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SF-JOURNAL/024: Autoren... Stanislaw Lem, anspruchsvoll und bissig (SB)


Stanislaw Lem, (1921)


[...] untersetzt, mürrisch, hochintelligent, sehr geringschätzig in seinem Urteil über fast jeden geschriebenen amerikanischen SF-Roman und möglicherweise der beste [ganz bestimmt der berühmteste] SF-Autor des späten 20. Jahrhunderts, der nicht in englischer Sprache schreibt.
(aus John Clute: Science Fiction - Die illustrierte Enzyklopädie, Heyne Verlag München 1996, S. 156)


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Fans und Gegner der Science Fiction-Literatur sind sich in einem einig: Es ist ärgerlich, daß das Genre von der amerikanischen Science Fiction dominiert wird. Nur einzelne europäische Autoren konnten dieser Amerikanisierung bisher entgegenarbeiten wie Iwan Jefremow und die Strugazki-Brüder in Rußland, Italo Calvino in Italien oder Stanislaw Lem in Polen.


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Persönliche Daten

Stanislaw Lem wurde am 12.9.1921 in Lwów, im galizischen Lemberg, als Sohn eines Arztes geboren. Er studiert zunächst in seiner Heimatstadt und dann in Krakau Medizin. Während des Krieges muß er sein Studium unterbrechen und schließt sich der Widerstandsbewegung an. Zur Zeit der deutschen Besatzung arbeitet er bis zur Befreiung Polens unter anderem als Autoschlosser. Nach dem Krieg studiert er Philosophie, Physik, Biologie und beendet sein Medizinstudium. Danach ist er für kurze Zeit als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie am "Konserwatorium Naukoznawcze" tätig. Privat beschäftigt er sich mit Problemen der Kybernetik und der Mathematik und übersetzt wissenschaftliche Publikationen.

Seit Januar 1973 liest Lem als Dozent am Lehrstuhl für polnische Literatur der Universität Kraków, wo er seit 1946 hauptsächlich wohnt.

1982 ist er Stipendiat des Institute for Advanced Studies in Berlin.

1982 bis 1988 wohnt er in Wien. 1991 erhält er den österreichischen Kafka-Preis.


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Werke

Die Bücher Stanislaw Lems werden in über 30 Sprachen übersetzt und ihre Auflagen erreichen Millionenhöhe; es soll über elf Millionen Exemplare geben, das bedeutet hochgerechnet einen Leser-"Kosmos" von 30 Millionen Lesern. Außer Science Fiction schreibt er Essays und Bücher über wissenschaftlich-technische Themen sowie Literaturkritiken, auch Fernsehspiele und Erzählungen, Humoresken und Satiren.

Seine meisten Werke sind in Zakopane entstanden, wohin er sich in Klausur begibt und sein Vorhaben in einer zusammenhängenden Arbeitsphase verwirklicht. Er ist sehr selbstkritisch - einige Texte hat er ein Dutzend Mal neu geschrieben.

Lem geht mit wissenschaftlicher Präzision zu Werke. Seine Themen sind den Grenzproblemen von Mathematik, Mikrobiologie, Kernphysik und Soziologie entnommen. Hinter seinen Texten verbirgt sich weit mehr als nur Phantasie und Satire oder Spekulationen über zukünftige technische Entwicklungen. Zukunft und Weltraum sind keine Flucht für ihn, sondern nur ein stilistisches Mittel, um seine Gesellschaftskritik in eine andere Welt zu versetzen. In seinen Geschichten und Romanen ist eigentlich von der Wirklichkeit die Rede.

Von amerikanischer Science Fiction hält Lem nicht viel. Er spricht von einem entsetzlichen Überangebot an Literatur, einem mit "verhunzter Qualität" übersättigten Markt. Auch der marxistischen Theorie ist er nicht sonderlich zugetan. Seine Vorliebe gilt den Brüdern Strugazki.

In Lems Werken ist immer ein Stück Doppelsinn und Unerforschliches enthalten, sowie die Unmöglichkeit, alles zu verstehen. Daraus folgen logischerweise Endzeitvisionen.

Mit 16 beginnt Lem zu schreiben.

* Sein erster Roman heißt Astronauci (1951, deutsch "Vorstoß zum Abendstern" oder "Die Astronauten"), die Beschreibung einer Venusexpedition.

* 1955 folgt "Oblok Magellana", der Flug eines mit 200 Menschen besetzen Raumschiffes zu den Sternen. Hierbei spielen sozialistische Ideen eine große Rolle. In diesem Jahr werden auch die ersten Geschichten um den Weltraumpiloten Pirx veröffentlicht.

* 1957 folgt "Dialogi" (deutsch "Dialoge" oder "Die
Auferstehungsmaschine"),

* 1959 "Eden", die Landung eines Raumschiffs auf einem bizarren Planeten, auf dem es lebendige Fabriken sowie Pläne der Bewohner gibt, sich selbst durch eine Mutantenrasse zu ersetzen.

* 1961 hat "Solaris" großen Erfolg - sein wohl populärster Roman. Er wird in 20 Sprachen übersetzt und 1972 von Andry Tarkowski (Sowjetunion) verfilmt. Es geht um eine Lebensform, die sich als gallertartiger Ozean präsentiert und mit der keine Kommunikation gelingt.

* Dann entstehen 1961 "Memoiren, gefunden in der Badewanne", 1964 "Der Unbesiegare", ein Geschichtenband, 1965 "Kyberiade", 1968/73 "Pilot Pirx", 1971 "Sterntagebücher", 1973 "Der futurologische Kongreß".

Die bekannte Cyberiada (1965, "Kyberiade") beschreibt die slapstickartigen Versuche der Roboter Trurl und Klapauzius, zweier Konstrukteure bzw. Erfinder, phantastische Maschinen herzustellen. Der Leser ist mit den Folgen einer konsequenten Weiterentwicklung technischer Möglichkeiten konfrontiert; kulturelle und moralische Werte sind bedroht, menschliche Integrität ist verletzt.

* 1985 "Die Geschichte von den drei geschichtenerzählenden Maschinen des Königs Genius"

* 1986 "Frieden auf Erden"

* 1987 "Science Fiction: Ein hoffnungsloser Fall mit Ausnahmen"

* 1992 "Die Vergangenheit der Zukunft"


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Leseprobe

Die hier für eine Leseprobe gewählte Geschichte "Die Invasion" begeistert in mehrerer Hinsicht für Stanislaw Lem: Zum einen ist sie stark handlungsorientiert und dialogreich und deshalb kurzweilig zu lesen, zum anderen typisch für die Herangehensweise Lems, eine Idee äußerst präzise und mit Fachkenntnis darzustellen und sie unter möglichst vielen Aspekten zu analysieren. Des weiteren führt sie weit über Spielereien mit zukünftigen wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen hinaus auf Fragen ausgesprochen gesellschaftskritischer Gegenwartsbewältigung - und zeugt von genauer Kenntnis von allzu menschlichen Bedürfnissen, Reaktionsketten und Denkweisen, die in bissigster Weise einbezogen werden. Und nicht zuletzt ist dies eine klassische Science Fiction-Story:

Zur Vorgeschichte:

Auf der Erde sind fremde, glasig-birnenförmige Objekte gelandet, deren Kern Abbilder der Gegenstände und Lebewesen schafft, die ihre "Brutstätte" umgeben und die von den Birnen beim Sturz auf die Erde unbeabsichtigt getötet worden sind. Um zu leben, bringt der hochmolekulare Birnenkern unter Einwirkung von Lichtwellen bestimmter Länge eine Zentralklumpung hervor, worum sich die nächsten Schichten ansetzen. Diese entscheidenden, wachtumsfördernden Lichtwellen entstammen zumeist der nächsten Umgebung und beeinflussen das Katalysatorensystem, das die Form des Kerns gleichsam modelliert. Diese Form ist für die Lebensprozesse der Birne völlig gleichgültig, nur die Bewegung ihrer milchigen Kernsubstanz ist von Bedeutung. Die Zirkulation in ihrem Inneren sichert den nötigen Stoffwechsel.

Der Wissenschaftler Doktor Haines wird auf der Pressekonferenz von Reportern bedrängt. Es geht um die Frage, inwieweit diese Lebensform bedrohlich für die Erde ist. Die Wissenschaftler vermuten, daß die Birne eine angepaßte Lebensform sei. Der Konferenzsaal gerät in Aufruhr, Doktor Haines wird eng umringt.

"Ich bin in einer Zwangslage" - bekundete Haines. "Die Herren wollen von mir die Wahrheit hören. Aber es gibt zwei Wahrheiten. Die erste - für die Wochenschriften, die längere Artikel bringen, mit graphischen Zierleisten dazwischen. Die glasigen Birnen - das sind Schaustücke aus den botanischen Gärten hochentwickelter Sternenwesen. Diese Wesen haben sie gezüchtet, um ihre ästhetischen Ziele zu verwirklichen. Die Birnen sind bei ihnen Bildhauer und Porträtisten. Die zweite Wahrheit ist ebenso gut, sie ist bindend für die Tagespresse, besonders für die Nachmittagspresse. Die Birnen - das sind kosmische Ungeheuer, denen der Zerstörungsakt Freude bereitet, der zugleich der Akt ihrer individuellen Zeugung ist. Das ganze übrige Leben lang begeilen sie sich daran, die todesnahen Bewegungen ihrer Opfer zu wiederholen. Das wäre alles!"
(S. 205)

Und zu guter Letzt bezieht Haines, von einem jungen Mann in aller Stille danach befragt, selbst Stellung:

"Es handelt sich ja gar nicht um diese Birnen [...]. Natürlich nicht. Für Pflanzen, Tiere, Menschen, für alles, was lebt, gilt diese Frage genauso. Im Alltag werden wir sie nicht gewahr, weil wir uns an das Leben gewöhnt haben, an unser Leben, so wie es ist. So mußten erst fremde Organismen auftauchen, andere, mit andersartigen Formen und Funktionen, damit wir diese Frage entdeckten [...]"

"Ach so!" - sagte der junge Mensch schwach. "Also es
handelt sich um den Sinn..."

"Versteht sich" - Haines nickte. "Die Wirklichkeit, mein Herr, ist weder so naiv wie das Geschichtchen von den galaktischen Gärten, noch ist sie so gruselig wie das Märchen von den Ungeheuern, das ich erfunden habe - und sie scheint manchmal schwerer zu ertragen, weil sie die Antwort auf jene Frage verweigert..."
("Die Invasion" aus: Stanislaw Lem: Nacht und Schimmel, Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, 1969 by Lem, aus dem Polnischen von I. Zimmermann-Göllheim, S. 205f)


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Literatur:

1) Alpers, Fuchs, Hahn, Jeschke: Lexikon der Science Fiction Literatur, Heyne Verlag München 1988, Bd. 1

2) John Clute: Science Fiction - Die illustrierte Enzyklopädie, Heyne Verlag München 1996, 1995 by John Clute, deutsche Übersetzung von Ronald M. Hahn

3) James Gunn (Hrsg.): Von Lem bis Varley, Wege zur Science Fiction, Neunter Band, 1982 by James Gunn, 1993 Heyne Verlag Deutsche Erstausgabe

4) Francois Bondy, Ivo Frenzel, Joachim Kaiser, Lew Kopelew, Hilde Spiel: Harenberg Lexikon der Weltliteratur, Band 3, Dortmund 1994, S. 1767

5) Harenbergs Personenlexikon, Dortmund 1992, S. 747

6) Autor-Scooter - Eine Fragestunde mit Stanislaw Lem

7) Stanislaw Lem: Nacht und Schimmel, Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, 1969 by Lem, aus dem Polnischen von I. Zimmermann-Göllheim


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Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben

Erstveröffentlichung 1997

10. Januar 2007