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BERICHT/029: "Die Untoten" - Synthetische Biologie - die Ursuppe noch einmal umgerührt (SB)


Sandkastenspiele mit höchstem wissenschaftlichen Anspruch

Die Synthetische Biologie verspricht den Schöpfungsakt des Lebens und die Lösung globaler Menschheitsfragen

Christopher Coenen und Michael Liss präsentieren die Synthetische Biologie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Christopher Coenen (li.) und Michael Liss (re.) präsentieren die Synthetische Biologie
Foto: © 2011 by Schattenblick

Im heutigen Wissenschafts- und Kulturbetrieb ist es wie auch in Politik und Gesellschaft vollkommen unattraktiv geworden, den weltweiten Mangel an Nahrungsmitteln und auch aller übrigen Sourcen des Lebens anzusprechen oder ernsthaft zu thematisieren. Wer in einer Enklave des relativen Wohlstands lebt und insofern von einer Raubstruktur profitiert und an ihr beteiligt ist, ohne die das scheinbar lautlose Sterben elender und hungernder Menschen in anderen Regionen der Welt kaum zu erklären ist, möchte nicht wissen oder daran erinnert werden, daß sich die Menschheit längst zu einer kannibalistischen Spezies entwickelt hat, die sich wie kaum eine andere Lebensform zu Lasten der eigenen Art am Leben erhält.

Wissenschaften, mögen sie auch noch so sehr in Natur-, Geistes- und sonstige Bereiche unterteilt und in unüberschaubar viele Disziplinen ausdifferenziert worden sein, stehen in diesem Kontext keineswegs neutral am Zenit der Beobachtung und Regulierung, sondern können als Instrumente in Händen derer aufgefaßt werden, die die immer ungleichere Verteilung des Mangels nicht nur militärisch durchsetzen, sondern mit weiteren Mitteln absichern und verfeinern. Eine nicht unerhebliche Funktion des Wissenschaftsbetriebs besteht darin, über den tatsächlichen Frontverlauf Unklarheit herzustellen und im übrigen in jeder nur erdenklichen Weise Hoffnungen und Lösungsversprechen zu generieren. Die Nichteinlösung früherer, zu eben solchen Zwecken aufgestellter Perspektiven wird seitens der Wissenschaft selbstverständlich niemals thematisiert oder auch nur konstatiert; damit liefe man Gefahr, die Systematik und Zielsetzung dieses disziplinübergreifenden Vorgehens erkennbar zu machen.

Die einzige Antwort auf die Nichterfüllung vorheriger Lösungsvorgaben besteht in deren zusätzlicher und fortgesetzter Aufblähung gerade so, als würde ein Versprechen, das seiner Zweckbestimmung nach nur unerfüllbar sein kann, irgendwie an Substanz gewinnen können, wenn es immer dicker aufgetragen wird. Ein aktuelles Beispiel liefert für diese Einschätzung, wenn auch ungewollt, die Synthetische Biologie, der auf dem Kongreß "Die Untoten" eine eigene Veranstaltung mit dem Titel "Synbio: Biologie als Ingenieurswissenschaft" gewidmet wurde. Zwei fachkompetente Referenten bzw. Gesprächspartner befaßten sich mit einer Thematik, die im Kongreßprogramm folgendermaßen angekündigt wurde [1]:

Unter dem Banner der Synthetischen Biologie (Synbio) schicken sich Life Sciences und Biotechnologie an, Leben nicht nur technisch zu verändern, sondern auch nachzubauen und neu zu schaffen. Biologie soll zu einer Ingenieurswissenschaft werden, deren nutzbare Artefakte mittels rationalen Designs entstehen.

Mit einiger (sprachlicher) Genauigkeit läßt sich der projektive Charakter dieser Wissenschaftsteildisziplin aus diesen Angaben schon herauslesen. Wer sich "anschickt" etwas zu tun, tut es noch nicht. Er mag kurz davor stehen, aber tatsächlich ist er noch nicht so weit. Wäre dem nicht so, würde gesagt werden (können), die Synthetische Biologie baue das Leben nach und erschaffe es neu. Der grundlegende Perspektivencharakter dieser Teildisziplin einer Teildisziplin (bei der Synthetischen Biologie soll es sich um eine qualitative Weiterentwicklung der Bio- bzw. Gentechnologie handeln, die ihrerseits als Teildisziplin der Biologie oder auch Biochemie verstanden werden könnte) wird auch im zweiten Satz deutlich. Wäre Synbio bereits, wie behauptet, eine Ingenieurswissenschaft mit nutzbaren Artefakten, wäre nicht formuliert worden, daß die Biologie zu einer Ingenieurswissenschaft werden solle.

Bei den beiden Wissenschaftlern handelte es sich um den Molekularbiologen Michael Liss, der in der biotechnologischen Firma "Gene Art/Life Technologies" mit der "zielgerichteten Evolution im Reagenzglas sowie mit der Herstellung künstlicher Gene - einem Grundbaustein moderner Biotechnologie und synthetischer Biologie" [2] befaßt ist. Er ist durch und durch ein Repräsentant seines Fachs und Gewerbes. Ihm zur Seite gestellt wurde der Politikwissenschaftler Christopher Coenen, der selbst zwar kein Naturwissenschaftler ist und insofern von sich sagen kann, er sei ein Laie, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) jedoch gleichwohl "mit den gesellschaftlichen, politischen, ethischen, kulturellen und historischen Aspekten neuer techno-wissenschaftlicher Entwicklungen (z.B. Synthetische Biologie, Human Enhancement) sowie mit modernen Informations- und Kommunikationstechnologien" [2] beschäftigt und insofern "vom Fach" ist.

Michael Liss behauptete über die Synthetische Biologie, daß man in ihr nicht darauf angewiesen sei, die Gene als Informationseinheiten lebender Organismen aus diesen herauszuholen, sondern daß man sie am Computer entwerfen und nach Nützlichkeitserwägungen gestalten könne. Dies gehe so weit, so Liss, daß nicht nur einzelne Gene, sondern ganze Genome, also die komplette Erbsubstanz eines Organismus', neu entwickelt werde; zumindest sei dies, wie er einschränkend hinzufügte, das "kurz- oder mittelfristige Ziel". Die Synthetische Biologie würde neue Möglichkeiten schaffen, ein "echtes Engineering" zu machen aus genormten biologischen Teilen, so wie eben auch ein Flugzeug aus Teilen, Schrauben und Blechen zusammengebaut werde. Dabei gehe es nicht nur darum, die komplette Erbinformation chemisch zu synthetisieren, in eine leere Zelle zu bringen und somit umzuprogrammieren, sondern um noch größere Manipulationen, nämlich das Design des Lebens selbst.

Michael Liss propagiert das Jahrhundert der Biotechnologie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Michael Liss propagiert das Jahrhundert
der Biotechnologie
Foto: © 2011 by Schattenblick
Michael Liss konnte es schwerlich vermeiden, sich bei diesen nicht eben bodenständigen Darstellungen in Widersprüche zu verwickeln. Das Leben werde in einer binären Sprache "programmiert" - in der der vier "Buchstaben" A, C, T und G - aus denen die Desoxyribonukleinsäure (DNS) gemäß der genetischen Grundbehauptungen bestehen soll. Die Programmierung der DNS verstünde die Wissenschaft noch nicht, räumte der Biowissenschaftler ein, ohne zu erläutern, wie sich dann die hochtrabenden Zielvorstellungen und die auf Grundlage dieser Programmierung erstellten Zukunftsperspektiven begründen lassen können. Erst wenn man verstünde, wie eine Zelle programmiert werde, so Liss, könne man ansatzweise davon sprechen, neue Entitäten und neues Leben zu schaffen, wobei es Definitionssache sei, was eigentlich unter Leben zu verstehen sei. Wenn man nicht weiß, wie eine Zelle programmiert wird, wie kann man dann zu wissen vorgeben, daß sie überhaupt "programmiert" wird?

Bei der ihm gestellten Frage nach seinem Lebensbegriff griff Liss tief in die Wissenschaftskiste, um mit dem Ursuppenmodell ein Konstrukt herauszuziehen, ohne das weder Gentechnologie noch Synthetische Biologie hätten entwickelt werden können und das im Kern besagt, daß letzten Endes "zufällig" aus anorganischer Materie organische entstanden sei. Vor vier Milliarden Jahren sei das Leben aus chemischen Prozessen entstanden, die sich verselbständigt und in ihrer Fähigkeit, sich zu reproduzieren, um begrenzte Ressourcen konkurriert hätten, woraus sich die Evolution infolge einer immer schnelleren und effizienteren Reproduktion bis hin zur Entwicklung hochkomplexer Organismen, wie wir es seien, ergeben hätte - so die Schilderung des Molekularbiologen.

Schon vom Begriff her impliziert auch die Synthetische Biologie, daß dieses Fachgebiet im ursprünglichen Sinne des Ursuppenmodells Möglichkeiten einer Neuschöpfung auf künstlichem Weg erforscht, worunter zu verstehen wäre, aus unbelebter Materie (bzw. den chemischen Grundelementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Schwefel) Leben, verstanden als sich selbst reproduzierende molekulare Systeme oder sogar Zellen, zu synthetisieren. Ein glaubwürdiger labortechnischer Nachweis dieser Idee steht allerdings bis heute noch aus. Zwar wurden hypothetische Uratmosphären in den Labormaßstab übertragen (die berühmte Ursuppe im Reaktionsgefäß). Doch bei den bereits als Quantensprung in der Evolutionsforschung gefeierten einfachen Verbindungen, die schließlich aus dem Reaktor gefischt werden konnten und die unter der vermeintlichen Ursuppe nachgeahmten Bedingungen ebenso zufällig entstanden sein sollen, handelt es sich um simple Aminosäuren und weitere einfache Verbindungen wie Kohlenstoffdioxid, Ammoniak oder dergleichen.

Ob tatsächlich der Zufall als wesentliche Voraussetzung eines vermeintlichen Ursuppen-Experiments angenommen werden kann, steht allerdings zu bezweifeln, da nicht auszuschließen ist, daß heutige Vorstellungen auf der Basis praktischer Erfahrungen aus der Chemie dazu geführt haben, die Ausgangsbedingungen dieses Experiments so zu konstruieren, daß sie die erwünschten Ergebnisse zeitigen und auf diesem Wege die vermeintliche Relevanz dieser Forschung begründen. Welche chemischen Voraussetzungen die Erde in dem angenommenen Ur-Status geboten hat, um - so die Behauptung - etwas zuvor nicht Dagewesenes zu schaffen, ist zudem eine Frage, die niemand beantworten kann.

In dieser Denktradition steht auch die Synthetische Biologie, und so stellte Christopher Coenen an Michael Liss, die vielfach geäußerten Argumente der Kritiker dieses Forschungszweigs aufgreifend, die Frage, wie er sich zu dem Vorwurf, Gott spielen zu wollen oder in die Natur hineinzupfuschen, stellen würde. Liss ließ diese Kritik nicht gelten und machte nicht einmal den Versuch, sie konkret inhaltlich zu entkräften. Stattdessen suchte auch er die Kritiker zu diskreditieren, etwa durch eine Analogie zu frühen Flugzeugbauern, den Gebrüdern Wright etwa, denen seinerzeit auch entgegengehalten worden sei, daß sie mit ihrem Versuch zu fliegen "Gott spielen" würden und daß nur Vögel fliegen dürften. Die heute gegen Biotechnologie und mehr noch die Synthetische Biologie vorgebrachte Argumentation sei genauso ungerechtfertigt, behauptete Liss und vertrat den Standpunkt, daß die Synthetische Biologie eine Technologie sei, die zur menschlichen Zivilisation dazugehöre - man könne der Menschheit nicht sagen, bis hierher und nicht weiter, das läge nicht "in unserer Natur" und es sei "irgendwie unser Schicksal" immer weiter zu machen.

Der Biowissenschaftler nahm jedoch nicht nur Anleihen an zutiefst fatalistischen und eine Interessen- und Zweckanalyse der jeweiligen Forschung ausschließenden Begrifflichkeiten wie Natur und Schicksal, er bemühte zur Erläuterung seiner Disziplin insbesondere auch die Evolution. Ohne Evolution wäre "das Leben" auf einem chemischen Level stehengeblieben, ohne Evolution hätten sich niemals so komplexe Organismen entwickeln können. Was in der Evolution über sehr lange Zeiträume durch die Natur geschehen sei, werde in der Synthetischen Biologie kürzer und effizienter vollzogen. Die Synthetische Biologie als Weiterentwicklung der Biotechnologie sei, so Liss, "eine logische Konsequenz der Evolution". Warum sonst hätte der Mensch eine Intelligenz entwickelt, die ihn befähige, Organismen auf molekularer Ebene zu verändern und damit einen Schritt in der Gesamtevolution zu vollziehen, so wie auch durch den Gebrauch von Stöcken oder den Bau von Flugzeugen solche Schritte vollzogen worden seien?

Bei so viel Überzeugung von der Effizienz der eigenen Forschung und Wissenschaftsdisziplin blieb kein Platz, um die ungeprüften Voraussetzungen, auf denen die Synthetische Biologie beruht bzw. gedacht wird, in Frage zu stellen. Wunsch und Wirklichkeit klaffen in diesem Bereich besonders weit auseinander. Dem behaupteten Anspruch, Organismen "designen" zu können und somit Lebensformen zu schaffen, die es in der Natur noch nicht gegeben habe, steht auf der Haben-Seite die Produktion maßgeschneiderter Bio-Bauteile gegenüber, die bestimmte Aufgaben, bei denen es sich um Optimierungen zwecks effektiverer Ausbeutung von Mikroorganismen, Lebewesen oder Pflanzen handelt, erfüllen können.

Allerdings enthält schon der Grundansatz, die Werkzeuge der Natur nachzuahmen, um etwas zu schaffen, was es "in der Natur" noch nicht gegeben habe, eine Zirkelschlüssigkeit im Denken. Jeder Forscher wird bei seinem Blick auf die Natur von seinen Vorstellungen geleitet und dementsprechend handeln. Bei seinen "Schöpfungen" kann es sich - den Begriff der Schöpfung einmal ganz wörtlich verstanden - nur um Variationen von bereits Vorhandenem und Bekanntem handeln, die die Wissenschaft, quasi mit der Suppenkelle der Natur, "geschöpft" hat; etwas Undenkbares und nie Dagewesenes zu erschaffen, ist schlechterdings unmöglich. Wie würden sich wohl in diese Disziplin involvierte Biowissenschaftler zu dieser Frage stellen?

Prof. Dr. Ralf Wagner, Professor für Molekulare Mikrobiologie und Gentherapie an der Universität Regensburg und Chief Executive Officer derselben Biotechnologie-Firma "Gene Art", bei der auch Michael Liss arbeitet, antwortete in einem Interview [3] auf die Frage, wie die übliche Definition des Ziels der Synthetischen Biologie, nämlich die Produktion maßgeschneiderter Bio-Bauteile, zu verstehen sei:

Ich übernehme gern die Definition des Biotechnikers Sven Panke, der sagt: Die synthetische Biologie folgt einer 'Engineering-Agenda', stellt auf der Basis von standardisierten Bio-Bauteilen neue Biosynthesewege dar und zwar in einer Form, in der sie in der Natur nicht vorkommen. In der Biologie wurde lange 'hypothesengetrieben' gearbeitet. Im Zeitalter von 'Genomics' und 'Postgenomics' haben wir neue analytische Werkzeuge in der Hand. Wir können nicht nur unsere Hypothesen schärfen, sondern das Wissen über zellulare Prozesse in Konstruktion übersetzen. Dies ist das Zeitalter, in das wir gerade aufbrechen. Dazu verwendet man idealerweise - das meint man mit 'Engineering-Agenda' - standardisierte Bio-Bausteine. Das ist vergleichbar mit Elektrotechnik: Dort haben wir Widerstände, Kondensatoren, elektrische Leitungen etc. und abhängig davon, wie ich diese Bauteile zusammensetze, kommt entweder ein Radio, ein Fernseher, ein Föhn oder ein Staubsauger heraus. Auch mit Bio-Standardbauteilen kann man, je nach Kombination, Organismen mit ganz unterschiedlichen Leistungen generieren.

Diese Argumentation bzw. Analogie zur Elektrotechnik enthält einen gravierenden logischen Bruch. Die elekrotechnischen Bauteile sind ebenso bekannt wie die technischen Geräte, die - je nach Zusammensetzung der Bauteile - aus ihnen entstehen. Um in dem Bild zu bleiben: Wenn die Synthetische Biologie einerseits behauptet, Organismen zu schaffen bzw. schaffen zu können, die es zuvor noch nicht gegeben habe, paßt dies gerade nicht mit Radio, Fernseher, Föhn oder Staubsauger zusammen. Die Synthetische Biologie nutzt im Grunde einen Methoden-Mix verschiedener anderer Naturwissenschaftszweige, darüberhinaus die Informatik bzw. Informationstechnik und Computerwissenschaft; ohne letztere ließe sich in den Naturwissenschaften ohnehin keine systematische Forschung mit ihrer zwangsläufigen Verarbeitung großer Datenmengen durchführen.

Was in den Labors im Namen der Synthetischen Biologie geschehe, würde sich bei genauerer Betrachtung als eine Art biochemische Synthese von Genen und Proteinen herausstellen und sich insofern nicht wesentlich von den Aufgaben unterscheiden, denen man bislang auch in der Molekularbiologie oder Genforschung - unter Umständen mit Hilfestellungen aus organischer Chemie und Biochemie - nachgegangen ist. Michael Liss und Christopher Coenen gingen in ihrem Gespräch mit keinem Wort näher auf die angewandten Techniken ein, und so verblieb die Synthetische Biologie in dieser Veranstaltung in einem diffusen Grenzbereich zwischen den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, in dem sie sich mit dem Verweis auf die eigentliche Expertendisziplin unbequemen Fragen leicht entziehen kann. Auffällig war dabei allerdings, daß sich die beiden Gesprächspartner in ihren Darstellungen verschiedener Vergleiche und Analogien bedienten, die nicht unbedingt durch ihre Plausibilität bestachen.

Michael Liss sprach davon, daß in der Öffentlichkeit bereits geringfügige Manipulationen an Organismen sehr umstritten seien; in der Synthetischen Biologie gehe es jedoch um größere Manipulationen, um deren Akzeptanz es insofern noch weitaus schlechter bestellt sein dürfte. Liss jedoch ließ es dabei bewenden und beschrieb die chemische Synthetisierung der kompletten Erbsubstanz eines Organismus' durch J. Craig Venter als einen "Meilenstein der technischen Machbarkeit". Allem Anschein nach übertragen Biotechnologen Erklärungsmodelle und praktische Erfahrungen aus der Technik auf biologische Prozesse und Organismen. So erläuterte Liss Venters Genomsynthetisierung damit, daß er das "Betriebssystem" der Natur bzw. Evolution kopiert und die Erbinformation in ein leeres Chassis geschoben hätte. Er hätte, so Liss, nicht die Erschaffung von Leben, wohl aber dessen "Umprogrammierung" künstlich nachvollzogen - was allerdings voraussetzen würde, daß Vorgänge in lebenden Organismen tatsächlich Analogien zu informationstechnischen Prozessen aufweisen würden. Mit anderen Worten: Wer könnte schon ausschließen, daß es sich bei der vermeintlichen "Programmierung" lebender Organismen um etwas anderes als eine sich selbst bestätigende These einschlägiger Wissenschaften handelt?

Dem Laien vermittelt sich durch Liss' Schilderung biotechnischer Verfahren das Bild klinisch sauberer High-Tech-Labors, in denen Wissenschaftler mit "biologischer" Materie hantieren und allem Anschein nach genau wissen, was sie da tun. Dabei ist schon die zu Erklärungszwecken bemühte Analogie zu Computern an den Haaren herbeigezogen. Das Bild paßt nicht zu dem behaupteten Inhalt. Mit einem leeren Computergehäuse kann man auch dann, wenn in ihm eine Festplatte hängt, nichts anfangen. Ein funktionsfähiger Rechner hingegen, mit Betriebssystem und der entsprechenden Software, wird zu den Leistungen in der Lage sein, die diese informationstechnischen Instrumente ihm bieten. Daran ist nichts Geheimnisvolles. Werden Evolution bzw. Natur als "Betriebssystem" bezeichnet, unterstreicht dies den Anschein, die Biotechniker wüßten tatsächlich, was sie tun und hätten einen (Verwertungs-)Zugriff auf die ihnen so begehrlichen Prozesse lebender Organismen.

Michael Liss erklärte, daß "das Leben" in einer binären Sprache, bestehend aus den vier "Buchstaben" A, C, T und G, "programmiert" sei, und bekannte wie bereits erwähnt, daß die Wissenschaft die "Programmierung" der Erbsubstanz DNS noch nicht verstehe und ebensowenig wüßte, wie eine Zelle programmiert werde. Der mutmaßliche Grundstoff der Biotechnologien, die Desoxyribonukleinsäure (DNS), die mit der diesen wissenschaftlichen Modellen zugrundeliegenden Erbsubstanz identisch sein soll, wird wahlweise als eine Software, eine zusammengebaute Festplatte oder auch als Umprogrammierung bezeichnet oder beschrieben. Wenn die Erklärungsansätze unpräzise und ungreifbar sind, wie kontrolliert können dann die Produkte einer biologischen Ingenieurstechnologie sein, wenn aus deren Bausteinen, nämlich den Basenpaaren der DNS, die sowohl als Code für bestimmte, ihnen zugeordnete Eigenschaften als auch als mechanische Matrize für die Eiweißproduktion benutzt werden, vollständige Genome künstlich nachgebaut werden sollen?

Christopher Coenen spricht mögliche Gefahren der Synthetischen Biologie an - Foto: © 2011 by Schattenblick

Christopher Coenen spricht mögliche Gefahren der
Synthetischen Biologie an
Foto: © 2011 by Schattenblick
Christopher Coenen stellte in dem Gespräch Fragen zur Sicherheit der neuen Biotechnologien. Würde sich nicht, da auch die Natur "Fehler" macht, die für die Menschheit gefährlich werden könnten, dieses Risiko noch massiv vergrößern durch die Synthetische Biologie und stellt nicht auch diese Technik angesichts der "prinzipiellen Fehleranfälligkeit aller Technologie" einen Weg dar, der "sehr gefährlich" werden könnte? Michael Liss negierte zwar nicht jegliche Gefahr, suchte sie jedoch nach Kräften kleinzureden bzw. zu relativieren. Ja, so lautete seine Antwort, jede Technologie berge Gefahren in sich, doch diese würden nur dann bestehen, "wenn sie bewußt eingegangen werden oder bewußt beabsichtigt sind". Eine Atombombe werde mit dem Ziel gebaut, daß sie hochgehe ... An dieser Stelle warf Christopher Coenen ein, daß dies auf Fukushima keineswegs zuträfe und dennoch die Gefahren nicht zu leugnen seien, woraufhin Liss ein deutliches Beispiel dafür lieferte, wie Wissenschaftler seiner Disziplin womöglich mit den in diesem Bereich schlummernden Gefahren umgehen könnten. Die Gefahren der Kernenergie waren bekannt, argumentierte Liss ungeachtet dessen, daß er kurz zuvor noch behauptet hatte, Gefahren entstünden nur, wenn sie beabsichtigt oder bewußt eingegangen würden. In der Kernenergie, so resümierte der Biowissenschaftler, sei man "aus extremem Schaden klug geworden".

Die sich aufdrängende Frage, ob denn nicht auch in Gentechnologie und/oder Synthetischer Biologie eine Technik forciert werde, die zu extremen Schäden führen könnte, wurde von keinem Gesprächspartner gestellt. Michael Liss erklärte, daß eine Zelle hochkomplex und "unverstanden" sei, womit er die angesprochenen Befürchtungen keineswegs entkräftete. Wenn es, wie er auf der Basis seiner Erfahrungen als Wissenschaftler ausführte, bisher so war, daß alle Manipulationen, die an Zellen gemacht wurden, zu deren Schädigung beitrugen, unterstrich er noch die Argumente der Kritiker. Liss kam nicht umhin einzuräumen, daß mit dieser Technik "Schindluder" getrieben werden könne und daß sehr wohl die Gefahr bestehe, daß es, wenn sich selbst reproduzierende Zellen nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden könnten, zu einem GAU mit Erregern kommen könnte. Sein Versuch, dies zu entkräften, fiel keineswegs überzeugend aus: Es gäbe viele unangenehme Sachen - Viren oder bakterielle Krankheiten -, die die Evolution entwickelt hätte, und da würde es dem Menschen schwerfallen, "noch gefährlicherere Sachen draufzusetzen".

Doch anstatt Problemstellungen dieser Art weiter nachzugehen und die aufgeworfenen Fragen konkret zu beantworten, wurde das Gespräch auf visionäre Sphären verlagert. Michael Liss stellte drei verschiedene Anwendungsbereiche der Synthetischen Biologie vor und versah jeden von ihnen mit wohlklingenden Perspektiven und Visionen. So gäbe es in der weißen Biotechnologie Visionen, in denen Algen Erdöl und andere chemische Grundstoffe produzieren würden, während in der roten Biotechnologie Durchbrüche in der Krebsforschung und generell in der Medizin visioniert werden. Die grüne Biotechnologie hingegen nährt Visionen, mit genetisch veränderten Pflanzen den Hunger in der Welt bekämpfen zu können. All dies wurde bereits in der öffentlich in Verruf gekommenen Gentechnik zur Rechtfertigung dieser Arbeit genutzt und mit Pseudoerfolgen wie Vitamin-A-haltigem Reis, kariesverhindernden Superäpfeln, gentechnisch produzierten Medikamenten wie Insulin und dergleichen mehr zu untermauern versucht.

Doch worin soll dann eigentlich der Unterschied zur Synthetischen Biologie bestehen? In einem Interview hatte der Molekularbiologe Prof. Dr. Ralf Wagner von der Firma GeneArt, in der auch Michael Liss arbeitet, als wesentliches Unterscheidungskriterium den Grad der Veränderung benannt [3]. Bislang seien in der Gentechnik minimale Veränderungen vorgenommen worden; nun aber ginge es um "signifikante Veränderungen", etwa die Übertragung des gesamten Stoffwechselweges von einem Organismus auf einen anderen. Biotechniker stellten nun etwas Neues her, zum Beispiel Enzymfunktionen, "die die Natur überhaupt nicht kennt". Substantiell größere Manipulationen machen allerdings auch größere Risiken denkbar, wobei, da hier im wesentlichen die Methoden der Gentechnologie angewendet werden, auch die bisher nie aus dem Weg geräumte Kritik an ihr in gesteigertem Maße greift. Dies wurde in dieser Kongreßveranstaltung allerdings kaum angesprochen.

Und als ob es der visionären Höhenflüge ohne jede Bodenhaftung noch nicht genug gewesen wären, wurden in diesem Gespräch auch noch Nanomaschinen, ein Konzept der Nanotechnologie, sowie Ideen aus der Neurotechnologie aufs Tapet gebracht. Vermischt mit der Synthetischen Biologie, so eine weitere Frage Christopher Coenens, könnte eine derart beschleunigte Entwicklung vorangetrieben werden, daß alte Menschheitsträume wahr und die Unsterblichkeit oder zumindest eine extreme Langlebigkeit verwirklicht werden könnte. Die ihm gebotene Gelegenheit, an der Bewirtschaftung derartiger "Visionen" weiterzustricken, ließ Michael Liss sich nicht entgehen. Es gäbe Visionen, die schneller realisiert werden könnten, als man es sich zu träumen wagte, erklärte er recht unbestimmt. Wenn man "noch nicht so weit sei", sei es "schwer abzuschätzen", was sein und was nicht sein werde. Mit anderen Worten: Nicht Genaues weiß man nicht.

In Ermangelung konkreter Ergebnisse oder reichweitenangemessen begründeter Zielsetzungen ließ Liss Wunschträume wie Luftballons in der Friedhofkulisse Kampnagels aufsteigen, die jedwede Fragen nach Gefahren, Risiken und Sicherheit, aber auch der tatsächlichen Nützlichkeit für wenn auch immer wohl vergessen machen sollten. Das Ziel sei, so Liss, einen Evolutionsprozeß durch die Synthetische Biologie zu beschleunigen, um für den Menschen nützliche Dinge zu erreichen wie die Unabhängigkeit vom Erdöl, die Reduzierung des Kohlendioxids, die Bekämpfung von Krankheiten und, sofern ethische Richtlinien dies zuließen, die Optimierung des Menschen.

In diesem Zusammenhang stellte Christopher Coenen eine die tatsächlichen Zielsetzungen dieser Wissenschaften und ihrer Protagonisten ungewollt entlarvende Frage. Das 20. Jahrhundert, so Coenen, sei mit all seinen Katastrophen stark von Weltverbesserungsideen und utopischen, revolutionären Bewegungen getragen gewesen, während heutzutage die Idee einer Verbesserung des Menschen, des utopischen Menschen, eher biologisch gedacht werde. Auf die Frage, ob solche Vorstellungen für die heutigen Biologen relevant seien, untermauerte Liss das Kernversprechen seiner Wissenschaft. Die Biotechnologie sei nicht nur geeignet und bestrebt, die menschliche Physis zu verbessern und die großen Plagen der Menschheit zu bekämpfen, sie habe dies auch schon getan. Schließlich seien unsere Lebensverhältnisse bereits so verbessert worden durch die Entwicklung des Penicillin sowie andere wissenschaftliche Errungenschaften, daß die heutigen Menschen im Vergleich zu jenen früherer Zeiten eine extreme Langlebigkeit aufweisen - "zumindest in den reicheren Ländern", wie Michael Liss selbst anfügte und womit er zu verstehen gab, daß ihm sehr wohl bewußt ist, daß diese Wissenschaften und Forschungen die Privilegien der ohnehin Privilegierten zu sichern und auszubauen suchen zu Lasten einer weltweit zunehmenden Masse ausgegrenzter Menschen.

Christopher Coenen und Michael Liss - Wissenschaftler als Ingenieure des Lebens? - Foto: © 2011 by Schattenblick

Wissenschaftler in der Rolle von Ingenieuren des Lebens?
Foto: © 2011 by Schattenblick

Fußnoten

[1] http://www.untot.info/7-0-Kongress-Do-125.html

[2] Die Untoten, Life Sciences & Pulp Fiction, Kongress & Inszenierung 12.-14. Mai 2011, Kampnagel Hamburg (Programmheft)

[3] leben bauen, Interview mit Prof. Dr. Ralf Wagner, aus: das magazin der kulturstiftung des bundes, Nr. 16, Herbst/Winter 2010, S. 12/13



Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)
BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)
BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)
BERICHT/022: "Die Untoten" - "Nollywood" - Nigerias populärkulturelle Filmproduktion (SB)
BERICHT/023: "Die Untoten" - Prothetik im Dienste der herrschenden Ordnung (SB)
BERICHT/024: "Die Untoten" - Aus den Gräbern ein Spiegelbild menschlicher Obsession (SB)
BERICHT/025: "Die Untoten" - Im Anatomischen Theater auf der Suche nach dem Leben (SB)
BERICHT/026: "Die Untoten" - Die Teilbarkeit der Welt eine kulturgeschichtliche Errungenschaft? (SB)
BERICHT/027: "Die Untoten" - Transplantationsmystik - Wenigstens meine Organe sollen überleben... (SB)
BERICHT/028: "Die Untoten" - Frühembryonen im Fadenkreuz der Begehrlichkeiten (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)
INTERVIEW/008: "Die Untoten" - Hans Werner Ingensiep, Philosoph und Biologe (SB)
INTERVIEW/009: "Die Untoten" - Dorothee Wenner, Journalistin und Filmemacherin (SB)
INTERVIEW/010: "Die Untoten" - Karin Harrasser, wissenschaftliche Leitung des Kongresses (SB)


30. Juni 2011