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SF-JOURNAL/058: Akzente... "damals & heute", Social Science Fiction (SB)


SOCIAL SCIENCE FICTION damals & heute:


Die britische Autorin Mary Gentle stößt mit ihrer Kurzgeschichte "Die Ernte der Wölfe" auf ein grundsätzliches, menschliches Dilemma.


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Social Science Fiction damals...

Zur Social Science Fiction gehören laut Isaac Asimov in seinem Aufsatz "Social Science Fiction" von 1953 Stories über die Wirkung wissenschaftlichen Fortschritts auf die Menschen. Ihren Beginn datiert er auf das Jahr 1945, als die Atombombe die soziale Bedeutung der Science Fiction Literatur deutlich machte. Aber natürlich waren SF-Stories mit sozialem Hintergrund schon vorher hin und wieder erschienen. Sie handeln von gewöhnlichen Menschen, die in der Regel von wissenschaftlichen und technischen Veränderungen und Auswirkungen am direktesten betroffen sind.

Es setzt uns Menschen des 21. Jahrhunderts wohl kaum in Erstaunen, wenn diese Geschichten häufig trübe Zukunftsaussichten mit einer Tendenz zum noch Schlechteren hin aufweisen. Die wenigen Stories, die positive Richtungen darzustellen versuchen, wirken eher langweilig und unglaubwürdig bzw. angepaßt und opportunistisch. Und die Stories oder Romane, die tatsächlich eine Vision im Sinne eines Hinweises, der Eröffnung einer Möglichkeit oder auch nur einer Ahnung darauf enthalten, daß die menschliche Entwicklung vielleicht eine vollkommen andere hätte sein können als die, die wir allem Anschein nach favorisiert haben, sind sehr, sehr rar.


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Social Science Fiction heute ...

Fast muß man sich beeilen, will man mit dem Thema Social Science Fiction überhaupt noch eine Leserschaft erreichen. Der allgemeine Fortschritt geht so rasant und gründlich vor sich, daß bald nichts mehr von sozial im Sinne von 'dem Wohl der Allgemeinheit dienend' übrig ist, wenn es denn überhaupt jemals so gemeint war. Längst hat der (Sozial-)Staat als Raubsystem sein wahres Gesicht gezeigt.

Tatsächlich droht Social Science Fiction vollständig aus unserem Denken zu verschwinden, und nachfolgende Generationen werden vermutlich aufgrund existentieller Sorgen kaum noch in der Lage sein, nachzuvollziehen, was das bedeutet. Mittlerweile leben die meisten Menschen in gesellschaftlichen Verhältnissen, welche sie derart an die Bewältigung ihres Alltags fesseln, daß darüber hinaus, zu überlegen, wie man den nächsten Tag bewältigt (oder der Flucht vor diesem Problem), wenig Wünschenswertes übrig bleibt.

Damit einhergehend nimmt die Neue Weltordnung, angeführt von der Weltmacht USA, immer grausamere Formen an. Seit jeher ist die amerikanische Mentalität und ihre vielgepriesene freiheitlich-soziale Ausrichtung derart gestaltet, daß jeder sich selbst der nächste ist: mit dem Ergebnis, daß mehr als 30 Millionen Menschen infolge akuter Armut vom Hungertod bedroht sind. Das wird nicht etwa als Manko des amerikanischen Sozialsystems betrachtet, sondern vielmehr als natürliche Auslese.

Aber abgesehen davon hinkt der Begriff Sozialstaat an sich. Denn an der Idee, beispielsweise über das Verteilungsproblem das Leiden der Welt in den Griff zu bekommen, sind schon viele kluge Köpfe gescheitert. Inzwischen weiß man, daß die Versorgungsgüter einfach nicht für alle Menschen reichen.

Und mit genau diesem Problem setzt sich die britische Autorin Mary Gentle in ihrer Story "Die Ernte der Wölfe" auseinander. Sie holt mit ihren Überlegungen wesentlich weiter aus als gewohnt, bleibt eben nicht beim Verteilungsproblem stehen, und stößt dabei auf ein grundsätzliches, menschliches Dilemma.


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Social Science Fiction von Mary Gentle

Eine eher Unbekannte innerhalb der Science Fiction-Szene ist die britische Autorin Mary Gentle (geboren 1956). Bereits in ihrem Debütroman "Der silberne Falke" ("A Hawk in Silver") verstand es die damals gerade erst 18-Jährige Fragen zu stellen, ohne auf Antworten oder Lösungen zu pochen. Dieses Jugendbuch ist eine gelungene Mischung aus Fantasy- und Real-Roman, in dem Mary Gentle sowohl die Welt des Märchens als auch die der Menschen mit ihren jeweiligen Problemen darstellt, sie für eine gewisse Zeit miteinander verwebt, am Ende aber doch auf die ernüchternde Tatsache zurückkommt, daß Menschen nun einmal ihre eigenen, menschlichen Probleme haben, und die Völker des Königreichs der Zauberwelt Faeries die ihren. Eine Flucht von der einen in die andere Welt ist nicht hilfreich. Wichtig bleibt bei allem, sich einer Sache niemals ganz sicher zu sein und nicht damit aufzuhören, Fragen zu stellen.

Dieses Motto sollte Mary Gentle auf ihrem schriftstellerischen Werdegang beibehalten und weiterentwickeln. Bereits während ihres Geschichtsstudiums schrieb und publizierte sie Science Fiction Literatur. Ihre Art Fragen zu stellen, zu hinterfragen oder gänzlich in Frage zu stellen ist im Laufe der Jahre um einiges präziser geworden.

Mary Gentle schreibt ohne überflüssiges Beiwerk und wenig gefühlsbetont, dafür umso nüchterner und treffender, wie man an der Story "Die Ernte der Wölfe" überprüfen kann, die sie im Alter von 27 Jahren verfaßte.


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Die Story

Mary Gentle: Die Ernte der Wölfe (The Harvest of Wolfes, 1983) erschienen bei Bastei Lübbe: SF Special, World's Best SF 3, 1984 Hrsg.: Wollheim und Saha

Die dreizehn Taschenbuchseiten lange Geschichte spielt irgendwann in der nahen Zukunft in irgendeinem beliebigen Staat auf der Erde. Die Roten drohten die Weltherrschaft zu übernehmen, und nach langer, kriegerischer Auseinandersetzung ist es einem Diktator namens Foster gelungen, sein Land davor zu bewahren, ein Satellitenstaat der Roten zu werden. Die Lage scheint vorerst gesichert, allerdings zu einem hohen Preis:

Die Story beschreibt den Besuch des 15jährigen Kadetten Peter Marlow bei der alleinlebenden, verwahrlosten 60jährigen Bürgerin Flix. Unter dem Deckmantel der Verteilung von Wohlfahrtsrationen werden alte oder kranke Menschen auf ihre Überlebensfähigkeit hin kontrolliert. Als Mitglied des Jugendkorps muß Marlow regelmäßig Berichte über seine Arbeit vorlegen, woraufhin die Meldebehörde entscheidet, welcher Bürger es weiterhin wert ist zu leben oder nicht.

Marlow selbst steckt ebenfalls in einer Zwangslage. Er haust mit seiner fünfköpfigen Familie in einer heruntergekommenen Zweizwimmerwohnung, meist ohne Strom. Der Hunger ist überall groß, Arbeit gibt's nicht und selbst wenn - mit Geld kann man schon lange nichts mehr kaufen.

Nun ist es aber so, daß Marlow durchaus noch menschliche Regungen aufweist und Bürgerin Flix anscheinend schon eine ganze Weile aufsucht, ohne bisher einen der erforderlichen Berichte abgeliefert zu haben.

Eine Verständigung zwischen Marlow und Flix scheint kaum noch möglich, zu groß sind die Not und der Zwang auf beiden Seiten. Dennoch existiert ein Rest von Zuwendung, entwickelt sich eine Art Streitgespräch, wenn auch voller gegenseitiger Vorwürfe.

Flix war in jungen Jahren eine politisch engagierte Kämpferin. Sie hatte den Mumm, Fragen zu stellen, vor allem in Bezug auf die verschiedensten Staatsformen und ihre jeweiligen Regierungssysteme. Und heute?

Ich kämpfe, rief sie sich voller Bitterkeit ins Gedächtnis; ich kämpfe - Gott weiß warum - um mein Leben.

(...)

Du wirst niemals begreifen, wie sehr es mich schmerzt, daß es vergeht... Ach, mein Gott, das Wissen, daß es vorbei ist, endgültig und unwiderruflich vorbei, zerreißt mir das Herz. Du bist einer von den Leuten, denen wir helfen wollten. Ich meine dich, Marlow! Doch als es ans Denken ging - und ich weiß, daß das wahrhaftig nicht einfach ist -, da wolltest du nicht. Du bist lieber mit dem Mob marschiert.

Am Ende schreibt Marlow dann doch seinen Bericht. Allerdings nicht, ohne Flix gleichzeitig einen Brief zukommen zu lassen, in dem er sie warnt und sich entschuldigt. "Ich muß leben", so erklärt er und setzt darauf, daß Flix' ehemalige Freunde, von denen sie ihm erzählte, ihr ebenfalls zum Weiterleben verhelfen werden. Denn in einem der sogenannten Wohlfahrtslager würde Flix wohl kaum eine Woche lang durchhalten.

Also läßt Flix ein letztes Mal ihre Verbindungen spielen. Sie ruft ihren 'Freund' bei der Meldebehörde an, einen früheren Kampfgefährten, der sich auf krummen Wegen, von denen nur sie weiß, hochgearbeitet hat, und erpreßt ihn. Zusätzlich bietet sie ihm eine Namensliste von Mitgliedern damaliger Untergrundzellen an. Der Plan geht auf. Der 'Freund' wird ihr einen Ort zum Leben besorgen, an dem sie nicht friert, genug zu essen hat, ihre Musik hören und ihre alten Bücher lesen kann.


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Und so endet die Story. Sicher, diese Geschichte hätte heute in der Science Fiction keinen Platz mehr - ist doch ein ähnliches Leben wie das von Flix und Marlow längst für viele Menschen ganz normaler Alltag: Derzeit leben etwa 1,2 bis 1,5 Milliarden Menschen in großer Armut und müssen mit einem US-Dollar pro Tag auskommen. Die Zahl derjenigen, die mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen müssen, wird auf 2,8 bis 3,1 Milliarden geschätzt; das ist immerhin mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, Tendenz steigend. Ganz zu schweigen von den damit einhergehenden Lebensumständen und Bedingungen mit oftmals schnellem, tödlichem Ausgang. Auf diese Weise sich selbst überlassen werden ganze Menschenmassen gewissermaßen ohne viel Aufhebens und hinterrücks vom Staat ermordet.

Zahlen zum Weglaufen, sicher! Jedoch nicht für Science Fiction- Autoren und deren Leser. Über das Thema soziale Armut, Hunger, Not und Elend setzt sich beispielsweise Mary Gentle in der Form hinweg, als sie es als Gelegenheit benutzt, an den Grundfesten menschlicher Überlebensfähigkeiten und -möglichkeiten schlechthin zu rütteln. Interessant wäre eine wiederum daraus folgende Auseinandersetzung.


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Akzente
Hinweise auf
- Bemerkenswertes, Erfreuliches und Wissenswertes
- Höhepunkte und Tendenzen in der Entwicklung
- neue literarische Richtungen
- gesellschaftliche Einflüsse

Erstveröffentlichung 2002

9. Januar 2007