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GESCHICHTE/027: 400 Jahre "Don Quijote" (Agora/Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2005

Der populärste Träumer aller Zeiten

Von Sonie M. Steckbauer


Vor 400 Jahren erschien mit "Don Quijote" von Miguel de Cervantes eines der grundlegenden Werke der Weltliteratur. Der Ritter von der traurigen Gestalt beflügelt auch heute noch die Phantasie vieler Leser und diente in den letzten Jahrhunderten als Vorlage für zahllose Interpretationen.


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Wer kennt sie nicht, Don Quijote im Kampf gegen Windmühlen, die er für Giganten hält, und seinen treuen Begleiter Sancho Panza im vergeblichen Streben, seinen Herren vor dessen eingebildeten Abenteuern zu beschützen? Diese beiden so unterschiedlichen Figuren sind die Verkörperung von Illusion und Realität; die Grenzbereiche und -überschreitungen der Wahrnehmung sind somit als zentrale Themen des Romans zu sehen. In seiner "Vorrede" bezeichnet sich Miguel de Cervantes Saavedra als Stiefvater des Don Quijote und weist darauf hin, dass die Geschichte des berühmten Den Quijote ein "Spiegel der gesamten fahrenden Ritterschaft" sein soll. Doch dieses Spiegelbild zeigt die vor ihm stehende Person seitenverkehrt, manchmal auch verzerrt bis hin zur völligen Auflösung. So wie Diego Velázquez fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des 'Don Quijote' in seinem Gemälde "Las meninas" den Spiegel einsetzen wird, um dem Betrachter ein mehrfach verstelltes Abbild der Wirklichkeit zu präsentieren, tut dies Miguel de Cervantes mit der literarischen Schöpfung seines "Sohnes". Eine klare Botschaft scheint diese beiden Künstler zu verbinden: Wahr ist nicht das, was dargestellt wird, sondern in der künstlerischen Repräsentation ist eine mehrfach umgestellte Wahrheit zu erkennen, und es ist Aufgabe des Betrachters bzw. Lesers diese zu entschlüsseln.

Während sich dem heutigen Leser immer wieder neue Aspekte des Romans auftun, wurde er zu seiner Zeit vorwiegend zur Unterhaltung, als Parodie auf den Ritterroman, der schon einige Zeit aus der Mode gekommen war, gelesen. Der Roman Don Quijote war aber auch eine Abrechnung des Autors nur einer Welt, von der er zutiefst enttäuscht war. Das Schicksal hatte es nicht gut mit Cervantes gemeint, und er hatte vermutlich während eines Gefängnisaufenthaltes den Entschluss zum Schreiben dieser parodistischen Darstellung der Wirklichkeit des ausgehenden 16. Jahrhunderts in Spanien gefasst. So musste er vor der Veröffentlichung erst Gönner finden, die es von der literarischen Bedeutung seiner Romane zu überzeugen galt. In der Widmung an den Grafen von Lémos, die dem Zweiten Teil voran gestellt ist, erwähnt er nicht ohne Stolz eine Einladung nach China, um dort seinen Roman vorzulesen, berichtet aber gleichzeitig, dass ihm weder seine Gesundheit noch seine finanzielle Situation eine derartige Reise erlauben würden: "[...] abgesehen davon, dass ich krank bin, bin ich völlig ohne Geld, [...]". Dieses Eingeständnis ist eines der deutlichsten Zeugnisse der Lebensumstände von Miguel de Cervantes kurz vor seinem Tod.

Aus heutiger Sicht ist 'Don Quijote' eines der lustigsten und traurigsten Bücher zugleich. Diese Mischung aus Komik und Tragik wird vor allem durch die zentrale Figurenkonstellation des Romans bewirkt: Der "Ritter von der traurigen Gestalt" Don Quijote und sein Knappe Sancho Panza - sie bedingen, sie ergänzen einander. In Literatur und Film finden wir sie heute immer und immer wieder, von Tom Sawyer und Huckleberry Finn über Asterix und Obelix bis hin zu Tolkiens Hobbits Frodo und Sam. Die beiden Hauptfiguren des Romans sind zu Archetypen geworden, die in dieser Parodie auf den Ritterroman ihren Ursprung finden. Den Quijote und Sancho Panza repräsentieren den Träumer und den Bodenständigen, den Idealisten und den Realisten, sie bilden die beiden Seiten einer Medaille. Ihr Spiel und Gegenspiel bedingt ihre Entwicklung, was im Roman sowohl in ihrem Tun als auch in ihrer Sprache zum Ausdruck kommt: "Und das Schöne und zugleich wunderbar Widersprüchliche dieser Beziehung besteht darin, dass Dort Quijote sich einerseits ständig über die Realitäten hinwegsetzt, während er andererseits, nämlich bezüglich Sancho [...], die schönste Rücksicht auf sie nimmt", schrieb Hans-Jörg Neuschäfer 2004 in der Neuen Zürcher Zeitung.

Die Beziehung zwischen Don Quijote und Sancho Panza wird um eine wesentliche Dimension erweitert, die der Dulcinea. Es ist Don Quijotes ritterliche Verpflichtung, seine Ritterfahrten und Abenteuer in den Dienst einer Holden zu stellen, ihre erträumte Existenz ist eine der Grundbedingungen überhaupt für sein ritterliches Tun. Doch gerade in diesem Aspekt, der in einigen Verfilmungen der vergangenen Jahrzehnte besonders hervorgehoben und auch nur Vorliebe entfremdet wurde (z. B. in Der Mann von La Mancha, 1972, Regie: Arthur Hiller), ist die Divergenz menschlichen Denkens zwischen dem Herren und seinem Diener am deutlichsten. Sancho Panza, der weder an die Existenz noch an die Verzauberung der Dulcinea glaubt, erfindet sie schließlich selbst, um seinem Herren damit eine Freude zu machen (vgl. II. Teil, Kap. 10).

Das Wechselspiel der beiden Hauptfiguren eröffnet dem Leser gleichzeitig die Möglichkeit, sich mit der einen oder der anderen Person zu identifizieren. Somit reiten Don Quijote und Sancho Panza immer wieder und immer weiter nebeneinander in den Tiefen der menschlichen Seele. Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa sieht in ihnen eine Personifizierung der beiden Ebenen des menschlichen Seins und hält das Wechselspiel zwischen den beiden für den Hauptgrund der immer währenden Aktualität des Romans.

Gegen Ende des Zweiten Teils zeichnet sich der bevorstehende Tod des Protagonisten ab. Miguel de Cervantes sah es als Notwendigkeit an, seinen "Sohn" sterben zu lassen, damit die Geschichte des Don Quijote nicht wieder fortgesetzt werden könne, wie es nach dem Erscheinen des Ersten Teils geschehen war. Bekanntlich wurde unter dem Pseudonym Alonso Fernández de Avellaneda die Geschichte des Don Quijote weiter geschrieben, sein Roman 'Don Quijote de la Mancha' war 1614 erschienen. Als Antwort auf diese ungeliebte Veröffentlichung verspricht Miguel de Cervantes in seiner Vorrede zum Zweiten Teil, "[...] dass ich dir [dem Leser] darin den Den Quijote in seinem weiteren Lebenslaufe und zuletzt gestorben und begraben darbiete, [...]". Miguel de Cervantes, selbst dem Tod schon nah, lässt also seinen Don Quijote sterben, um ihn vor einem weiteren Leben in Romanen wie dem von Avellaneda zu beschützen.

Auf seinem Sterbebett verwünscht der Protagonist das Lesen von Ritterromanen und gibt ihm die Schuld an seinen eigenen Verwirrungen und Verirrungen. Er will von nun an wieder Alonso Quijano genannt werden und verabschiedet sich unter diesem, seinem alten Namen von der Welt. Es stirbt also Alonso Quijano, kurz nachdem er seiner anderen Identität Don Quijote abgeschworen hatte. Genau so, wie er es dem Ritter des Weißen Mondes - respektive Sansón Carrasco, Anwalt und Verlobter seiner Nichte - im Falle einer Niederlage versprochen hatte und so, wie es seine Nichte und seine Haushälterin von ihm erwartet hatten. Nach drei wenig glücklichen Ausfahrten wird der Ort in der Mancha, "an dessen Namen ich mich nicht erinnern will", auch zum Grab der Hauptfigur. Dieser Tod zeigt Parallelen zu der berühmtesten zeitgenössischen Bekehrung, der des baskischen Hidalgo Ignacio de Loyola, der 1521 am Rande des Todes die Ritterromane durch erbauliche Bücher ersetzte.

Wenn Alonso Quijano zum Zeitpunkt seines Todes nicht mehr Don Quijote ist, so lässt diese Tatsache aber im Unterschied zum historischen Abschwören Loyolas den Schluss offen, dass es jedem - und auch heute noch, beinahe 400 Jahre nach dem Tod seines Schöpfers - freisteht, in seine Rolle zu schlüpfen. Miguel de Unamunos Interpretation des Romanendes zufolge bekehrte sich zwar Alonso Quijano, nicht aber sein Alter Ego: "Dieser [Don Quijote] ermutigt uns immer noch, den Narren in der Welt zu spielen; dieser ist unsterblich." Somit darf jeder Don Quijote sein und seinen Illusionen nachreiten, um sie in seine eigene Realität zu verwandeln. Er kann sich zu seiner eigenen "Donquichotterie" verleiten lassen, einer "Torheit aus weltfremdem Idealismus", wie im Duden dieses aus der Romanfigur entstandene Wort erklärt wird - und sich somit einmal mehr der Eingang des Romans in den Sprachgebrauch bestätigt findet.

Für den Leser und somit auch für den zukünftigen Schriftsteller ist Don Quijote damit zum Allgemeinbesitz der Phantasie geworden, er kann ihn auf neue Abenteuer einladen und ihm seine eigenen Zerrbilder der Wirklichkeit entgegenhalten. Sowohl im 1989 erschienenen Roman 'El general en su laberinto' (Der General in seinem Labyrinth) des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márquez wie auch im 1992 erschienenen Roman 'Vigilia del Almirante' (Nachtwache des Admirals) des paraguayischen Schriftstellers Augusto Roa Bastos stirbt Simón Bolívar respektive Cristóbal Colón in Anklang an den Tod des Alonso Quijano alias Don Quijote. Damit offerieren diese beiden Autoren des lateinamerikanischen Booms, die wie unzählige andere Don Quijote in ihr Werk einfließen lassen, einerseits eine Hommage an den Autor des bedeutendsten Werkes der Weltliteratur. Gleichzeitig aber bietet das von den Autoren gewählte Romanende die Interpretation an, dass ihre Protagonisten - ebenso wie Don Quijote -vor ihrem Tod erkennen mussten, dass sie sich Zeit ihres Lebens einer Illusion hingegeben hatten, die es heute - hunderte von Jahren nach ihrem Tod - richtig zu stellen gilt.

Im Nachwort der deutschen Übersetzung von Ludwig Braunfels greift Fritz Martini den Verdacht Miguel de Unamunos auf, "[...] dass Cervantes starb, ohne die ganze Tragweite seines Quijote erfasst, ja vielleicht ohne ihn überhaupt richtig verstanden zu haben". Mit dieser Aussage nimmt der spanische Schriftsteller Bezug auf die mannigfaltige literarische und künstlerische Interpretation des Romans in den vergangenen vier Jahrhunderten, die Miguel de Cervantes beim Verfassen des Ersten Teils nicht ahnen konnte. Für die damalige Zeit ungewöhnlich war, dass dieser erste Teil des 'Don Quijote' bereits zehn Jahre nach seinem Erscheinen ins Französische, Italienische und Deutsche übersetzt erschien, zudem wurde er im Original in Lateinamerika gelesen. Don Quijote reiste schneller und weiter als sein literarischer Vater, dem die Überquerung des Atlantiks Zeit seines Lebens verwehrt geblieben war, denn 1590 war Miguel de Cervantes eine Ausreise nach Amerika und dortige Anstellung vom spanischen König verweigert worden.

Keine Romanfigur ist so häufig in den unterschiedlichsten Variationen wieder aufgetaucht, hat wie Don Quijote Eingang gefunden in Redewendungen und Werbespots, in Schlagern und Opern, in Comic-Strips und Ölgemälden. Bereits 1613 wurde Don Quijote nur Sancho Panza zum ersten Mal bildlich dargestellt, von Andreas Bretschneider, dem der Roman vermutlich in Dresden übersetzt vorgelesen wurde. Die darauf folgenden Illustrationen des Bandes veranschaulichen die unterschiedlichen Interpretationen des Romans im Verlauf der Jahrhunderte. Sie bilden ein Kaleidoskop der möglichen Lesarten von der Mitte des 17. Jahrhunderts (Jacob Savery, 1657) bis heute und leisten einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung des Don Quijote über die Jahrhunderte. Pablo Picassos "Don Quijote" (Lithografie, 1955) ist um die ganze Welt geritten. Walter Benjamin bezeichnet Don Quijote als das "erste große Buch der Gattung [des Romans]" und weist gleichzeitig auf "die Seelengröße, die Kühnheit, die Hilfsbereitschaft eines der Edelsten - eben des Don Quichote [sic!]" hin. Thomas Mann nimmt sich dieses "Weltbuch" im Jahr 1934 auf seine Weltreise über den Atlantik mit und kommentiert in seiner "Meerfahrt mit 'Don Quijote'", dass ihn das "menschlich Mehrschichtige" an diesem Roman am meisten beeindruckt.

Don Quijote ist vieles: ein Ritter, ein Spinner, ein Träumer, ein Freund, ein Liebender. Don Quijote ist dies alles und alles gleichzeitig, und darin liegt wohl der Schlüssel für seine Popularität über 400 Jahre hinweg.


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Literatur:

Unter dem Titel "Don Quijote und seine Aktualität nach 400 Jahren" veranstaltete die Autorin im Juni 2005 ein interdisziplinäres Kolloquium an der KU mit Unterstützung der Maximilian Bickhoff-Stiftung, der Universitätsbibliothek und des Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien. Ziel war es, in der Interpretation des Romans Kunst und Literaturwissenschaft zusammen zu führen. In der Staats- und Seminarbibliothek wurde mit dem Symposium die gleichnamige Ausstellung von Ernst Arnold Bauer eröffnet, in der der Eichstätter Künstler die Illustrationen des Romans um seine eigenen Auslegungen bereicherte und dabei neue Akzente setzte.

Die Beiträge dieses Kolloquiums werden zusammen mit denen einer von Prof. Dr. Klaus-Dieter Ertler an der Universität Graz veranstalteten Tagung veröffentlicht und erscheinen 2006 bei Peter Lang unter dem Titel "Don Quijote - ein widerspenstiger Klassiker".


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2005, Seite 24
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Ruprecht Wimmer
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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