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PROFIL/078: Leo Tolstoi nach 100 Jahren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010

Künstlerglück und Selbstanklage
Leo Tolstoi nach 100 Jahren

Von Hanjo Kesting


1882, ein Jahr nach dem erfolgreichen Attentat auf den russischen Zaren Alexander II., das allen Reformen in dem rückständigen Land ein Ende machte, erschien Leo Tolstois große religiös-soziale Abhandlung Die Beichte. Damals nahm man bereits in aller Welt jedes seiner Worte wichtig. Nun erklärte der Autor von Krieg und Frieden und Anna Karenina diese Meisterwerke für sündhaft und gelobte, der Kunst hinfort zu entsagen. Doch auch die Schrift Die Beichte war ein Kunstwerk, nur stand das Werk unter dem Einfluss einer neuen Morallehre. Es handelte von den letzten Dingen, die alle Menschen angehen. Daher das weltweite Echo auf das "Rätsel Tolstoi".


Was kann man also noch sagen, wo doch längst alles bekannt, durchleuchtet und erforscht zu sein scheint: das literarische Werk, die moralphilosophischen Schriften, die gescheiterten landwirtschaftlichen Reformen, das Dilemma der Ehe, der Streit mit der orthodoxen Kirche, die Exkommunikation, der Bruch mit der Gesellschaft, nicht zuletzt der merkwürdige Lebenswandel der späten Zeit, der vielen zur Nacheiferung diente. Nie war ein Schriftsteller näher daran, zum Religionsstifter zu werden. Tolstoi zog Bauernkleider an, aß einfache bäuerliche Kost, flickte selber seine Schuhe und stand hinter dem Pflug, während seine Ehefrau das literarische Werk verwaltete und dafür sorgte, dass er und seine zahlreiche Nachkommenschaft sich alle Extravaganzen leisten konnten: die des Luxus und die der Armut. Von alldem unberührt blieb Tolstois literarisches Ansehen, auch bei den Autoren einer jüngeren Generation, die die Kunst des Romans revolutionierten. Virginia Woolf nannte Tolstoi den größten aller Erzähler, für Somerset Maugham war Krieg und Frieden der größte aller Romane, James Joyce und Vladimir Nabokov waren uneins nur in der Frage, ob Der Tod des Iwan Iljitsch oder Wieviel Erde braucht der Mensch die größte Geschichte der Weltliteratur sei. Thomas Mann schrieb: "Die erzählerische Macht dieses Werkes ist ohnegleichen. Tolstoi hatte das Format des neunzehnten Jahrhunderts, dieser Riese, der epische Lasten trug, unter denen das soviel schmächtigere und kürzer atmende Geschlecht von heute zerknicken würde..."

Das liegt 100 Jahre zurück. Tolstois gewaltige Erscheinung ist historisch geworden, seine Lehren verwirren nicht mehr die Köpfe, sein Vorbild reizt nicht mehr zur Nachahmung an, nur sein Werk ist von bleibendem Interesse wie auch die Fakten seines Lebens, die in eine sonderbar verwickelte, ruhelose, zerrissene Psyche blicken lassen. Tolstoi hat von diesem Kampf penibel Rechenschaft gegeben, in unablässiger Selbstdarstellung, die immer neue Formen fand und sein ganzes Werk durchsetzt, ganz im Sinne des Ibsen-Wortes, Dichten heiße Gerichtstag halten über das eigene Ich. Elias Canetti hat von einer "Manie der Selbstanklage" bei Tolstoi gesprochen und sie als eine "Verseuchung durch Rousseau" erklärt.


Zeit der Ausschweifungen

Der junge Tolstoi hatte das übliche Leben eines russischen Aristokraten geführt, mit Trinkgelagen und sexuellen Ausschweifungen. Die Bemühungen um seine leibeigenen Bauern, die Versuche, sie sozial zu emanzipieren, eine Brücke zu schlagen zwischen Herr und Knecht, hatten sich als Fehlschlag erwiesen, waren auf nichts als Trägheit und Misstrauen gestoßen. Dafür hatte die zaristische Polizei Tolstoi im Visier und zögerte nicht, sein Haus in Jásnaja Poljána gründlich zu durchsuchen. Um diesem Leben zu entkommen, lässt Tolstoi sich mit 23 Jahren in den Kaukasus versetzen. In den zwei Jahren dort wird er zum Schriftsteller, hier entstehen Kindheit und Knabenjahre und die ersten Erzählungen. Als er zurückkehrt und sich in Sofja Ber verliebt, ist er ein Schriftsteller mit Gewissensskrupeln ob seiner niederen Instinkte, seiner selbst überdrüssig, müde und unzufrieden.

Neben drei Fehlgeburten werden 13 Kinder während ihrer Ehe geboren, von denen neun am Leben bleiben. Abends schreibt Sofja, ob schwanger oder nicht, aus Tolstois schwer leserlicher Handschrift seine Manuskripte ab. Krieg und Frieden, ein Buch von 2.000 Seiten, soll sie siebenmal abgeschrieben haben. "Meine Laufbahn ist die Literatur - schreiben und nochmals schreiben!" heißt es in Tolstois Tagebuch. "Ab morgen arbeite ich mein ganzes Leben lang und werfe alles hin, Regeln, Religion, Anstand - alles." Das Tagebuch, das Medium seiner Gewissenserforschung und skrupulösen Monologe, bricht Tolstoi im November 1865 für 13 Jahre ab, weil nun, behutsam gelenkt vom Geist Sofja Andrejewnas, die Arbeit an den großen Romanen in den Vordergrund tritt.

In diesen 13 Jahren entstehen das gewaltige Krieg und Frieden und die künstlerisch so vollendete Anna Karenina. Tolstoi hätte diese Bücher kaum zu schreiben vermocht ohne die Atmosphäre familiärer Eintracht, die ihn so lange umgab. Aber an der Schwelle seines 50. Lebensjahres gewinnt Tolstois ruheloses Gewissen, das so lange in Banden der Kunst gelegen hat, endgültig die Oberhand. Vor den Augen der Welt legt er seine berühmte Beichte ab, bezichtigt sich aller nur möglichen Verbrechen: "Ich tötete Menschen im Krieg und trieb Menschen zum Duell an, um sie zu töten. Ich verspielte Unsummen beim Kartenspiel, lebte von der Arbeit der Bauern, lebte ausschweifend und betrog die Menschen. Lüge, Raub, Hurerei und Ehebruch, Trunksucht, Unbeherrschtheit und Mord, es gab kein Verbrechen, das ich nicht begangen hätte."


Wandlung zum Prediger

Um ein Leben nach den Grundsätzen christlicher Moral zu führen, setzte er alles aufs Spiel: das eigene Glück und das seiner Frau, das friedliche Familienleben, seinen Ruhm als Künstler und die Kunst selber. Die Literatur wurde für nutzlos, sündhaft, ja verwerflich erklärt. Jetzt begann Tolstois Wandlung zum Prediger, der den Künstler in ihm mehr und mehr, wenn auch niemals völlig zu überwältigen vermochte. Und es begann sein Kampf gegen die sittliche Unordnung der Welt oder was er als solche empfand: gegen Kirche, Staat und Gesellschaft, Kultur und Zivilisation, gegen die Privilegien des Adels, das bürgerliche Besitzdenken und die heuchlerische Moral. Das Heil suchte Tolstoi beim Volk, dem geliebten russischen Volk, bei der großen Amme, an deren nährende, helfende, heilende Brust er sich flüchtet. Was rettet das Volk, was rettet die vielen, die ihr einfaches Leben leben, vor der Verzweiflung? Dass sie durch den Glauben leben, nicht durch die Vernunft. Vor allem aber durch die Liebe: "Die Liebe ist der vernünftigste und lichtreichste Zustand der Seele. Sie ist das wahre Gut, das höchste Gut, das alle Widersprüche des Lebens aufhebt. Es gibt keine andere Liebe als die, welche ihr Leben hingibt für die, so sie liebt. Die Liebe ist nur dann dieses Namens wert, wenn sie sich selbst zum Opfer bringt."

Es war nur konsequent, dass Tolstoi von hier aus zu einer Kritik der geschlechtlichen Liebe und der bürgerlichen Geschlechtsmoral überhaupt gelangte, die Institution der Ehe eingeschlossen. Die späte Erzählung Die Kreutzersonate wurde zum literarischen Pamphlet gegen die Ehe und ihre gesellschaftlich legalisierte Unsittlichkeit. Im Grunde aber richtete sie sich gegen jede Form der Geschlechtlichkeit, die es - wie Tolstoi in einem berühmten Nachwort verkündete - zu überwinden gelte: "Das Menschengeschlecht würde aufhören zu bestehen, aber ist es denn möglich, dass irgend jemand, ganz gleich von welchem Standpunkt aus, er die Welt betrachtet, jemals einen Zweifel daran gehabt hat?"

Jásnaja Poljána, das Gut der Tolstois, war unterdessen zur Wallfahrtsstätte geworden, wohin die Bewunderer des Schriftstellers Tolstoi ebenso pilgerten wie die Anhänger seiner radikalen Religion. Turgenjew schrieb, angesichts des Todes, an Tolstoi einen Brief, in dem er seinen Freund, "den großen Schriftsteller der russischen Erde", anflehte, "zur Literatur zurückzukehren". Viele europäische Künstler schlossen sich dieser Bitte an. Tolstoi aber ging unbeirrt auf seinem Weg voran und schrieb: "Ich glaube, dass mein Leben, mein Verstand, mein Licht mir geschenkt wurde, ausschließlich, um die Menschen zu erleuchten. Ich glaube, dass meine Kenntnis der Wahrheit eine Begabung ist, die mir zu diesem Zweck verliehen wurde. Dass diese Begabung ein Feuer ist, das nur Feuer ist, solange es brennt. Ich glaube, dass der einzige Sinn meines Lebens der ist, in diesem Lichte, das in mir ist, zu leben, und es hoch vor den Menschen einher zu tragen, auf dass sie es sehen."


Das alte Hin und Her

Einige Jahre lang hatte Tolstoi versucht, ein Gläubiger zu sein und sich, frei von Zweifeln, den Regeln der orthodoxen Kirche zu unterwerfen. Als es nicht gelang und die Gegensätze offenbar wurden, schloss die orthodoxe Kirche ihn aus ihren Reihen aus. Aber das vermehrte nur die Zahl seiner Jünger. Ihr Anführer Tschertkow, ein Offizier, der - überzeugt vom Tolstoischen Prinzip der Gewaltfreiheit - den Dienst quittiert hatte, veranlasste den Meister, die Urheberrechte an seinem Werk freizugeben und dem Volk zu vermachen. Dadurch wurde die materielle Grundlage der Familie untergraben. Je länger die Ehe dauerte, desto erbitterter, verzweifelter wurde der Ehekrieg geführt, zuletzt um Tolstois geheime Tagebücher, die Dokumente seiner niemals abreißenden Selbsterforschung.

Der fast 80-jährige erwägt darin noch einmal, eine Autobiografie zu schreiben: "Eine möglichst wahrhaftige Beschreibung des eigenen Lebens besitzt großen Wert für jeden Menschen und muss für die Menschen von großem Nutzen sein." Dann aber lässt er von dem Werk, obwohl er es für nützlicher hält "als all das künstlerische Geschwätz, das zwölf Bände meiner Werke erfüllt und dem die Menschen von heute eine ganz unverdiente Bedeutung zuschreiben". Jetzt bangt Tolstoi vor den "Unzulänglichkeiten und Unehrlichkeiten, die sich in jede Eigengeschichte unvermeidlich einschleichen": "Wenn sie auch keine direkte Lüge wäre, würde solche Selbstbiographie doch zur Lüge durch falsch eingesetzte Lichter, durch eine bewusst hingelenkte Helligkeit auf das Gute und Verdunkeln dessen, was darin übel war." Es ist der alte Zwiespalt, das alte Hin und Her: "Dann wieder, als ich beschloss, die nackte Wahrheit hinzuschreiben und keine Schlechtigkeit meines Lebens zu verhehlen, erschrak ich vor der Wirkung, die eine solche Autobiographie haben müsse." Die Autobiografie kam nicht zustande, aber die Tagebücher, die im Besitz Tschertkows waren und aus denen er alle für Sofja Andrejewna ungünstigen Stellen abgeschrieben hatte, musste er wieder herausgeben. Die ehelichen Auseinandersetzungen waren begleitet von Tränenausbrüchen und Selbstmorddrohungen und der nächtlichen Suche nach den geheimen Dokumenten.

Es war eine solche Nacht, in der sich Tolstoi, 82 Jahre alt, aus dem Haus stahl, begleitet allein von seinem Arzt, um seine letzte Wanderung zu beginnen - auf dem Weg zu einem Kloster, das er nie erreichte. Er starb im Wartesaal eines kleinen Bahnhofs zu Astrapowo, nachdem er an einer Lungenentzündung erkrankt war. Starb unter den Augen einer weltweiten Öffentlichkeit, die ihre Reporter und Wochenschau-Kameraleute an den Ort zwischen Rjasan und dem Ural entsandt hatte. Auch Sofja Andrejewna, die sich auf die Nachricht von der Flucht hin in einem Teich zu ertränken versucht hatte, war dorthin gekommen. Sie wurde erst ins Sterbezimmer gelassen, als Tolstoi im Koma lag, in der Nacht zum 20. November 1910.

Hanjo Kesting (* 1943) Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010, S. 59-62
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2010