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PROFIL/093: Vor 150 Jahren wurde Rudyard Kipling geboren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2015

Nicht nur Sänger des Imperialismus
Vor 150 Jahren wurde Rudyard Kipling geboren

Von Hanjo Kesting(*)


Take up the White Man's burden -
Send forth the best ye breed -
Go bind your sons to exile
To serve your captives' need;
To wait in heavy harness,
On fluttered folk and wild -
Your new-caught, sullen peoples,
Half-devil and half-child.


Rudyard Kipling zählt nach wie vor zu Englands berühmtesten Schriftstellern - im Oxford Dictionary of Quotations werden nur William Shakespeare, John Milton, Robert Browning und Alfred Tennyson häufiger als er zitiert -, aber auch zu den umstrittensten. Bei seiner Bewertung haben politische Auffassungen und historische Stimmungen stets eine erhebliche Rolle gespielt. Von Robert Louis Stevenson und Henry James wurde er nach seinem ersten Auftreten begeistert begrüßt, aber schon um die Jahrhundertwende galt er als Propagandist britischer Weltmachtideen gemäß seiner berühmtesten Gedichtzeile "Take up the White Man's burden" ("Nehmt auf euch des Weißen Mannes Bürde"). Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er von der jüngeren Generation als "göttlicher Eisenfresser" vollständig abgelehnt. Von Kipling lässt sich wie von kaum einem anderen Schriftsteller sagen, dass "sein Bild in der Geschichte schwankt". "Es wird immer vieles an Kipling geben, das ich nur schwer verzeihen kann", schrieb etwa der aus Pakistan stammende, aber wie Kipling im indischen Bombay geborene Salman Rushdie über seinen rund acht Jahrzehnte früher geborenen englischen Kollegen, "in seinen frühen Erzählungen gibt es jedoch so viel Wahrheit, dass es unmöglich ist, sie zu ignorieren".

Kipling kam 1865 als Kind einer anglo-indischen Familie zur Welt und wurde in seinen frühen Jahren von einer indischen Kinderfrau, einer Ayah, erzogen, die ihn in der Landessprache mit indischem Märchengut vertraut machte. Sein Vater war Architekt und Bildhauer an der Kunstschule in Bombay, später Kurator des Museums in Lahore: ein großer Kenner altindischer Kunst; die Mutter versuchte sich als Schriftstellerin. Sechs Jahre verbrachte Kipling nach 1871 bei einer Pflegefamilie in England, weitere fünf auf einem englischen College: Die zum Teil bedrückenden Erfahrungen hat er später in der Erzählung Baa Baa, Black Sheep und in dem Sammelband Stalky & Co. beschrieben. 1882 kehrte er nach Indien zurück, begann mit 17 eine journalistische Karriere, schrieb erste Gedichte und Geschichten, die zunächst in Zeitungen, dann in Buchform (Departmental Ditties and Other Verses, 1886, und Plain Tales from the Hills, 1888) veröffentlicht wurden. Reisen führten ihn zwei Jahre lang durch Asien und Amerika. 1889, zurück in London, war er bereits ein bekannter Autor, der in rascher Folge Romane, Kurzgeschichten und Gedichtsammlungen erscheinen ließ. Durch diese Geschichten, die beiden Dschungelbücher und den Roman Kim wurde er weltberühmt, stieg auf zum poeta laureatus Englands und erhielt 1907 als erster Engländer den Nobelpreis für Literatur.

Kipling beschreibt in den meisten seiner Bücher den Zusammenstoß von westlicher und östlicher, von englischer und indischer Kultur. Seine Geschichten sind reich an wunderbaren Naturschilderungen und abenteuerlichen Handlungen. Meist geht es um das Ethos der Tat und das Recht des Stärkeren, wie es dem Geist des späten Viktorianismus in dieser Epoche englischer Weltherrschaft entsprach. Kipling war in der Tat das Sprachrohr des Imperialismus, aber nicht als x-beliebiger Versemacher und Schwadroneur, sondern als kraftvoller Dichter, der dem Geschäft der Eroberung in feierlichen und feurigen Strophen die sittliche Weihe gab. Es sei die wahre Mission der Angelsachsen, schrieb er, die sogenannten "wilden" Völker zu ihrem Besten zu beherrschen.

...eure frisch eingefangenen, tückischen Völkerschaften, die noch halb Kinder sind, halb Teufel...

Kipling verwandelte das romantische Idealbild des weißen Mannes, wie es Thomas Carlyle gezeichnet hatte, in die reale Gestalt des englischen Kolonialsoldaten. Aber wie zur Korrektur des landläufigen Bildes hat George Orwell, der selbst einige Jahre als britischer Offizier in Südasien verbracht hat, angemerkt: "Kiplings literarische Schilderung von Britisch-Indien ist das einzige Zeugnis, das wir aus dem 19. Jahrhundert besitzen. Er konnte es nur schaffen, weil er robust genug war, um in Klubs und Regimentskasinos leben zu können und den Mund zu halten. Er hat eine Unmenge an Material zusammengetragen, das man sonst nur durch mündliche Überlieferung oder aus unlesbaren Regiments-Aufzeichnungen hätte kennenlernen können."

Als Kind sprach Kipling die Hindi-Sprache, und seine indische Kinderfrau musste ihn dazu anhalten, mit den Eltern Englisch zu sprechen. Das Indische hat Kipling früh in sich aufgenommen. Er war ein genauer Kenner des Soldatenlebens auf dem Subkontinent und in anderen britischen Kolonien. "Aus dem Komplex von Kiplings Frühwerk scheint tatsächlich ein lebendiges Bild der alten Armee aus den Zeiten vor dem Maschinengewehr zu erstehen", schrieb Orwell, "ein grausames, ordinäres Bild, in dem ein patriotischer Music-Hall-Song sich mit einer der so düsteren Passagen von Zola verschmolzen zu haben scheint, aber künftige Generationen werden sich daraus eine Vorstellung machen können, wie es in einer Freiwilligen-Armee mit langer Dienstzeit ausgesehen hat. In gleicher Weise werden sie etwas über Britisch-Indien lernen, aus einer Zeit, in der noch niemand etwas von Autos und Kühlschränken gehört hatte. Es bedurfte eines geradezu unwahrscheinlichen Zusammentreffens von Umständen, damit Kiplings buntes Gemälde entstehen konnte."

Kipling war ein Schriftsteller von eigentümlich magnetischer Kraft und ein Erzähler mit kühl blickenden Augen, auf den das Etikett "Tendenzschriftsteiler" überhaupt nicht passt. Das steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass sein Menschenbild vom darwinistischen Prinzip der "natürlichen Auslese" geprägt war. Auch seine schönsten und bedeutendsten Bücher sind nicht frei von solchen Zügen, etwa der Roman Kim und die Dschungelbücher, in denen Gerechtigkeit gleichbedeutend ist mit dem Gehorsam gegenüber dem Naturgesetz. Dies Gesetz ist das Recht des Stärkeren im Kampf ums Dasein. Hinter dem heroischen Evangelium der Tat und dem Bemühen um eine verpflichtende Haltung wird zuweilen eine Faszination für Gewalt und Grausamkeit spürbar, die Kiplings Geschichte ebenso gefährden wie zuweilen verrätseln. Der kleine Menschenknabe Mowgli wird von einer Wölfin erzogen und lernt die Gesetze von Befehl und Gehorsam, um später seinen und des Dschungels Feind, den Tiger, überwinden zu können. Mowgli ist in Wirklichkeit englischer, als je ein Engländer gewesen ist. Kiplings politische Absicht wird deutlich in der Schilderung der zuchtlosen, ewig debattierenden Affenhorde. Um nochmals Orwell zu zitieren: "(Er) ist ein imperialistischer Jingo, moralisch gefühllos und ästhetisch abstoßend. Es ist besser, man gibt das gleich anfangs zu und versucht dann erst herauszufinden, warum er fortlebt." Zäher und beharrlicher fortlebt als die meisten, die zu Kiplings Lebzeiten die Nase über ihn rümpften.

Er war, mit einem Wort, ein großer Dichter. Er hat der Kunst der Ballade neue Elemente hinzugefügt, in seine Gedichte Cockney-Elemente einfließen lassen und seine Erzählungen offenbaren einen Farbenreichtum, die einen lebhaften Kontrast bilden zur Literatur seiner Zeitgenossen, sei es die in Konventionen erstarrende Epik des Spätviktorianismus, sei es die intellektuelle Artistik der frühen Moderne. In seinem Werk verbindet sich die westliche Weltauffassung aktivistischer Disziplin mit dem orientalischen Sinn für das Wunderbare. Salman Rushdie hat von den zwei Seelen in Kiplings Brust gesprochen und daran die Überlegung geknüpft, Kipling in einer Fernsehsendung von zwei Schauspielern darstellen zu lassen, einem indischen und einem englischen, von denen der eine Hindi, der andere Englisch sprechen müsse. "Der Einfluss Indiens auf Kipling - auf sein Weltbild wie auf seine Sprache ließ ihn für mein Empfinden zu einem Menschen werden, der im Konflikt mit sich selber lebte, teils Bazar-Boy, teils Sahib."

Die anhaltende Popularität Kiplings in Indien erklärt Rushdie durch die indische Seele des Schriftstellers, seine außergewöhnliche kulturelle Großzügigkeit: "Kein anderer westlicher Schriftsteller hat Indien jemals so gut gekannt wie Kipling, und diese Kenntnis des Schauplatzes, der Abläufe und der Details ist es, die seinen Erzählungen ihre unleugbare Autorität verleiht. Die Geschichte 'Die Zeit der Flut' verdankt ihre Qualität Kiplings präziser und großartiger Schilderung eines angeschwollenen Flusses während eines Monsunregens. Nicht alle Erzählungen haben dem Lauf der Zeit standgehalten, alle sind sie jedoch vollgestopft mit Informationen über eine verlorene Welt. Wenn man etwas lernen will, müsse man lesen, heißt es, und niemand kann die Leser besser über Britisch-Indien informieren als Rudyard Kipling."

Sein Stil ist der Form nach einfach wie der Stil der Bibel. Man nehme etwa die Reiseberichte und Briefe, die der junge Kipling auf seinen Reisen durch Indien, Asien und Amerika schrieb und die nun, fast 130 Jahre später, vorzüglich übersetzt und kommentiert von Alexander Pechmann, erstmals in deutscher Sprache erschienen sind. Sie rücken eine ferne und fremde Welt in unmittelbare Nähe, so dass man sie mit eigenen Augen zu sehen meint. So zielsicher ist seine Erzählkunst sogar in diesen spontan und schnell geschriebenen Texten, dass jede einzelne Periode unvermeidlich erscheint und nichts vergeudet ist. Kipling besaß eine lebhafte Fantasie, die ihn plötzlich ein farbiges, unerwartetes Wort einstreuen ließ, das den ganzen Satz belebt. Es sind "kühne, ausschweifende, brillante Reisebriefe" nach dem Urteil Mark Twains, der diese Briefe noch lesen konnte, so wie Kipling den Autor von Leben auf dem Mississippi noch persönlich kennenlernte und von ihm den Rat empfing: "'Sammeln Sie zuerst Ihre Fakten, um sie dann' - die Stimme erstarb zu einem fast unhörbaren Raunen - 'nach Lust und Laune zu verdrehen'."

Ein besonderes Kapitel sind die Beziehungen zwischen Kipling, dem vermeintlichen Sprachrohr des englischen Imperialismus, und dem jungen Bertolt Brecht, so verwunderlich sie auf den ersten Blick sein mögen. Brecht hat viele Anregungen von Kipling empfangen, hat ihn übersetzt und einige seiner Gedichte ungeniert für seine Theaterstücke, voran die Dreigroschenoper, benutzt. 1945, anlässlich der Verhaftung des "Kollaborateurs" Ezra Pound, schrieb er ins Tagebuch: "Ezra Pound wurde in Italien arrestiert und wird als Verräter hierhergebracht. Etwas von feudaler Würde hängt um diese George, Kipling, d'Annunzio, Pound. Immerhin historische Figuren, nicht gerade auf den Märkten zu finden, eher in den Tempeln - am Rande der Märkte."

(*)Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Soeben erschien bei Wallstein, Göttingen, seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.


Neue Bücher zum Thema:

Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch 1 & 2 (Neu übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Andreas Nohl). Steidl, Göttingen 2015, 520 S., 28,- Euro.

Rudyard Kipling: Von Ozean zu Ozean. Unterwegs in Indien, Asien und Amerika (Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann). mare, Hamburg 2015, 796 S., 48,- Euro.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2015, S. 59-62
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Kurt Beck, Siegmar
Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2016

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