen und einem Workshop vertreten.

Petra Gehring - Foto: © 2011 by Schattenblick

Petra Gehring
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Frau Gehring, wie würden Sie Ihr Selbstverständnis als Philosophin darstellen, wenn Sie sich, wie heute morgen im Workshop zum Thema Wachkoma, mit Menschen zusammensetzen, die nicht aus den Wissenschaften kommen, und Sie sich eher beratend und moderierend in die Runde einbringen?

Petra Gehring: Ob das Selbstverständnis, auch so etwas zu machen, philosophisch oder politisch ist, möchte ich jetzt gar nicht entscheiden. Auf jeden Fall gehört beides für mich zusammen. Es zählt zu den Dingen, die ich an der Philosophie liebe, daß sie so ein wildes Fach ist. Sie ist einerseits Wissenschaft - mit der Mathematik und der Musik gehört sie ja zu den ältesten Wissenschaften überhaupt. Und die Philosophie ist von ihrem Anspruch und Anliegen her eine strenge Disziplin. Andererseits will sie auch mit Welt zu tun haben. Das, wovon sie redet, muß sie kennen. Das altgriechische philosophia kann man ziemlich treffend mit "Neugier" übersetzen. Deswegen sollten wir Philosophen auch wissen wollen, wie andere das sehen und wie das funktioniert, wirkt und sich anfühlt, wovon wir als Theoretiker reden. Ich habe immer versucht, mein Verstricktsein in Dinge nicht ganz aufzugeben, wenn ich an den Schreibtisch gegangen bin. Man kommt schließlich nicht als Theoretiker auf die Welt, sondern löst sich umgekehrt ein Stück weit aus der Welt heraus, um nachzudenken, um in Lektüren und Archive und abstrakte Dinge einzusteigen. Die Frage läuft dann immer mit, wieviel Hautkontakt zur Welt man trotzdem halten und behalten will.

Andererseits ist mir aber natürlich auch wichtig, innerhalb der Wissenschaft das zu tun, was Akademiker interessant finden und das Fach voranbringt. Das ist elementar für ein Fach. Auch dann ist aber mein Traum von Philosophie, Texte so zu verfassen, daß sie sowohl für den Expertendiskurs gewinnbringend sind als auch gut lesbar sind und Leute, die keine akademische Ausbildung haben, anziehen und bewegen. Texte sollten sich in beiden Welten mitteilen können.

SB: Können Sie sich vorstellen, daß die Philosophie in einem politischen und demokratischen Sinne stärker in Erscheinung tritt? In Anbetracht der Dominanz der Naturwissenschaften ist die ursprüngliche Leitwissenschaft ein wenig in den Hintergrund geraten. Wäre über eine in Ihrem Sinne breitere Rezeption möglicherweise eine gesellschaftliche Neupositionierung der Philosophie zu erreichen?

PGG: Vielleicht, aber das entscheide nicht ich und das entscheiden auch nicht die Philosophen, sondern die Zuhörer, Leser, Diskutanten und Diskutantinnen. Je schwungvoller und direkter die Nerven wichtiger Dinge durch die Philosophie berührt werden, desto größer wird die Anzahl von Menschen sein, die mit ihr etwas anfangen können und daraus etwas machen. Insofern kann da durchaus etwas zusammenkommen. Es wäre schön, wenn das gelingt. Als Fachphilosophin glaube ich jedoch nicht, daß das Fach von sich aus beschließen sollte, sich "angewandter" aufzustellen. Ich mißtraue dem Wort "angewandt" - der Idee einer "angewandten" Theorie oder einer "angewandten" Ethik. Erstens steckt in der Idee der "Anwendung" von Theorie eine gewisse Herablassung, etwas Besserwisserisches: der Experte liefert Rezepte oder - noch schlimmer - er moralisiert. Zweitens halte ich die Idee, eine Art "Philosophie light" zu machen, damit sie besser ankommt, für ganz fatal. Dadurch wird an der Philosophie zerstört, was sie im Grunde ausmacht. Außerdem verkauft es die Leute für dumm. Es läuft darauf hinaus, ein bestimmtes Zielpublikum mit einer quasi-intellektuellen Werbekampagne zu überrollen. Ob nun im Kamera-Kurzformat, als Politikberatung oder als schicke Esoterik - man wirft den Zuhörern komplexe Dinge leichtverdaulich vor die Füße . Das finde ich unseriös und auch politisch nicht vertretbar.

Ich versuche, meine Rollen nicht zu vermischen. Wenn ich nicht wirklich als Fachwissenschaftlerin auftrete, versuche ich klarzumachen, daß ich nicht als eine solche rede - dann aber auch nicht mehr weiß als die Menschen um mich herum. Lieber trage ich verschiedene Hüte, als daß ich als Philosophin unausgesprochen den Anspruch mit mir herumtrage, alles zu können: "Einerseits bin ich eine von Euch, andererseits aber total anders , weil ich unheimlich viel weiß...": Diese Art von Allmachtsphantasien pflegen Philosophen gerne.

SB: Würde unter "Philosophie light" Ihrer Meinung nach auch das fallen, was zum Beispiel im Fernsehen von Herrn Sloterdijk und Herrn Safranski vorgetragen wird?

PGG: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Sloterdijk ist ein seriös ausgebildeter Wissenschaftler und kluger Kopf. Ich empfehle, ihn zu lesen. Die TV-Sendung kenne ich leider nicht. Ich bin aber nicht der Meinung, daß bestimmte Medien per se verdächtig sind. Massenmedien, in denen man Gedanken transportieren kann, wandeln sich mit den vorherrschenden Formen des Kommunizierens. Auch die Medien der Philosophie haben sich im Laufe der Jahrtausende verschiedentlich geändert, vom Gespräch über den Brief zum Buch, zur Zeitschrift, zum Radiovortrag etc. Über bestimmte Formate oder Medien von vornherein die Nase zu rümpfen, finde ich nicht angebracht. Kritisieren sollte man besser jeweils diese Sendung, diesen Beitrag, jenen Text.

Auch innerhalb der Akademien und Universitäten gibt es viel Unsinn - und es kann unheimlich spritzig und spannend und raffiniert zugehen an ganz ungewöhnlichen Orten, an denen Gedanken oder auch Theorien geäußert werden. Der Philosophie tut es gut, sich nicht von vornherein auf bestimmte Formate festzulegen. Allerdings gibt es klare Grenzen, die sind ganz simpel und haben mit Zeit zu tun: In einem Drei-Minuten-Statement läßt sich nichts Tiefgreifendes sagen.

SB: Ich möchte gerne an Ihren gestrigen Vortrag anschließen, wo sie über das 18. und 19. Jahrhundert und die Einführung des Begriffs "Bevölkerung" referiert hatten. Wie bewerten Sie den Umstand, daß die Bevölkerung einerseits in den Fokus des staatlich-administrativen Zugriffs geriet, während sie andererseits dem Markt als einer vom Staat losgelösten Handlungssphäre überantwortet wurde? Für mich scheinen das gegenläufige Tendenzen zu sein.

PGG: Diese Frage kann ich jetzt im Grunde genommen nicht seriös beantworten. Man müßte in sehr viele historische Einzelheiten gehen. Ganz grob gesagt sind es verschiedene Stränge der Moderne, die schon im 19. Jahrhundert verflochten sind, aber deren Ursprünge auch älter sind. Der Begriff der Bevölkerung stammt aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, während das Thema Markt deutlich weiter zurückreicht. Es sind verschiedene Fäden des großen Geflechts der Moderne (mit verschiedenen Autoren, Disziplinen und auch Hauptproblemfeldern), für die bestimmte Theorien und Methoden zugeschnitten sind. Die marktliberale Ökonomie hat im 18. Jahrhundert ein partiell anderes Methodenwerkzeug entwickelt als die Soziologie der Population (und der Populationssteuerung) im ausgehenden 19. Jahrhundert, obwohl das Thema Bevölkerung in beiden Feldern von großer Bedeutung ist. So war die frühe Populationswissenschaft eine teils regierungstechnische, teils wirtschaftliche und teils (proto)soziologische Domäne.

SB: Das Thema Selbstoptimierung wird in der Medizin immer stärker präsent, auch in dem Sinne, daß der Einzelne immer mehr für sein körperliches Befinden verantwortlich gemacht wird, zum Beispiel wenn die Prämien von Versicherungen für Übergewichtige erhöht werden. Gleichzeitig bricht der Anspruch auf Autonomie an gesellschaftlichen Zwängen. Wie bewerten Sie diese mit dem Neoliberalismus einhergehende Ideologie einer Selbstoptimierung, die im Grunde eine Bezichtigung darstellt?

PGG: Der oder die Einzelne steckt in einer ziemlichen Zwickmühle: Wir sollen "autonom" sein auch und gerade dort, wo wir das tun müssen, was der Gemeinschaft nutzt. Das Prinzip Sozialversicherung beruht, ganz grob gesagt, ökonomisch, aber eben auch ideologisch auf der Idee einer Solidargemeinschaft, aber Gemeinschaft heißt: Wir haben Regeln. Und das Individuum muß seine Selbstbestimmung mit den Verhaltensdaten dieser statistisch (das heißt an Standard-Individuen) maßnehmenden Regeln überblenden. Ein Beispiel für einen Konfliktfall ist die moderne Politik einer Public Health: Wie wir alle spüren können, steigt die Granularität der Anforderungen, die für jede/n von uns aus der Teilhaberschaft an einem sozio-ökonomischen System - hier: dem Gesundheitsystem - resultieren. Wir sollen nicht rauchen, nicht dick werden, Alkohol und Tabletten auf ein Minimum beschränken. Die Zumutung lautet: Lebe gesund, sonst wirst du mindestens ermahnt, wird deine Behandlung schlechter sein, wird deine Versicherung teurer.

Und neben der "neoliberalen" Perspektive der Kostenersparnis haben wir ja noch eine zweite Perspektivierung desselben Themas, nämlich diejenige - und die kommt politisch nicht aus der liberalen, sondern aus der linken Ecke -, daß Gesundheit und Krankheit ungleich verteilt sind, daß es ein Armutsphänomen ist, ungesund zu leben. Aus dieser Sicht müssen aus Gerechtigkeitsgründen Mittel gefunden werden, diejenigen, die ungesund leben, dazu zu bringen, gesünder und damit auch länger zu leben. Man kann heute statistisch zeigen, daß arme Leute aufgrund ihres Lebensstils in Deutschland etwa zehn Jahre früher sterben als wohlhabende. Fordert die engagierte linke Sozialmedizin, diese Lage zu verändern, kann sie ebenfalls nicht anders als Forderungen stellen: Mehr Bewegung, weniger Alkohol, gesünder essen, geregelter Tagesablauf etc. So treffen sich zwei ganz unterschiedliche Perspektiven - die der Kostenersparnis und die der sozialen Gerechtigkeit. Im Grunde genommen laufen beide darauf hinaus, dem Einzelnen um seiner Selbst willen wie auch um des gesamten Finanzflusses im System willen beizubringen, daß er oder sie sich anders verhalten muß.

Ich sehe beides mit Sorge. Ich kann die Logik, durchschnittlich neun oder zehn Jahre früher zu sterben sei eine Diskriminierung, gut verstehen. Man möchte das politisch angehen. Wir können uns nicht damit abfinden, daß Reiche einfach deswegen länger leben, weil sie im Wohlstand leben. Auf der anderen Seite sind Umerziehungsprogramme eine Einschränkung. Über Geld Druck auszuüben, also höhere Krankenkassenbeiträge für ungesundes Leben zu fordern, ist brutal . Auf der anderen Seite lautet das klassische Freiheitsargument: Na gut, wenn es beim finanziellen Druck bleibt, wird wenigstens nicht durch Erziehungs-, Beratungs- oder sonstige Programme der ganze Lebensstil "therapiert" und mit Glück kann ich mich irgendwie freikaufen.

Es ist extrem schwer, sich zu diesem Themenkomplex politisch zu stellen. Wenn ich argumentiere, es ginge die ganze Lebensmanagementmaschinerie nichts an, ob ich gesund oder ungesund lebe, dann muß ich mir den Vorwurf gefallen lassen, daß es mir offenbar auch egal ist, daß die Armen neun Jahre früher sterben und daß ich die dicken Kinder eben dicke Kinder sein lasse.

Und man muß sich unter Umständen das Argument gefallen lassen, das sei doch neoliberal. Dieser Typ von Freiheit - alles zu dürfen - sei keine Freiheit. Es gibt diesen berühmten Spruch: Das Verbot, keiner dürfe unter Brücken schlafen, ist für den einen eine andere Freiheitseinschränkung als für den anderen. Natürlich stellt diese Mehrfachzwickmühle rund um das "autonome" Individuum ein hochmodernes Syndrom dar. Als möglichst einheitliche Gutmenschen, als die wir uns fühlen wollen, können wir vom Repertoire unserer politischen Perspektivierungen her eigentlich keine zufriedenstellende Perspektive dazu finden - im Kopf jedenfalls nicht.

Was der Bauch sagt, ist etwas anderes. Ich sehe die Diskriminierungseffekte vor allem an dem Punkt, wo das Argument, das eine sei ungesund und das andere sei gesünder, die Vielfalt der Möglichkeiten zu leben einschränkt und man feinen, normalisierenden Bewertungsrastern unterworfen wird, indem dennoch Angebote für bestimmte Wahlentscheidungen damit verknüpft sind. Wir sollen Sport treiben, beginnen das aber attraktiv zu finden, weil es einen wachsenden Markt der Angebote dafür gibt, weil es schick ist, sich auf dem Spielbrett der normalen Möglichkeiten zu positionieren, weil meine diesbezüglichen Wahlentscheidungen zum "Identitätsthema" werden. Ich bin eine Gegnerin der Unterscheidung von gesünder und weniger gesund. Ich finde, daß die ganze Besessenheit unseres Alltags vom Problem der Lebensdauer zu einer sehr eigenartigen Lebensevaluationslogik gehört. Ich habe das gestern zu beschreiben versucht. Natürlich sehe ich aber auch die Gegenargumente, gegen die ich nur auf einer sehr grundsätzlichen Ebene etwas einwenden kann. Insofern muß ich mir vorhalten lassen, es sei eine zynische Position, das Public-Health-System mit seinen vielen Helfern davon abzuhalten, die Verhältnisse für die Leute endlich besser zu machen, als sie sind.

Es ist ein altes Problem der Aufklärung, daß sie ihre eigene Gewalt nicht merkt. Bildung, Erziehung usw. haben immer mit Macht und oft auch mit Brutalität zu tun. Es ist zwar eine subtile Gewalt und auch eine Gewalt, die irgendwie zum Guten des Betroffenen eingesetzt wird, aber es ist und bleibt eine Ambivalenz des Erziehens: Eigentlich kann man etwas daran nicht wirklich wollen. Man kann das Kind verstehen, das sich wehrt.

SB: Sehen Sie in den biomedizinischen Innovationen, die mit einer differenzierteren Bewertung des Lebens parallel gehen, eine vor allem ökonomisch forcierte Entwicklung oder ein eher übergeordnetes politisches Interesse, was man im administrativen Sinne vielleicht als eine Investition ins Humankapital einer Gesellschaft beschreiben könnte?

PGG: Natürlich gibt es ökonomische Interessen. Eine Gesellschaft wie unsere kodiert alles - zumindest auch - nach ökonomischen Gesichtspunkten. Kapital ist ein Werkzeug, mit dem wir Veränderungen und Innovationen dynamisieren und real machen können. Aber ich glaube, die Frage der Biopolitik und auch der Bio-Ökonomie reicht tiefer. Es geht schon ein Stück weit um das Leben selbst. Der Lebensstoff selbst funktioniert wie ein allgemeines Äquivalent. Wenn wir verbessern, steigern, stärker ausreizen, was im Leben stecken könnte, geht es nicht nur um wirtschaftlichen Profit, sondern um ein "Mehr" an Leben, mehr als es - mir, uns, den kommenden Generationen - bisher möglich war. Da ist die finanzielle oder, im engeren Sinne, die kapitalorientierte Ökonomie nur Mittel zum Zweck. Sie läuft nebenher mit, aber der Fluchtpunkt ist biopolitischer und nicht generell kapitalistischer Art.

SB: Wo siedeln Sie die Triebkräfte dieses biopolitischen Zugriffs an bzw. welches Interesse lenkt nach Ihrer Ansicht diese Art von Optimierung des Menschen?

PGG: Es gibt da nicht irgendwo eine Gruppe von Finsterlingen, die im Hintergrund die Fäden zieht. Mit Verschwörungstheorien kommt man nicht weiter. Im Grunde sind es wir alle. Die Gier nach Leben ist eine klassenunabhängige Gier. Es ist dieses Begehren nach den physischen Optionen, die noch ungenutzt sind. Wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Ausmaß Biotechniken und die Angebote von Gesundheit und Schönheit greifen: Das funktioniert bottom-up, stimulierbares Begehren lodert auf und selbst absurde Angebote verfangen sofort - man schaue sich den Sport- und Bodyshapingboom an, den Kampf gegen das Alter, gar den von transhumanistischen Spinnern ausgerufene Krieg gegen den Tod: Das wird niemandem aufgezwungen, das ist gewollt und ersehnt und wird sozusagen zu einem Spiel, vielleicht sogar zu einer Sucht der Beteiligten. Biopolitik ist ein Mitmachabenteuer. Diese Lebenssteigerungsszenarien und das, was wir uns alle davon versprechen, sind offensichtlich von der Art, daß wir uns darauf einlassen.

Manchmal denke ich, diese Phänomene ließen sich vielleicht sogar in religionssoziologische Kategorien fassen. Natürlich ist der Glaube ans Leben kein Monotheismus. Dieses Begehren hat aber dennoch durchaus etwas Fanatisches. Es richtet sich auf ein Imaginäres, das zwar in der Welt verteilt scheint und insbesondere eben biostofflich anfällt, aber das Eigentliche daran sind diese Potentiale. Der Glaube an das Potential der Potentiale: Liegt darin eine Art Transzendentes? Möglicherweise ist hier durchaus eine religiöse Komponente mit im Spiel, religiös in einem sehr weiten Sinne.

SB: In den Sterbehilfe-Richtlinien der Bundesärztekammer wird die Beihilfe zum Suizid nicht mehr als unethisch bezeichnet, sondern dem Arzt mehr oder minder als mögliche Option freigestellt. Das ethische Verbot der Beihilfe zum Suizid scheint in dieser Formulierung gefallen zu sein.

PGG: Die im Januar 2011 vorgelegten Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung haben in der Tat eine neue Formulierung für diesen kritischen Punkt gewählt. Sie lautet: "Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe". Bisher hieß es: "Aktive Sterbehilfe ist unzulässig und mit Strafe bedroht, auch dann, wenn sie auf Verlangen des Patienten geschieht. Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein." Auf der juristischen Feinwaage ist der Unterschied zwischen beiden Formulierungen im Ergebnis gewaltig. Was keine ärztliche Aufgabe ist, widerspricht nicht dem ärztlichen Ethos (und also den Standesregeln), wenn Ärzte es dennoch tun. Aus meiner Sicht läuft die neue Formulierung auf eine dramatische Lockerung hinaus. Bedeutsam ist dies, weil Sterbehilfeorganisationen vom Schlage Dignitas oder Exit, wie sie in der Schweiz tätig sind, bisher nicht mit approbierten deutschen Ärzten kooperieren konnten. Deutsche Ärzte würden ihre Approbation verlieren, wenn sie sich beteiligten. Mit der neuen Formulierung - würde die Ärzteschaft ihre Berufsordnung ensprechend anpassen - ist das nicht mehr so klar.

Die Berufsordnung soll just in der nächsten Zeit auf dem Ärztetag in Kiel diskutiert und renoviert werden. Es sah zunächst so aus, als ob nach den Grundsätzen dann auch die verbindlichen Regelungen für Ärzte umgeschrieben würden. Nach einer öffentlichen Debatte in den letzten Wochen hat der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, mitgeteilt, daß der einschlägige Punkt in der Beschlußvorlage für Kiel nun doch anders lauten wird als ursprünglich vermutet. Man will die Mitwirkung beim assistierten Suizid ausdrücklich ausschließen. Ich bin froh, wenn dieses Türchen jetzt doch geschlossen bleiben wird. Es gibt freilich noch eine ganze Reihe anderer Neuerungen in den "Grundsätzen" von 2011, die es sich genau anzuschauen lohnt. So lassen sich jetzt auch Demente unter diejenigen Patienten fassen, bei denen die sogenannte "Änderung des Behandlungszieles", also der Therapieabbruch, geboten sein kann - und zwar wenn sie sich weder im Sterben befinden noch ihr Sterben bereits absehbar ist. Offensichtlich wollte man - neben dem assistierten Suizid - in Kiel die Diskussion auch über solche Punkte nicht führen.

SB: Frau Gehring, vielen Dank für das Gespräch.

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)

Petra Gehring mit SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Petra Gehring mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

25. Mai 2011