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BUCHTIP/1122: Brehms verlorenes Tierleben (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2008

Brehms verlorenes Tierleben
Von Hanna Zeckau und Carsten Aermes

278 S. (davon 16 S. Vorwort), 70 Farbabbildungen und
3 Übersichtskarten, Hardcover Leinen, 17,5 x 25,0 cm
Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 2007
ISBN: 978-3-86150-794-9. EUR 29,90


Mit dem schlagzeilenartigen Titel Brehms verlorenes Tierleben verknüpft das vorliegende Buch Alfred Edmund Brehms (1829-1884) zoologischen Texte des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit neu geschaffenen Illustrationen im traditionellen Stil und dem aktuellen Wissensstand um Aussterbeereignisse unter Säugetieren und Vögeln - eine aus naturwissenschaftlicher Perspektive unglückliche, unter ästhetisch-künstlerischen Gesichtspunkten äußerst gelungene Verbindung. Denn während ein erheblicher Teil der heute ausgestorbenen Säugetiere und Vögel in Brehms Tierleben keine artspezifische Abhandlung gewidmet bekommen hatte (zum einen, weil diese zu Brehms Zeiten schon als ausgestorben galten und in seinem Werk zu rezenten Tieren keinen Platz gefunden hatten, zum anderen, weil gerade im pazifischen Raum die großen Forschungsreisen von American Museum of Natural History und Rothschild Museum, die zu vielen heute ausgestorbnen Arten große Erkenntnisse ermittelten, noch ausstanden), wollten die Autoren des vorliegenden Buchs dennoch nicht auf diese Arten verzichten und gaben nun allgemeine Texte von anderen Vertretern der gleichen Gattung oder gar Familie hinzu. So verliert das Buch gerade bei spannenden inselspezifischen Biologien von Arten wie der Bonin-Erdrossel Zoothera terrestris, zu der Brehm nichts wusste, durch fade Passagen, hier zur Familie der Drosseln, an Brisanz.

Das Buch wird mit einem lesenwerten Vorwort von Prof. Reichholf von der Münchner Zoologischen Staatssammlung zum Themenkreis Aussterbeereignisse eingeleitet. Dabei stellt Reichholf das Aussterben der letzten 500 Jahre in einen globalen wie zeitlichen Kontext und relativiert dadurch, oft zu Recht, festgefahrene Anschauungen, wenn Altbekanntes neu besehen wird: zum Beispiel der "ausgestorbene" Auerochse, der in Millionen von Milchkühen genetisch fast unverändert und evolutiv erfolgreich weiterlebt. Der Hauptteil des Buches ist zweigegliedert: In einem ersten Teil, der im Folgenden näher betrachtet werden soll, werden ausgestorbene Vögel vorgestellt und in einem zweiten Säugetiere gleichen Schicksals. Beide Kapitel werden durch jeweils eine Weltkarte eingeführt, auf der geografisch verteilt die verschwundenen Arten und Unterarten, nicht immer exakt, aufgezeigt werden (der um 1844 ausgestorbene Riesenalk Alca impennis ist auf dem zentralen grönländischen Festland eingezeichnet, anstatt für die Küsten nordatlantischer Inseln wie Funk, St. Kilda, Eldey, Färoes, Orkney und Island). Andere Taxa sind hier überhaupt nicht berücksichtigt, so die zwei auf Laysan verschwundenen Unterarten von Hawaiirohrsänger Acrocephalus familiaris familiaris und Laysanapapane Himatione sanguinea freethii.

Die für jede Art/Unterart angegebenen grafisch ansprechenden Piktogramme geben einen Kurzüberblick zu Gesamtgröße des Vogels, Gelegegröße, Verbreitung, Habitat und Aussterbegrund. Die Abbildungen der einzelnen Arten, kolorierte Zeichnungen, und Texte sind über Nummern in Bezug zueinander gestellt - eine pseudowissenschaftliche Zuordnung, deren Wert man durchaus hinterfragen darf: Braucht der allgemein interessierte Leser tatsächlich eine Nummer, um den Hals des Arabischen Straußes, den Schnabel eines Lappenhopfes oder den Fuß der Wandertaube zu finden? Die zusätzlichen kurzen Erläuterungen der Autoren sind oft nicht aktueller als Brehms eigene Recherchen: So wird für den Lappenhopf Heteralocha acutirostris durch Brehm das Nahrungssuchverhalten der beiden in Schnabelmorphologie geschlechtsdimorphen Partner sehr ausführlich und gut beschrieben, während die Autoren das alte - und falsche - Klischee der Zusammenarbeit der Partner beim Nahrungserwerb unkritisch wiedergeben; die Geschlechter haben sich viel mehr unterschiedliche Nahrungsnischen erschlossen, um einer intraspezifischen Nahrungskonkurrenz im engen Umfeld auszuweichen. Es finden sich etliche derartige Ungenauigkeiten im Buch, die eindeutig davon zeugen, dass kein evolutionsbiologisch versierter Ornithologe/Mammaloge das Buch verfasste, sondern Grafiker. Die Abbildungen sind dann auch die interessante Hälfte des Buchs, da diese zwar nicht naturwissenschaftlich exakt (da waren viele der Brehm'schen Darstellungen besser) und farbqualitativ oft verfälscht (Grüntöne zu hell und schrill), aber dennoch in anziehender, attraktiver, künstlerischer Form altes Sammlungsmaterial der naturkundlichen Museen von Berlin und Wien kurios veranschaulichen (ausgezeichnet als eines der schönsten deutschen Bücher 2007). So kann das vorliegende Werk auch allein demjenigen empfohlen werden, der ein grafisch ansprechendes Buch mit edlem, bedrucktem Leineneinband zur Auslage auf seinem Couchtisch sucht, dem die Kuriosität von Sammlungsmaterial und alten Texten liegt oder der Gefallen an naturwissenschaftlicher Illustration findet. Wer tatsächlich etwas über ausgestorbene Vögel lernen möchte, sei auf das Buch eines anderen Künstlers verwiesen, der dennoch über Kontakte zu den großen Ornithologen und Institutionen unserer Zeit ein fundiertes Werk geschaffen hat, Errol Fullers Extinct Birds (überarbeitete Auflage 2001, Cornell University Press, Ithaca, New York). Zudem hat die Neue Brehm-Bücherei (Bandnummer 424, Nachdruck 1995, Westarp Wissenschaften, Magdeburg) mit Dieter Luthers Die ausgestorbenen Vögel der Welt ein weiteres wichtiges Büchlein zum Thema veröffentlicht.

F. D. Steinheimer


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2008
55. Jahrgang, Juni 2008, S. 236-237
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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Tel.: 06766/903 141; Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,60 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 47,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2008