Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → LITERATUR

SF-JOURNAL/011: Autoren... Theodore Sturgeon, der Untypische (SB)


Theodore Sturgeon, (1918 - 1985)


Man wird nicht gleich auf ihn stoßen, wenn man sich über die berühmtesten Persönlichkeiten unter den SF-Autoren informieren will, die Akzente für das Genre gesetzt haben. Es ist unauffällig und leise um ihn, aber er ist derjenige, der den größten Einfluß auf die jüngeren Autoren ausgeübt hat - Theodore Sturgeon, ein Vorbild für stilistische Vielfältigkeit und gekonnten Aufbau, ein Meister darin, sich in menschliche Grenzsituationen und Probleme einzufühlen und ihnen eine ungewöhnlich weiche Wendung zu geben.

Von allen Autoren ist er der untypischste. Er legte in seinen Stories wenig Wert auf Wissenschaft und Technik - in einer Zeit, in der beides oberstes Gebot war -, sondern stellte konsequent den Menschen in den Mittelpunkt seiner Erzählungen und Romane. Seine über 200 Kurzgeschichten sind nicht nur Science Fiction-Stories, sondern auch gekonnter Horror und abenteuerlichste Fantasy.

Samuel R. Delany spricht ihm das höchste Lob aus und erklärt seinen einschneidenden Erfolg. Theodore Sturgeon sei der größte Kurzgeschichtenautor, den die Science Fiction hervorgebracht habe.


*


Persönliche Daten

Theodore Sturgeon wurde auf Staten Island, New York, geboren. Sein eigentlicher Name ist Edmond Hamilton Waldo. Erst als seine Mutter nach der Scheidung noch einmal heiratete, nannte er sich nach seinem Stiefvater Theodore Hamilton Sturgeon.

Sturgeon war ein sehr eigenwilliges Kind. Er träumte davon, Trapezartist zu werden, und deshalb vernachlässigte er in der Schule alle Fächer außer dem Sportunterricht. Später besuchte er die Kadettenschule und führte danach ein abenteuerliches Leben mit den verschiedensten Jobs: vom Bulldozerfahrer in Puerto Rico über Hotelmanager bis zum Seemann.

Ende der 30er Jahre begann er mit dem Schreiben. 1939 veröffentlichte John W. Campbells Magazin "Astounding" Sturgeons erste Story "Ether Breather". Von nun an wurde der Herausgeber Campbell sein Förderer, teilte aber die wenig technisch orientierten Stories von Theodore Sturgeon lieber seinem Magazin "Unknown" zu, das auch schon Fantasy enthielt. Eine der bekanntesten Erzählungen dieser Zeit wurde "It" (1940), eigentlich Horror vom Feinsten, und der größte Erfolg war "Microcosmic God". Diese Story wurde in die Anthologie SF Hall of Fame der Science Fiction Writers of America aufgenommen.

In den 50er Jahren - inzwischen war Sturgeon sehr bekannt geworden - veröffentlichte er vorwiegend in den Magazinen "Galaxy" und "The Magazin of Fantasy and Science Fiction", weil seine Geschichten mit ihren sozialen Schwerpunkten besser zu diesen Magazinen paßten.

Was Sturgeon weit über das Genre hinaus Beachtung verschaffte, war der Roman "More than Human" (1953). Er handelt von mißgestalteten Kindern mit paranormalen Fähigkeiten, die durch einen inneren Ruf zusammenfinden und eine neue menschliche Daseinsform gestalten, den "Homo Gestalt". Der Roman erhielt 1954 den International Fantasy Award.

Viele Jahre lang rezensierte Sturgeon in der "New York Times" Science Fiction-Literatur, und kurzfristig war er Assistenzherausgeber der SF- Magazine "Galaxy" und "If".

In den 60er und 70er Jahren wurde es ruhig um ihn. 1970 gewann die Kurzgeschichte "Slow Sculpture" ("Die langsamste Skulptur der Welt") den Hugo Gernsback und Nebula Award, was schon fast eine Ausnahme war, denn insgesamt schrieb Sturgeon viel weniger Texte.


*


Werke

Im Grunde war Sturgeon seiner Zeit voraus. Seine frühen Geschichten passen eigentlich schon in die 60er Jahre, in denen die Neigung, Fantasy- und Gruselelemente in die Science Fiction mit aufzunehmen, verstärkt verfolgt wurde. Auf den Prosa-Anteil legte Sturgeon stets mehr Gewicht, vergleichbar etwa mit der Art, wie später Ray Bradbury schrieb.

Die Faszination der Stories wird zu einem großen Teil von ihrer meisterlichen Form bestimmt. Durch einen anspruchsvollen Aufbau läßt sich der Leser bis zuletzt in Atem halten. Inhaltlich kann man sich der Intensität nicht entziehen, die Sturgeon durch die Beschreibung der Probleme seiner Hauptpersonen wachruft. Er kennt bis ins Innerste Alltäglichkeiten, Fehlgriffe, Vergessen, Nachlässigkeiten, und eigentlich ist es nichts Besonderes, was er beschreibt, aber durch die Kombination mit Ausnahmesituationen gehen die Geschichten zwingend ein Stückchen tiefer...


*


Leseprobe

Um genau diese Wirkung auf Gefühle und die Darstellung der Atmosphäre zu veranschaulichen, sind hier zwei Zitate gewählt.

In der Story "Thunder and Roses" ("Donner und Rosen", 1947) trifft die Hauptperson Pete den Techniker Sonny. Langsam, nach und nach, geht dem Leser die volle Größe des Dilemmas auf:

"Hallo, Sonny! Genug warmes Wasser da?"

"Warum nicht?" lachte Sonny. Pete erwiderte das Lachen und überlegte, daß man heutzutage nichts mehr sagen konnte, ohne an die trostlose Lage erinnert zu werden. Natürlich gab es genug warmes Wasser. Die Kaserne hatte warmes Wasser für dreihundert Leute. Drei Dutzend davon waren noch übrig. Die anderen - Männer, die den Tod vorgezogen hatten, Männer, die in den Bergen umherirrten, Männer, die in Gummizellen saßen... [...]

Pete trat unter die Dusche und drehte so lange an den Hähnen, bis Temperatur und Druck genau stimmten. Er tat in diesen Tagen nichts oberflächlich. Es gab so viel zu fühlen, zu schmecken, zu sehen. Den harten Wasserstrahl auf der Haut, den Seifengeruch, Licht und Wärme, den Druck des Bodens gegen seine Fußsohlen. ... Flüchtig dachte er darüber nach, ob ihm die langsame Umwandlung von Stickstoff in C-14 schaden konnte, wenn er peinlich auf Sauberkeit achtete. Überhaupt, was kam zuerst? Blindheit? Kopfschmerzen? Appetitlosigkeit? Oder ein allmähliches Ermüden?

Das ließ sich ohne weiteres herausfinden. Aber wozu die Mühe? An der Strahlenkrankheit starben sicher die wenigsten. Es gab eine Menge anderer Dinge, die rascher töteten. Das Rasiermesser beispielsweise. Die Sonne fing sich in der gekrümmten Fläche. (...)

Warum brachten ihn eigentlich immer diese vertrauten Dinge auf Todesgedanken?" (aus: James Gunn
(Hrsg.): Von Heinlein bis Farmer, Wege zur Science Fiction, 5. Band, 1989, S. 199)


*


Der Anfang der folgenden Story ist ein gutes Beispiel für die verdichtete Atmosphäre, die Sturgeon hervorrufen kann. Stephen King nahm sich Sturgeon zum Vorbild:

ES wandelt in den Wäldern.

ES war nie geboren. ES existierte. Unter Tannennadeln schwelen die Feuer, tief und rauchlos im Humus. In der Hitze, in der Dunkelheit und der Fäulnis gibt es Wachstum. Es gibt Leben, und es gibt Wachstum. ES wuchs, aber es war nicht lebendig. ES wandelte ohne Atem durch die Wälder und dachte und sah und war häßlich und stark, und ES war nicht geboren, und ES lebte nicht. ES wuchs und bewegte sich, ohne zu leben. [...]

ES kannte keine Barmherzigkeit, kein Lachen, keine Schönheit. ES besaß Stärke und große Intelligenz. Und - vielleicht war ES nicht zu zerstören.
(aus: Theodore Sturgeon: "ES", Science Fiction Stories, 1948 by Sturgeon, München, S. 7)


*


Literatur für den biographischen Teil:
Alpers/Fuchs/Hahn/Jeschke (Hrsg.): Lexikon der
Science Fiction-Literatur, Bd. 1, München 1980,
Heyne Verlag


*


Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben

Erstveröffentlichung 1998

5. Januar 2007