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PROFIL/087: Die Stimme Lateinamerikas - Erinnerungen an Gabriel Garcia Márquez (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2014

Die Stimme Lateinamerikas
Erinnerung an Gabriel García Márquez

Von Hanjo Kesting



"Während des Wochenendes fielen die Aasgeier über die Balkone des Präsidentenpalastes her, zerrissen mit Schnabelhieben die Drahtmaschen der Fenster und rührten mit ihren Flügeln die innen erstarrte Zeit auf, und im Morgengrauen des Montags erwachte die Stadt aus ihrer Lethargie von Jahrhunderten in der lauen, sanften Brise eines großen Toten und einer vermoderten Größe."

Mit apokalyptisch-surrealistischen Bildern beginnt Der Herbst des Patriarchen von Gabriel García Márquez. Bereits mit dem ersten Satz reißt der kolumbianische Autor den Leser in die Atmosphäre des Buches hinein, in die Welt eines monströsen und allmächtigen Diktators, bestehend aus Aggressivität und Destruktion, Gewalt und Verwesung. Der Roman gehört einer literarischen Gattung an, die man so nur aus Lateinamerika kennt: dem Diktatorenroman. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erlebte er noch einmal eine große Blüte, und García Márquez' Buch stellt wenn nicht den Schlusspunkt, so doch eine Art Summe dar. Sein Autor hat dem Protagonisten keinen Namen gegeben, schon das verdeutlicht seine Absicht, eine exemplarische Figur zu zeigen, gemäß seinen Worten:"Die einzige Erscheinung von mythologischer Dimension, die uns die lateinamerikanische Geschichte beschert hat, ist die Diktatur. Nicht eine Nation auf diesem Kontinent hat sich dem Phänomen zu entziehen vermocht. Es ist ein verführerisches Thema. Zunächst, weil es von der Macht handelt und ihren Wirkungen, sodann, weil es in Lateinamerika mythologische Dimensionen angenommen hat."

Seit den Tagen Simón Bolívars beherrschten zahllose Diktatoren die Länder des südlichen Amerika und wechselten einander so häufig ab, dass sich nur wenige Namen dem Gedächtnis einprägen konnten. Demokratische Strukturen entwickelten sich über anderthalb Jahrhunderte hinweg nur spärlich, Wahlen, wenn sie überhaupt stattfanden, stellten meist eine Farce dar, Machtwechsel wurden in der Regel durch Militärputsche herbeigeführt. Der Grundtypus des Herrschers war der "Caudillo" - eine Bezeichnung, die in andere Sprachen kaum adäquat übersetzt werden kann. In unterschiedlichen Ausprägungen haben Caudillos die Geschichte des ganzen Kontinents bestimmt, und zwar so tiefgreifend, dass sich um diese Gestalten eine besondere Aura, ja eine eigene Mythologie herausgebildet hat. Immer wieder wurden sie auch zum Gegenstand großer Literatur, zu Hauptfiguren von Büchern, wie man sie so nur aus Lateinamerika kennt. So wie sich der Abenteuerroman in England, der Bildungsroman in Deutschland, der psychologische Gesellschaftsroman in Frankreich entwickelt hat, so hat sich in Südamerika in immer neuen Ausprägungen der Diktatorenroman herausgebildet. Der Diktator ist die Schicksalsfigur Lateinamerikas, gemäß den Worten des mexikanischen Schriftstellers Alejo Carpentier: "Wenn wir die tragische, blutige, schreckliche Geschichte unseres Kontinents betrachten, können wir den Diktator als etwas großes Eigenes erkennen."

In Der Herbst des Patriarchen wird die Endzeit einer langen Regierung und das langsame Sterben eines uralten Mannes erzählt. Mit seinem Tod beginnt jedes der sechs Kapitel des Romans, das ohne chronologische Ordnung in einem fiktiven Land am Rande der Karibik spielt, von dessen Küste aus man die Kette der Antillen sehen kann, ein Land, wo es nie anderes gab als die Herrschaft des Patriarchen, dessen wahres Alter niemand kennt, den es immer gegeben hat und dessen Tod niemand glauben, niemand fassen kann. Er ist so alt, dass er als einziger Lebender den Halleyschen Kometen, der alle 76 Jahre am Himmel erscheint, zweimal, oder sogar dreimal gesehen hat. So alt, dass hinter ihm die ganze Geschichte des Kontinents sichtbar wird, bis zu den Karavellen des Columbus, mit denen Europa einst von der sogenannten Neuen Welt Besitz ergriff.

Ein Weltautor aus Kolumbien

El otoño del patriarca, wie das Buch im spanischen Original heißt, ist wahrscheinlich der kühnste, reifste, erzählerisch komplexeste Roman von Gabriel García Márquez. Der kolumbianischen Schriftsteller, der die letzten Jahrzehnte seines Lebens überwiegend in Mexiko verbrachte, gehört zu den nicht gerade zahlreichen Autoren, die dem imaginären Kanon der Weltliteratur gleich mehrere große Bücher hinzugefügt haben. Als er im April dieses Jahres im Alter von 87 Jahren starb, wurde er in den Nachrufen weltweit, etwa von Salman Rushdie, als größter Schriftsteller seiner Epoche bezeichnet, als Mythenstifter und literarischer Revolutionär. "Mit Gabriel García Márquez ist ein Genie gestorben, wie die Welt zurzeit kein zweites besitzt", schrieb Daniel Kehlmann in der ZEIT. "Er war nicht einfach bloß besser als die Zeitgenossen, er gehörte in andere Zusammenhänge, er schien sich von Anfang an auf einer weiteren Umlaufbahn zu bewegen." Dass Literatur eine Neuerschaffung der Welt sein kann, García Márquez ließ es noch einmal erleben. Man hat Hundert Jahre Einsamkeit, sein erstes Hauptwerk, den "Don Quijote" Lateinamerikas genannt, und der Autor hat es selbst noch erlebt, wie sein Jahrhundertbuch 40 Jahre nach Erscheinen in einer Sonderausgabe neben den Don Quijote gestellt wurde, als eines der beiden größten Bücher der spanischsprachigen Literatur. Zweifellos ist Hundert Jahre Einsamkeit, das seinem Autor Weltruhm brachte und zur Stimme eines ganzen Kontinents wurde, das berühmteste Buch von García Márquez -auch sein bestes? Der Autor selbst hat in dem plötzlichen Ruhm, der so unerwartet aus der ganzen Welt auf ihn herabstürzte, vor allem eine Gefährdung gesehen:"Weil der Ruhm den Sinn für Realität stört, vielleicht genauso wie die Macht...". Und er hat hinzugefügt: "In den Jahren, in denen mich der Ruhm überrollt hat wie etwas Unerwünschtes, war meine schwerste Arbeit, den Fortbestand meines Privatlebens zu sichern." Um den Rang des "besten"Buches von García Márquez streiten sich mehrere Bücher, neben Hundert Jahre Einsamkeit vor allem Der Herbst des Patriarchen von 1975, Chronik eines angekündigten Todes von 1981 und Liebe in Zeiten der Cholera von 1985. Wohl dem Schriftsteller, bei dem ein Kritiker derart aus dem Vollen schöpfen kann.

García Márquez selbst hat berichtet, wie seine Großmutter, bei der er in dem kleinen kolumbianischen Flecken Aracataca aufwuchs, ihm völlig ungerührt die ungeheuerlichsten Dinge so erzählte, "als hätte sie sie eben gesehen". Wahrscheinlich waren es diese Erzählungen, die neben den Geschichten aus Tausendundeine Nacht die wichtigste und ergiebigste Quelle waren für die Fantasie des kleinen Gabo. Zweifellos wurde damals, in den Erzählungen der Großmutter, das große Reservoir angelegt, aus dem der Schriftsteller später seine wunderbaren Wirklichkeiten und ausufernden Wortmeere schöpfen konnte. Der eigentlich literarische Anstoß ging von Kafka aus, von dessen Erzählung Die Verwandlung. Durch Kafka begriff der junge, gerade 20jährige García Márquez, dass es in der Literatur andere als nur rationale und naturalistische Möglichkeiten gibt, eine Geschichte zu erzählen, er fühlte sich, wie er in einem Interview sagte, "wie von einem Keuschheitsgürtel befreit". Doch hat er hinzugefügt:"Man kann das Feigenblatt des Rationalismus zwar ablegen, aber nur, wenn man nicht ins Chaos verfallt, in den vollkommenen Irrationalismus." Und obwohl er bereits ein umfangreiches literarisches und journalistisches Werk verfasst hatte, dauerte es von besagter Kafka-Lektüre an noch 18 Jahre, bevor er sich an die Niederschrift von Hundert Jahre Einsamkeit machte. Er schrieb dieses Buch, von Anfangsschwierigkeiten abgesehen, gleichsam in einem Zug. Die Idee eines Diktatorenromans trug er dagegen schon viel länger mit sich herum, und er brauchte, nachdem er ein Jahrzehnt Material dafür gesammelt hatte, volle sieben Jahre für die Niederschrift.

Die Diktatur als Lebensthema

Er schrieb ihn nicht wie die meisten seiner Vorgänger aus der Perspektive des Diktators. Was sich zuerst als eine Art Innerer Monolog liest, entpuppt sich allmählich als kunstvoll instrumentiertes Orchester verschiedener Stimmen. Es gibt Hunderte Erzähler in diesem Buch, die Perspektive wechselt unaufhörlich, oft mitten in einem Kapitel, in einem Absatz, ja mitten im Satz, und die Sätze in diesem Roman sind lang, oft seitenlang, gipfelnd im sechsten und letzten Kapitel, das über 50 Seiten hinweg aus einem einzigen Satz besteht. Der Herbst des Patriarchen verlangt vom Leser ein hohes Maß an Konzentration, um in dem schwindelerregenden Stimmengewirr die Grundmelodie zu finden, den Generalbass, der die sechs Kapitel des Buches durchzieht und sich zuletzt als die blutig-bizarre Leidensgeschichte Lateinamerikas erweist. Eine Alptraumwelt, beschrieben in einer unerhört dichten, gegenständlichen, detailgesättigten Sprache, die mit ihrem breit fließenden, beharrlich kreisenden Imperfekt den Leser hineinzieht in einen Mahlstrom aus Wörtern, Sätzen und Bildern, die sich - wie die Muster in einem indianischen Knüpfteppich - fliehen und suchen, ergänzen und kommentieren, die Gesetze von Raum und Zeit aus den Angeln heben.

Dasso Saldívar, einer von García Márquez' Biografen, hat die Auffassung vertreten, dass die Idee des Diktatorenromans schon im August 1957 zu keimen begann, als García Márquez im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau den einbalsamierten Körper Stalins betrachtete, der dort nicht "den ewigen Schlaf des Todes schlief", sondern der, ungeachtet der Aufdeckung und Verurteilung seiner Verbrechen auf dem XX. Parteitag durch Chruschtschow, in aller Ruhe sein neues Leben genoss: das posthume Leben der Macht. García Márquez ist im Laufe seines bewegten Lebens mit traumwandlerischer Sicherheit immer wieder zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmte Orte gelangt, wo für ihn als Künstler, salopp gesagt, etwas zu holen war. So beim Putsch des Militärs 1958 in Venezuela. Seither hat der Schriftsteller sich systematisch mit dem Diktatorenthema beschäftigt, er las alles, was auf das Thema Bezug nahm, begann alles zu sammeln, was er aus dem Leben von Diktatoren in Erfahrung bringen konnte. Anfang der 70er Jahre geriet er in eine Schreibkrise, die äußere und innere Gründe hatte: äußere wie den Putsch des chilenischen Militärs unter General Pinochet gegen die Regierung Allende, und innere, die mit dem Schreibansatz zu tun hatten. Der ursprüngliche Plan, den Roman als Monolog des Diktators vor einem Volkstribunal anzulegen, hätte wichtige Aspekte des Themas - die Deformation des Machthabers durch die Macht, seinen Realitätsverlust, die paranoische Angst vor Verschwörungen - vernachlässigen müssen. García Márquez beschreibt in seinem Roman ja nicht nur die Erscheinungsformen der Macht, sondern auch ihr Psychogramm: Von der Macht besessen, fühlt sein Diktator sich zuletzt sogar von Schmetterlingen bedroht, er lässt Kinder hinrichten, schlägt aus dem Hinterhalt zu, ein Monster von mythologischer Dimension. Eine der faszinierendsten Episoden des Buches handelt von der Verschwörung des Generals Rodrigo de Aguilar, die der Diktator mit unfehlbarer Witterung aufdeckt, um danach auf ebenso brutale wie bizarre Weise mit seinem Widersacher abzurechnen, der, gesotten und gebraten, mit Pinienkernen gefüllt und Petersilie im Mund, den Gästen eines abendlichen Galadiners serviert wird - eines der bedrohlichen und zugleich groteskkomischen Bilder, an denen der Roman so reich ist.

Die Faszination der Macht

Als García Márquez gefragt wurde, was ihn an der Macht so stark fasziniere, antwortete er: "Weil ich schon immer geglaubt habe, dass die absolute Macht die höchste und vielschichtigste Verwirklichung des Menschseins ist und sie deshalb seine ganze Größe und sein ganzes Elend umfasst." Für einen Schriftsteller, der sich zum Sozialismus bekannte, war das eine ungewöhnliche Antwort. García Márquez hat sich denn auch die Kritik gefallen lassen müssen, den Diktator zu menschlich gezeichnet zu haben. Tatsächlich ist er ein Mann des Volkes, aus dem Volk hervorgegangen, ein Revolutionär seinen Ursprüngen nach, im Laufe der Zeit durch die Macht deformiert, schließlich ein Gefangener der eigenen Macht in einer selbstgeschaffenen Welt der Lügen und Intrigen, einsam und verlassen in seinem verrottenden Palast, zwischen Hühnern, Kühen und Lakaien wie einst Romulus, der letzte Kaiser von Rom. Unfähig zur Liebe, aber von Verlangen nach Liebe getrieben, liegt eben hier seine Schwachstelle: in der pathologischen Abhängigkeit von seiner Mutter und der tiefen Angst vor der Sexualität, welche er mit seinen zahllosen Konkubinen nur als trauriges Geschäft vollzieht.

Der Herbst des Patriarchen ist die Totenrede auf den lateinamerikanischen Diktator. Alle Reichtümer seines Landes hat er an den großen Nachbarn im Norden abgetreten, und als es nichts mehr gibt, womit er die Auslandsschulden bezahlen kann, verkauft er - wieder ein gewaltiges Bild - auch noch das Meer; stückweise wird es nach Arizona abtransportiert, eine Wüste von Staub zurücklassend, wo einmal die karibische See mit ihren Inseln leuchtete.

Man kann den Roman als Anklagerede und Trauerlitanei lesen, über weite Strecken auch als Roman über die Einsamkeit der Macht. Man muss ertragen, dass der Diktator in jedem Augenblick menschlich wirkt und Mitleid in Anspruch nimmt. Keiner ist so einsam wie er, dem alle wegsterben, zunächst die Mutter, dann die einzige Frau, die er geliebt hat, schließlich sein doppelgängerischer Stellvertreter. Irgendwann, das ist ihm geweissagt, wird auch er selber sterben, friedlich im Schlaf, in voller Uniform auf dem Boden liegend, den angewinkelten Arm als Kopfkissen benutzend. Endlich meint man zu begreifen, dass der Staatenlenker auch als Weltenlenker verstanden werden kann, dass der Patriarch zugleich Gott ist und dass das Reich der Freiheit, das die Unterdrückten ersehnen, erst dann kommen kann, wenn alle Herrschaft zu Ende ist, die menschliche wie die göttliche. Zurück bleiben die, die den toten Diktator und den toten Gott überleben, das Volk, die Armen, die Unterdrückten, deren Stimmen sich am Schluss des Buches im Jubel über den Tod des Tyrannen endlich zu einem"Wir" vereinigen, um die frohe Botschaft zu verkünden, "dass die unzählbare Zeit der Ewigkeit endlich zu Ende sei".


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien im Wehrhahn Verlag Hannover sein Buch Das Geheimnis der Sirenen. Bücher und andere Abenteuer.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2014, S. 83 - 87
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2014


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