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BUCHTIP/1102: "Der Flug des Archaeopteryx" von L. Bollen (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2008

Veröffentlichungen

"Der Flug des Archaeopteryx" von Ludger Bollen
272 S., 122 meist farbige Abbildungen und Fotos.
Hardcover, 25,5 x 19,5 cm. Quelle & Meyer 2007.
ISBN: 978-3-494-01421-0, EUR 24,95.


Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Ludger Bollen ist kein beruflicher Paläontologe, er ist Künstler und Grafik-Redakteur des "Spiegel". Alle Rekonstruktionszeichnungen und Grafiken im "Flug des Archaeopteryx" hat er selbst geschaffen - von den Fluginsekten des Steinkohlewaldes über den Archaeopteryx an den Lagunen des Jurameeres und allerlei Gefiedertes, was kein Vogel ist, bis zu den Schemazeichnungen des Vogelfluges, Stammbäumen und Zeittafeln. Die Abbildungen sind instruktiv, feinfühlig ausgeführt und keinesfalls übertrieben reißerisch, obwohl das, was dem Leser präsentiert wird, durchaus einiges an alten Gedankengebäuden durcheinander wirbelt. Gefiederte Dinosaurier, behutsam auf den Eiern in ihren Nestern sitzend oder friedlich schlafend, mit nach Vogelmanier untergeschlagenem Kopf, und manches andere mehr ist noch sehr gewöhnungsbedürftig und muss sich erst noch setzen.

So wundert es nicht, dass die Theorien, mit denen die Wissenschaften den Fossiliensegen des vergangenen Jahrzehnts aufzuarbeiten versuchen, noch nicht zu Ende gedacht sind. Aber diesen Anspruch erhebt der Autor gar nicht. Wissenschaftlich gesehen mag das Buch also zu früh erschienen sein, müsste vielleicht in zehn Jahren in wesentlichen Teilen umgeschrieben werden, weil in der Wissenschaftswelt dann Theorien favorisiert werden, die besagen, dass die Vögel nicht von gemeinsamen, reptilienartigen Vorfahren der Dinosaurier abstammen, sondern umgekehrt die Dinosaurier als flugunfähige Nachfahren früher Vögel anzusehen seien. Es tut gut, dass der Autor hier eine journalistische Distanz einnimmt und alles Für und Wider der Vogelabstammung, alles Auf und Ab der wissenschaftlichen Beurteilung der Archaeopteryx-Fossilien darstellt. Dies vermag Wissenschaftler (wie den Rezensenten) eine gewisse Demut gegenüber der Haltbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse lehren und interessierten Laien etwas den Zahn der Wissenschaftsgläubigkeit ziehen.

Entstanden ist ein flüssig geschriebenes Sach- und Lesebuch über das, was Menschen schon immer fasziniert hat: der Traum vom Fliegen. Im Mittelpunkt steht der auch nach 150 Jahren Fundhistorie immer noch einzigartige und älteste Vertreter der Tierklasse, die das Fliegen zwar nicht erfunden, aber bis zur Perfektion getrieben hat: der Archaeopteryx aus der Klasse der Vögel. Die Abschnitte über die Physik des Fluges, über Fliegen im Allgemeinen und Vogelflug im Speziellen, über Insekten, fliegende Reptilien, Fische oder Säugetiere mag man mit mehr oder weniger Spannung lesen. Wirklich aufregend ist der Streit der Wissenschaften um den Archaeopteryx, über "Vom-Baum-herunter"- oder "Vom-Boden-hoch"-Theorien, und die Auseinandersetzung mit den neuen, durchaus revolutionären Funden aus China: über die Federn bei Dinosauriern und wo sie hergekommen sein mögen, über Luftsäcke, Brutfürsorge und andere Vogelmerkmale bei Tieren, die wohlgemerkt alle als etliche Milliönchen Jahre jünger gelten als die "Sphinx von Solnhofen". Der Autor nimmt den Leser mitten hinein in eine spannende Entdeckungsreise, die vor 150 Jahren begann und zur Zeit enorm an Fahrt gewonnen hat. So gesehen kommt das Buch genau zur rechten Zeit: Der Leser kann mit auf den Zug der Zeit aufspringen und fasziniert eintauchen in eine Welt, wo manchmal noch richtig gesponnen wird (obwohl das von den Betroffenen wohl kaum einer zugeben mag). Wo die Reise enden wird, ist freilich noch unbekannt. Den FALKE-Lesern kann aber gesagt werden: Mitfahren lohnt sich.

H. Stickroth


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2008
55. Jahrgang, Februar 2008, S. 80
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141; Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,60 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 47,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2008