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BERICHT/042: Graphic Novel - kreative Ideale ... (SB)



Geschichten vom Rande des Comic Universums ...

Die Zeiten, in denen Comic Bücher vor allem in Kinder- und Jugendzimmern zu finden waren, sind lange vorbei. Große Comicverlage wie Marvel und DC arbeiten schon seit Anfang der 90er Jahre daran, ihre Superhelden Universen an ein erwachsenes Publikum anzupassen. Spätestens seit der Batman Filmreihe "The Dark Knight", die mit ihrer grimmigen und realistischen Darstellung des Verbrechensbekämpfers und seiner Gegenspieler mehrere Oscars gewann und weltweit über eine Milliarde Dollar einspielte, ist auch dem Massenpublikum endgültig klar, dass die Welten der Bildromane längst dem Kinderzimmer entwachsen sind.

Abseits der Industriegiganten, die zusammen Woche für Woche hunderte neue Comics auf den Markt bringen, existiert eine Szene, in der die Uhren etwas langsamer ticken. Zumeist in kleineren Auflagen und zu höheren Stückpreisen, zeichnen Künstler, Illustratoren und Autoren sogenannte "Graphic Novels", Comics im Buchformat. Im Gegensatz zu den sich endlos fortsetzenden Serien über Spiderman, Hulk und Co., werden in einer Graphic Novel eigenständige und in sich abgeschlossene Geschichten im Stil eines Romans erzählt. Die künstlerische Freiheit, welche das Medium bietet, liegt nicht nur im Zeichenstil. Im Gegensatz zum klassischen Comic mit einer klaren Seitenaufteilung kann hier die gesamte Bildfläche als Kommunikationsmedium für die Geschichte genutzt werden und bietet damit wesentlich mehr Möglichkeiten der Gestaltung und Erzählung. Beispiele für die vielen Gesichter, die eine Graphic Novel annehmen kann, wurden bei der 6. Zusammenkunft der Graphic-Novel-Tage im Literaturhaus Hamburg gezeigt. Unter dem Titel "Prominenz braucht Phantastik" stellte Moderator Andreas Platthaus die Arbeiten zweier Künstlerinnen vor, die ihre Geschichten in ganz unterschiedlicher Weise erzählen.

Zunächst durften wir das Werk der kanadischen Trickfilm-Animatorin Sydney Padua bestaunen, die mit dem rund 300 Seiten starken Buch "The thrilling adventures of Lovelace and Babbage" ihr Debut in der Welt des Comics gab. Erzählt wird darin die, teils auf wahren Begebenheiten basierende, teils erdachte Geschichte der beiden britischen Mathematiker Ada Lovelace und Charles Babbage und der von ihnen entworfenen Differenzmaschine. Jene Maschine, die tatsächlich Mitte des 19. Jahrhunderts von den zwei Mathematikern modelliert wurde, konnte durch komplexe Mechanik ein Näherungsverfahren anwenden, wie es heute in moderner Simulations- und Berechnungssoftware zur Anwendung kommt und war damit einer der ersten Computer der Geschichte. Padua, die hauptberuflich als Trickfilm Animatorin für eine Reihe namhafter Special-Effects und Animationsstudios arbeitet, begann schon im Jahr 2009 mit den Recherchearbeiten zum Leben von Lovelace und Babbage und ihrer Differenzmaschine. Im Lauf der folgenden Jahre entwickelte sie sich zu einer echten Expertin für die Maschine und ihre Funktionsweise, was sich in ihrer Graphic Novel wiederspiegelt. Das Buch ist eine Mischung aus klassischem Comic, in dem die Geschichte über Bilder und Texte in Sprechblasen erzählt wird und teils mehreren Seiten langen Fußnoten, in denen Padua die wissenschaftlichen Zusammenhänge und den historischen Hintergrund des Geschehens erläutert. Dabei überschreitet ihr Buch leichtfüßig die Grenzen zwischen Comic, Roman und Sachbuch und verquickt diese auf kreative und lustige Art und Weise. Die Möglichkeit für so intensive Recherchearbeiten, den detailverliebten Zeichenstil sowie die mutige Unternehmung, mit den klassischen Regeln des Comic Genres zu brechen, hatte Padua nur, weil sie das Buch in ihrer Freizeit und als Hobby entwickelte. Da sie somit an keine Auflage seitens des Verlages oder einer Wertschöpfungskette gebunden war, konnte sie ein unheimlich spannendes Werk schaffen.

Im Kontrast dazu stehen die Arbeiten der deutschen Illustratorin Anna Haifisch. In ihren Büchern "Von Spatz" und "The Artist" arbeitet sie im vergleichsweise klassischen Comic Format mit 6 Paneelen pro Seite und zeigt dennoch eine ganz eigene Form der Erzählung. Ihre Charaktere sind an die bekannten, anthropomorphen Tierwesen Donald Duck und Mickey Mouse angelehnt, dabei jedoch so stark abstrahiert und verzerrt, dass man diese Abstammung nur erahnen kann. Der Zeichenstil ist schrill und flächig mit Gelb, Orange, Rosa und Weiß als Hauptfarben. Im Gegensatz zu Padua, die ihr Buch vollständig in Photoshop kreiert hat, zeichnet Anna Haifisch mit Pinsel und Tusche, und die dadurch entstehenden Ungenauigkeiten wie verwischte Randlinien am Ende jeder Seite werden bewusst nicht korrigiert. Sie sind, im Gegenteil, ein charakteristisches Merkmal ihrer Arbeiten geworden, von dem sich sogar der ein oder andere Käufer schon provoziert gefühlt hat. Die Geschichten, die Anna Haifisch durch ihre Figuren erzählt, wirken teils autobiographisch aus den Erlebnissen der Künstlerin entnommen, immer jedoch ein wenig philosophisch und genau beobachtet. Ihre gezeichneten Welten sind ein wenig schief und ein bisschen gemein, aber mit einem charmanten Humor ausgestattet, der sich keinem gefälligen Mainstream andient.

So unterschiedlich die Arbeiten der beiden Künstlerinnen auch sind, sie ähneln einander in einem Punkt doch sehr: Nach Gesichtspunkten der kapitalistischen Wertschöpfung dürften diese Arbeiten nur geringe Chancen bieten, ihnen den Lebensunterhalt zu verdienen. Hier lässt sich eindrücklich erkennen, in welchem Gegensatz der inhaltliche Mehrwert einer künstlerischen Arbeit zum wirtschaftlichen Mehrwert steht. Sydney Padua konnte eine exzellent recherchierte und liebevoll gezeichnete Graphic Novel erschaffen, weil sie hauptberuflich in der Kreativindustrie für Giganten wie Walt Disney arbeitet, während Anna Haifisch für ihre abstrakte Nischenkunst nur durch glückliche Zufälle eine größere Leserschaft gewinnen konnte und von dem Medienkonzern VICE gefördert wird. Dabei sind es gerade der Detailreichtum, die kreativen Abweichungen und die geistigen Nischen, die jene Phantasiewelten, in die wir aus unserem Alltag fliehen, so attraktiv machen, und so sollten sie weder den Gesetzen der Schwerkraft noch des Geldes unterworfen sein.



Anna Haifischs Website: http://hai-life.com/

Sydney Paduas Website: http://sydneypadua.com/

6. Hamburger Graphic Novel Tage - Anna Haifisch und Sydney Padua: Prominenz braucht Phantastik, Moderation: Andreas Platthaus, am 31. Mai 2017 im Literaturhaus Hamburg

20. Juni 2017


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