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BUCHTIP/1221: Der Falke - Taschenkalender für Vogelbeobachter 2012 (SB)


Der Falke - Taschenkalender für Vogelbeobachter 2012


Nanu, welch lustiger Geselle blickt denn da vom Cover des Falken-Kalenders 2012 herunter? Der elegant behütete Kopf mit den listigen Knopfäuglein im spitzen Gesicht versinkt geradezu im großen Kragen eines wie lässig über die Schultern geworfenen bauschigen Umhangs, der zudem noch viel Bein zeigt. Das Bild erinnert an eine erfolgsverwöhnte Operndiva, die gerade den Applaus des Publikums entgegennimmt.

Welch Verkennung! Wie so oft überträgt der Mensch auf die Tiere seine eigenen Vorstellungen, und das Wesen, das sich hinter der Projektionsfläche verbirgt, wird kaum wahrgenommen. Tatsächlich nämlich ist es ein Vogel, der den martialischen Namen "Kampfläufer" gewiß nicht zu unrecht trägt. Doch ist die aus ornithologischer Sicht richtige Benennung eines Geschöpfs nicht ebenfalls eine solche Projektion? Und wie verhält es sich, wenn man, wie beim "Monatsvogel" des Januars in dem Kalender von dem "perlende[n] Gesang des Rotkehlchens" ausgeht, so als ob der Vogel tatsächlich - womöglich gar dem Menschen zu Gefallen - nichts anders täte als schön zu singen?

Neben Denkanstößen dieser Art bietet dieses handliche Taschenbüchlein, das gut in jeden Rucksack paßt, viele sorgfältig recherchierte Artikel und enthält darüber hinaus auch alles, um dem Naturfreund und Vogelbeobachter in den unterschiedlichsten Situationen behilflich zu sein: ein geräumiges Kalendarium, den stets aktuellen Zugvogelkalender, eine aktualisierte Beobachtungsliste, eine Auflistung von Vogelmessen im Jahr 2012, wichtige Adressen für ornithologische Vereine und Verbände, Institute und Museen, und das alles mit reichlich Platz für eigene Notizen. Natürlich fehlen auch diesmal nicht - vielleicht für gelegentliche Momente der Muße während Vogelexpeditionen - die farblich herausgehobenen "Monatsvögel" (diesmal über das bereits erwähnte Rotkehlchen, die Weißwangengans, das Schwarzkehlchen, die Mönchsgrasmücke, den Austernfischer, den Rotkopfwürger, den Flußregenpfeifer, die Bachstelze, den großen Brachvogel, die Saatkrähe, den Kolkraben und den Habicht).

Aufschlußreich bezüglich der eingangs formulierten Frage ist auch Daniel Doers Bericht über die Satellitentelemetrie. In "Schelladler "Tönn" - das virtuelle Phantom" [S. 203-206] liefert er einen Einblick in moderne Vogel-Erfassungsmaßnahmen. "Tönn" wurde als nestjunger Vogel mit einer Satellitenantenne ausgestattet, zur Freude aller Vogelbeobachter, die nun via Internet dessen Zugroute verfolgen können. Daß das arme, ohnehin schon an beiden Füßen mit Metallringen versehene Tier zudem auch noch mit einer sichtbar weit nach oben herausragenden Antenne umherfliegen muß, ist dabei nicht einmal eine Erwähnung wert. Vielmehr wird die unzulängliche Technik beklagt. Da die Satellitensender aus Kosten- und Energiespargünden keine ständigen Positionsbestimmungen in den Orbit senden können und es zudem zu fehlerhaften Übertragungen kommt, will es nicht so recht gelingen, die virtuelle Realität mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Dem auf diese Weise "gläsernen Vogel", dessen Zugverhalten am liebsten lückenlos erfaßbar gemacht werden soll, bleiben somit wenigstens noch einige Schlupflöcher für ein "Privatleben".

Die Frage nach dem Nutzen eines solchen Einsatzes einer hochentwickelten Technologie für Mensch oder Vogel wurde allerdings weder gestellt noch beantwortet.

Einen interessanten Bericht über die Haveländische Luch in Mecklenburg-Vorpommern verfaßte Torsten Langgemach. Hierbei handelt es sich um ein nicht nur aus ornithologischer Sicht einzigartiges Gebiet, das im Lauf der Jahrzehnte auch wegen der politischen Umwälzungen starken Veränderungen unterworfen war. Dank älterer Naturbeschreibungen, die Erich Hesse in mehreren Artikeln zwischen 1910 und 1914 im Journal für Ornithologie veröffentlichte, weiß man heute, wie vielfältig das Artenvorkommen damals war. Doch diese Vogelpracht war schon damals gefährdet. Seinerzeit schrieb Hesse, wie im Kalender zitiert, daß er eigentlich "die einstigen Vögel der einstigen Luche" schreiben müsse:

Denn leider sind der nimmersatten Kultur nunmehr auch diese meilenweiten Brücher, die Niedermoore des Havellandes, in denen sich noch bis in die letztvergangenen Jahre insbesondere zur Brutzeit ein unvergleichliches Vogelleben entwickelte, zum Opfer gefallen, durch die großen Entwässerungsarbeiten der jüngsten Zeit werden diese Gebiete für immer vernichtet, sie sind es zum großen Teil schon. [S. 193/194]

Zu DDR-Zeiten dann, als deren Regierung bestrebt war, die Bevölkerung autark mit selbstproduzierten Lebensmitteln versorgen zu können, wurde auch in diesem Tiefmoorgebiet weitgehend intensive Landwirtschaft betrieben, und nur ein geringer Teil blieb einer einzigartigen Vogelkultur überlassen. Langgemach schildert, wie heute versucht wird, zurückzurudern und den Schaden wieder gutzumachen. Bei den Beschreibungen darüber, was den Besucher heute in diesem Landstrich erwartet, bleibt für den interessierten Vogelkundler keine Frage mehr offen.

Der Redakteur Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann schließlich kritisiert in seinem Text "Schlamperei in der Sprache der Vogelkundler: Optimal ist nicht optimal" [S. 190/91] den laxen Umgang mit dem Gesehenen, in diesem Fall der "optimalen Anpassung" am Beispiel des Alpenschneehuhns, bei dem etwa der dreimal jährlich stattfindende Gefiederwechsel nach den Farben der Saison allzuschnell als eine solche gewertet wird. Seine Kritik besteht darin, daß der Kosten-Nutzen-Faktor dabei nicht ausreichend berücksichtigt wird, denn die Mauser kostet den Vogel viel Energie, was ihn schwächt und somit angreifbar macht. Bergmann bezieht sich auf die Verhaltensbiologie, in der "Optimale Anpassung" als Kompromiß zwischen Maximum und Minimum verstanden wird:

Ein Tier kann beispielsweise umso besser der Gefahr und durch Feinde begegnen, je größer die Gruppe von Artgenossen ist, der es sich anschließt. Viele Vögel trifft man aber in Trupps an. Je größer der Trupp ist, desto eher wird ein sich nähernder Feind entdeckt. (...) Andererseits wird auch die Nahrungskonkurrenz größer, wenn viele Fresser da sind. Nicht die maximale Truppgröße wird angestrebt, sondern eine optimale. [S. 191/192]

Ein Optimum, von seiner Wortbedeutung "das Wirksamste", "der Bestwert" oder "das Höchstmaß", könnte eigentlich nur bedeuten, daß das Tier seinen Widersachern Fuchs, Wiesel oder Steinadler mit dieser Methode unter allen Umständen entkommen kann - was hier gewiß nicht der Fall ist.

Und was die Anpassung an sich anbelangt: Muß jedes Handeln des Tieres ein solches Abwägen zum Zwecke der Anpassung sein? Könnte es nicht auch für Vögel - ebenso wie für den Menschen - andere Gründe geben, sich zusammenzutun?

Dies scheint nach Auffassung der Verhaltensbiologen im Spektrum tierischen Verhaltens nicht enthalten zu sein. Um zumindest aus eigener Sicht unangefochten seinen Platz als Krone der Schöpfung zu behaupten, räumt der Mensch seinen gefiederten Mitgeschöpfen nur einen niederen Rang ein. Demnach sind Vögel Wesen mit kaum vorhandener Intelligenz, geschweige denn einem freiem Willen, ausschließlich reaktive, trieb-gesteuerte Kreaturen mit genetisch vorprogrammierten Verhaltensweisen. Handelt es sich hier nicht, kaum anders als bei der eingangs geschilderten Fehldeutung beim Kampfläufer, um eine solche Schablone, die den unvoreingenommenen Blick auf den Vogel versperrt?

Gerade der "Titelheld" Kampfläufer zeigt nämlich, daß es sich hier um eine Vogelart mit äußerst vielschichtigem und für uns Menschen teils kaum verstehbarem sozialen Miteinander handelt (mehr dazu im "Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 5/2011" veröffentlichten Artikel von Natalia Karlionova "Zug und Fortpflanzungsstrategien: Geheimnisvolle Kampfläufer"). Sich weiterführend mit grundsätzlichen Fragen der Verhaltensbiologie auseinanderzusetzen, hätte natürlich den Rahmen dieses Kalenders, der jedem Vogelfreund gleichwohl nur empfohlen werden kann, überschritten.

30. Januar 2012

Der FALKE-Taschenkalender für Vogelbeobachter 2012

AULA-Verlag Wiebelsheim 2011
264 Seiten, 7,90 EUR
ISBN: 978-3-89104-756-9