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SF-JOURNAL/055: Akzente... "damals & heute", Überbevölkerung (SB)


Überbevölkerung


Der alljährlich erscheinende Weltbevölkerungsbericht, herausgegeben vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), macht es wieder einmal deutlich: Es wird eng auf unserem Planeten und die Zeit drängt. Bis zum Jahr 2050 wird die Weltbevölkerung voraussichtlich von 6,1 Milliarden Menschen Mitte 2001 auf 9,3 Milliarden anwachsen. Darüber hinaus haben wir es mit massiven Problemen wie tödlichen Krankheiten, Wasser-, Ernährungs-, Umwelt- oder Klimanotständen zu tun, ganz zu schweigen von der zunehmenden Anzahl an Kriegen.

Gegenwart und Zukunft sehen düster aus, und so überrascht es nicht, daß es um das Thema Überbevölkerung in der Science Fiction-Literatur stiller geworden ist, je schrecklicher die sich abzeichnenden Entwicklungen. Es verschlägt uns mittlerweile regelrecht die Sprache.

Das war nicht immer so. In den 70er und 80er Jahren gab es eine Vielzahl von Romanen und Kurzgeschichten, die sich unter anderem mit dem Problem der rasant ansteigenden Weltbevölkerung auseinandersetzten; wobei die Autoren und deren Verleger schon damals damit zu kämpfen hatten, derartige Themen im Bereich der Unterhaltungsliteratur unterzubringen und zu verkaufen.

Begriffe wie Anti-Utopien oder Dystopie wurden bereits in der Zeit der ersten amerikanischen SF-Magazine in den frühen 40er Jahren geprägt. Die Anti-Utopie enthält die Vorstellung, daß die Menschheit auf jeden Fall von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Die Dystopie hingegen zeigt auf, wie bestimmte Entwicklungen sich für die Menschheit zum Schlechten statt zum Guten wenden könnten und endet nicht selten in der Hoffnung, daß die Zustände, die die Menschen selbst heraufbeschworen haben, unter Umständen noch korrigiert werden können. Bei der Arbeit an gleichgelagerten Zukunftsproblemen prallten innerhalb der Science Fiction-Welt Skeptiker, Zyniker, Satiriker und Hoffnungsträger gleichermaßen aufeinander. Darüber entwickelte sich ein regelrechter Streit, was den literarischen Umgang mit den unterschiedlichsten Visionen betrifft.


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Ein produktiver Mitstreiter innerhalb dieser turbulenten und sehr lebendigen Science Fiction-Szene war der 1919 geborene Herausgeber, Anthologist und Autor Frederik Pohl.

Im Jahr 1983 veröffentliche er eine markante Kurzgeschichte zum Thema Überbevölkerung mit dem Titel "Ein Tag auf dem Lotterie-Jahrmarkt", nachzulesen im Jahrbuch 1984 "SF Special, World's Best SF 3", Bastei Lübbe Verlag. Die Herausgeber Donald A. Wollheim und Arthur W. Saha gaben dazu folgende einführende Erläuterung:

Noch vor wenigen Jahren waren Glücksspiele und Lotterien in vielen Teilen der USA gesetzlich verboten und wurden von den religiösen Kräften als böse verdammt. Aber kaum hatten sich die wirtschaftlichen Bedingungen verschlechtert, da hörten die Lotterien plötzlich auf, Objekte der Sünde zu sein, und wurden mit Beifall begrüßte Methoden, um 'die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern' oder, wie auch immer die Entschuldigung dafür lautete, Geld zu beschaffen. Plötzlich wurde der Glücksspielinstinkt, wenn schon nicht gerade vom Himmel gesandt, so doch wenigstens gut für den Staat. Und darum wendet Frederik Pohl dieses aufregende System auf ein weiteres der erschreckenden Probleme der sehr nahen Zukunft an - die Überbevölkerung.

Die Geschichte ist nur 14 Taschenbuchseiten kurz, und recht schnell erzählt, aber sie hat es in sich: Frederik Pohl beschreibt darin den Ausflug einer amerikanischen Familie auf einem Lotterie-Jahrmarkt. Nichts Besonderes mag der Leser denken, aber "wenn man eine Frau und drei Kinder und keine Arbeit hat, von der Wohlfahrt lebt und nie über morgen nachdenkt, weil man weiß, daß es morgen nichts gibt, über das nachzudenken sich lohnte, dann ist ein Tagesausflug für die ganze Familie ein Ereignis, für das man dankbar ist." (S. 108)

Ohnehin ist der Jahrmarkt ein Meisterwerk amerikanischen Erfindungsgeistes. Denktanks und Regierungsagenturen sowie drei namhafte Universitäten haben dabei geholfen, den Jahrmarkt mit allen Unterhaltungsprogrammen, die man sich als Mensch nur denken kann, vor allem jedoch unter Berücksichtigung des Problems des Bevölkerungsüberschusses, zu entwerfen. Dabei muß man wissen, daß die Amerikaner weder von Abtreibung noch von Verhütung etwas halten. Sie vertreten die Meinung, daß jedes menschliche Wesen vom Augenblick der Zeugung an ein Recht auf Leben hat - wenn auch nicht unbedingt auf ein langes.

Der Besuch des Marktes ist selbstverständlich freiwillig und für amerikanische Staatsangehörige kostenlos, jedenfalls was das Geld betrifft. Am Haupteingang erhält jeder Gast eine eigene Nummer und diverse Eintrittskarten. Alle Veranstaltungen unterliegen einem sorgfältig ausgeklügelten System: An jedem Kartenschalter -selbst Parkbänke und Toiletten kosten in diesem Sinne Punkte -geht der Besucher das geringfügige Risiko ein, daß seine Nummer an der Reihe ist. Und das bedeutet: eine absolut tödliche, jedoch völlig schmerzlose Injektion, was man den Gesichtern all jener, die schon gegangen sind, und die kurz danach in der Lebens- und Todeshalle ausgestellt werden, ansehen kann. - Und natürlich bleibt auch die hier beschriebene Familie davon nicht verschont. Die Eltern müssen die Heimreise leider ohne ihre drei Kinder antreten...


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Ein grausames Ende? Sicherlich, aber die Wirklichkeit ist mittlerweile viel grausamer. Daran gemessen ist dieser Jahrmarkt doch ein sehr aufwendiges und wenig nutzbringendes Unternehmen, was die Reduzierung der Weltbevölkerung betrifft.

Die aktuellen Bekämpfungsmaßnahmen gehen wesentlich großflächiger, systematischer und gründlicher vor; oder, um es zeitgemäß auszudrücken, global und nachhaltig. Hierzu eine kleine Schlagzeilensammlung aus der Nachrichtenwelt von heute:

- Biowaffen zur Nahrungsmittelvernichtung - Erfrieren und Verhungern - Endlösung des Altersproblems - EU sei dank ... Rekordzahl an Kältetoten in Osteuropa - Vernichtung durch Hunger nicht nur in Afghanistan - Argentiniens Landbevölkerung wird künftig noch mehr hungern - Putin macht's vor ... mit Sport den Hunger vertreiben - Vor dem Angriff systematische Aushungerung des Irak - Rumänien dank Weltbank-Dekret bald vollständig ausgesaugt - Hinrichtungen gegen soziale Not - Putins Rechtsstaat - Vorbild USA ... für die Zunahme der Verarmung

Und um noch einmal auf den anfangs erwähnten Weltbevölkerungsbericht 2001 zurückzukommen: Angesichts all dessen erscheinen die jeweils dreizeiligen, nichtssagenden Handlungsempfehlungen Punkt 1 bis 4 am Ende des Berichts, die auch noch als realistisch umsetzbar präsentiert werden, wie der nackte Hohn.

Die Aussichtslosigkeit unserer Lage erscheint allerdings noch viel schwerer zu ertragen, und wohl deshalb verschließen viele Menschen Augen, Mund und Ohren und schenken dem vorgegebenen, institutionellen Aktionismus entgegen aller besseren Erfahrung Glauben, ungeachtet der Überlegung, daß der Mensch durchaus andere Möglichkeiten hat.


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Akzente
Hinweise auf
- Bemerkenswertes, Erfreuliches und Wissenswertes
- Höhepunkte und Tendenzen in der Entwicklung
- neue literarische Richtungen
- gesellschaftliche Einflüsse

Erstveröffentlichung 2002

9. Januar 2007