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FRAGEN/005: Literatur und Selbstopfer (H1 - Uni Bielefeld)


H1 - Das Magazin der Universität Bielefeld - Ausgabe 01.2006

"Literatur und Selbstopfer"

Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Katja Malsch


Sie ist 29 Jahre alt, studierte in Bielefeld und Lyon und ist seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin von Professor Wolfgang Braungart an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft: Demnächst wird Katja Malsch ihre Dissertation veröffentlichen. "Literatur und Selbstopfer" lautet das Thema, das in Zeiten von religiös begründeten Selbstmordattentaten aufhorchen lässt. Der Untertitel relativiert zunächst einmal allzu aktuell getönte Erwartungen: "Historisch-systematische Studien zu Gryphius, Lessing, Gotthelf, Storm, Kaiser und Schnitzler". Das klingt sehr wissenschaftlich und nur auf längst vergangene Zeiten bezogen - aber völlig von der Gegenwart abstrahieren muss (und soll) man dabei sicherlich nicht. H1 fragte nach.


H1: Um gleich mit der aktualisierenden Tür ins Haus zu fallen: Lassen sich Parallelen zwischen Selbstmordattentätern von heute und Figuren aus der deutschsprachigen Literatur ziehen, die sich selbst opfern?

KATJA MALSCH: Eigentlich steht sich beides diametral gegenüber. Das Selbstopfer ist grundsätzlich ein positives Konzept, das Ausgleich - oder pathetischer: Versöhnung - in einer Krise ermöglicht. Der Inbegriff dafür findet sich natürlich in der Bibel: Die Theologie versteht den Tod Jesu als Versöhnung der Menschen mit Gott, mit der nach dem Sündenfall die göttliche Ordnung, die Nähe zwischen Gott und den Menschen, wiederhergestellt wird. Zum Selbstopfer gehört vor allem, dass niemand anderem Schaden zugefügt wird. Davon kann bei Selbstmordattentätern keine Rede sein. Allerdings verkaufen sie sich als Märtyrer, und die Medien greifen das tatsächlich auf und stellen die Anschläge auch als Selbstopferung dar, was mehr als bedenklich ist, weil diesen Taten damit zumindest zum Teil ein positiver Sinn unterlegt wird.

H1: Der Opferbegriff ist doch für uns heute eigentlich etwas sehr Fremdes.

KATJA MALSCH: Ja, in der abendländischen Tradition gibt es seit Christi Tod, der als Opfer gedeutet worden ist, im Grunde genommen keine kultischen Opfer mehr. Sich selbst zu opfern hat als Konzept dagegen überlebt. Heute spielt der Opferbegriff eher im Zusammenhang mit Kriminalität noch eine Rolle, also im Bezug von Tätern auf Opfer. Beim Selbstopfer sind dann Täter und Opfer eins.

H1: Und diese Einheit von Täter und Opfer wird in der Literatur durchgängig positiv dargestellt?

KATJA MALSCH: Überwiegend ja, aber es gibt Modifikationen. Hauke Haiens Ritt hinein in die Nordsee wird in Theodor Storms "Schimmelreiter" durchaus ambivalent geschildert. Ein besonders interessanter Fall ist auch Lessings heute fast vergessenes Drama "Philotas", das durchaus "opferkritisch" ist. Hier wird nämlich besonders deutlich gezeigt, dass zur Selbstopferung immer auch eine (Selbst-)Inszenierung gehört. Das Opfer ist ja eine symbolische Handlung, die als solche erst noch gedeutet werden muss, aber gerade beim Selbstopfer kann die Inszenierung schnell etwas Prekäres bekommen. Andererseits: Ohne positive Deutung wäre ein Selbstopfer "einfach nur" ein Selbstmord.

H1: Ihre Arbeit befasst sich mit Literatur bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Ist das Selbstopfer heute noch ein Thema in den Künsten?

KATJA MALSCH: Auf jeden Fall gibt es immer wieder neue künstlerische Adaptionen klassischer Opferstoffe, zum Beispiel "Iphigenie" oder "Antigone". Stanley Kubricks Film "Eyes wide shut" ist inspiriert von Schnitzlers "Traumnovelle", in der es auch um das Selbstopfer einer Prostituierten geht. Und zurzeit läuft die Verfilmung von Süßkinds "Das Parfüm" in den Kinos, eine Geschichte, in der der Protagonist sich als Opfer inszeniert, das zuletzt in einer Art "Abendmahl" zerfleischt wird. Das ist eine Vermischung der christlichen und der heidnisch-antiken Tradition. (hmk)


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Quelle:
H1 - Das Magazin der Universität Bielefeld
Ausgabe 01.2006, Seite 19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2007