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AKZENTE/130: Neue Offenheit für Religion - Keine Gnade nach dem Sündenfall (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 3/2011

Keine Gnade nach dem Sündenfall
Neue Offenheit für Religion in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart

Von Georg Langenhorst


Mit neuer Unbefangenheit nähern sich deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller unserer Zeit der Gottesfrage und dem Phänomen Religion. Diesem bis heute anhaltenden Trend entspricht auch eine neue Öffnung der Kinder- und Jugendliteratur für religiöse Fragen und Dimensionen.


Der "Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis" des Jahres 2010 wird an ein Bilderbuch verliehen, laut Pressemitteilung geeignet für jedes Alter ab drei Jahren. Heinz Janisch, der 50-jährige österreichische Autor, zeichnet in "Wie war das am Anfang" in knappen, in die Bilder wie Klebestreifen eingefügten Worten nicht das sattsam bekannte und im Kinderbuch vielfach ausgestaltete biblische Sechstagewerk nach, sondern stellt die grundsätzliche Bestimmung des Menschen ins Zentrum. Wie war "ich" gedacht? Als Baum, als Kaktus, als Schneeflocke? Nein: "Gott sagte: Du wirst ein Mensch sein. So ist es. Jetzt." Die Gottgewolltheit jedes einzelnen Menschen wird zur grundlegenden Botschaft, die von der gleichfalls österreichischen Illustratorin Linda Wolfsgruber in zarten, aber ausdrucksstarken Bildern eigenes Profil erhält.

Der "Evangelische Buchpreis" desselben Jahres geht an die 27-jährige Mainzerin Marlene Röder. Der von ihr verfasste Jugendroman "Zebraland", eine stilsicher verfasste jugendgemäße Geschichte um Themen von Schuld, Verantwortung, Freundschaft und Befreiung, speist unaufdringlich die biblischen Bilder von Kain und Abel, des Exodus, der Zehn Gebote und des babylonischen Exils mit ein und verleiht dem Buch so eine religiöse Tiefenschärfe.

Die Beziehung von Gott und Mensch, die Verbindung von biblischer und heutiger Welt - auf ganz unterschiedliche Weise sind sie in den beiden preisgekrönten Büchern selbstverständlicher Bestandteil des literarischen Kosmos. Selbstverständlich?


Neue Protagonisten der Kinder- und Jugendliteratur

Ein Blick zurück in das Jahr 1998: Als Jutta Richter ihr dann sehr erfolgreiches Kinderbuch "Der Hund mit dem gelben Herzen oder Die Geschichte vom Gegenteil" veröffentlicht, reagieren die Leseöffentlichkeit und die germanistische Kinder- und Jugendbuchforschung gleichermaßen mit Verwunderung: Nicht nur, dass hier eine stark biblisch inspirierte und doch ganz eigenständige Schöpfungserzählung vorgelegt wird, erstaunt, sondern vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der hier G.Ott, der - wenngleich so ganz andersartige - Schöpfer selbst personifiziert erscheint. Mit diesem Buch betritt also G.Ott/ Gott, "ein neuer Protagonist" die Bühne der Kinder- und Jugendliteratur. Bis dahin ließ sich kaum übersehen: Von Gott, von Religion, von Konfession war in der nicht-katechetischen Kinder- und Jugendliteratur schlicht keine Rede. Auch in der entsprechenden literaturwissenschaftlichen Forschung verschwand das entsprechende Stichwort aus dem Wahrnehmungsfeld. Es schien also so, als habe die Kinder- und Jugendliteratur "seit den sechziger Jahren" einen "wichtigen Themenbereich verloren: den religiösen" (so die Literaturwissenschaftlerin Gundel Mattenklott).


Engel in kaum zu überblickender Vielzahl

Mit den Emanzipationsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ließ sich eine bestimmte Form der bis dahin weit verbreiteten religiösen Kinder- und Jugendliteratur nicht mehr weiterschreiben: Auch religionspädagogisch distanzierte man sich nun vehement von jener überkommenen "Traktat-Literatur", von "betulichen Heiligenviten-Schmökern", von der dort etablierten "erbaulichen Verhaltensmustermanier", so etwa Reinhold Jacobi 1979. Hubertus Halbfas sprach 1984 von einem weithin zu beobachtenden "Unbehagen an einer religiös expliziten Literatur, die sich nur affirmativ versteht" und "deren Thematik mit der didaktischen Absicht verschmilzt". Die Aufmerksamkeit der Beobachter des Kinder- und Jugendbuchmarktes richtete sich so mehr und mehr auf ethische und soziale Problemstellungen sowie auf philosophische Aufbrüche. Die Frage nach Religion im Kinder- und Jugendbuch war für Jahrzehnte fast völlig verstummt.

Spätestens mit dem "Hund mit dem gelben Herzen" gilt dieser Befund nicht mehr, im Gegenteil. Nach mehr als zwei Jahrzehnten der deutlichen Zurückhaltung kann man von einem regelrechten Boom der Religion in der Kinder- und Jugendliteratur sprechen (vgl. auch HK, September 1999, 468 ff.). Zahlreiche Werke vom Bilderbuch bis zum Jugendroman erscheinen, die Religion entweder explizit thematisch ausgestalten oder die religiösen Dimensionen wie selbstverständlich implizit mit aufnehmen. Auch die Forschung reagiert allmählich auf diese Entwicklung. Sammelbände und vereinzelte Monographien wenden sich der Untersuchung des weiten Feldes von Religion in der Kinder- und Jugendliteratur genauso zu wie literaturwissenschaftliche oder religionspädagogische Themenhefte (Überblick in: Georg Langenhorst [Hg.]: Gestatten Gott. Religion in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart, München 2011).


Thematisch spannt sich das Feld breit aus. In zahlreichen erzählenden Kinder- und Jugendbüchern finden sich fiktionale Ausgestaltungen von biblischen Erzählungen, sei dies im Blick auf alttestamentliche Themen (etwa: Anne Provoost "Flutzeit", 2003; Ulrich Hub "An der Arche um Acht", 2007) oder neutestamentliche Stoffe (wie zum Beispiel Alois Prinz, "Der erste Christ. Die Lebensgeschichte des Apostels Paulus", 2007; Arnulf Zitelmann "Ich, Tobit, erzähle diese Geschichte", 2009). An die Seite dieser biblisch inspirierten Werke treten zum einen Legenden über Heilige und mythologische Figuren, sei es als historische Erzählung, sei es in Transfiguration als heutiges Geschehen (vgl. Doris Dörrie, "Martin", 2010). Sie haben ihren primären "Sitz im Leben" in der katechetischen Binnenwelt.

Zum anderen stößt man in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur aber in kaum zu überblickender Vielzahl und Variation auf Engel. Man kann geradezu von "Engelscharen" (Mattenklott) sprechen, die seit den achtziger Jahren die Kinder- und Jugendliteratur bevölkern, offensichtlich deshalb, weil sie die spielerische Möglichkeit der Andeutung von Transzendenz bieten, ohne sich religiös festlegen zu müssen (vgl. nur zuletzt Cornelia Funke, "Der verlorene Engel", 2009, oder Ingrid und Dieter Schubert "Engel braucht Hilfe", 2009).


Völlig eigenständig erfolgt die direkte Auseinandersetzung mit Gott, die fast immer eingebettet wird in konkrete Problemstellungen aus dem heutigen Lebensalltag (vgl. nur Johann Hinrich Claussen, "Moritz und der liebe Gott", 2004; Elisabeth Zöller, "Lara Lustig und der liebe Gott", 2006; Danielle Proskar, "Karo und der liebe Gott", 2009).

Eine traditionelle Verortung der religiösen Dimension ist die Frage nach dem Sinn von Tod und Sterben, häufig gekoppelt mit der direkt benannten Theodizeefrage, warum Gott Leiden zulässt (Christoph Hein, "Mama ist gegangen. Roman für Kinder", 2003; Jutta Richter, "Hechtsommer", 2004; Wolf Erlbruch, "Ente, Tod und Tulpe", München 2007).

Nur gelegentlich finden sich literarische Kinder- und Jugendbücher, die den Umgang mit der Institution Kirche streifen. Wenn, dann findet diese Thematisierung statt im Kontext der Feier der Erstkommunion (vgl. Renate Günzel-Horatz, "Ein turbulenter Weißer Sonntag", 2004) oder im Blick auf die Festzeiten und Feiertage des Kirchenjahres, vor allem Weihnachten (vgl. Sjoerd Kuyper, "Robin und Gott. Eine Weihnachtsgeschichte", 1997; Jostein Gaarder "Das Weihnachtsgeheimnis", 1998).


Die wenigen Studien zur Bedeutung von Religion in der Kinder- und Jugendliteratur der achtziger Jahre konzentrierten sich im Kontext eines sehr allgemeinen Religionsbegriffs vor allem auf menschliche Urthemen, in denen indirekt das Religiöse mit angesprochen wurde oder eben darin aufging. Die Fragen nach Identität, Freundschaft, Liebe oder Schuld bleiben im Jugendbuch zentral; offen bleibt aber jeweils, ob man hier wirklich von explizit religiösen Dimensionen sprechen sollte. Primär geht es in diesen Büchern um ethische Fragen. In neueren Büchern wird jedoch immer wieder auch direkt die religiöse Dimension thematisiert (Björn Sortland, "Die Minute der Wahrheit. Roman über die Liebe und die Kunst", 2005; Blake Nelson "Paranoid Park", 2006; John Green "Eine wie Alaska", 2007)

Auffällig ist schließlich eine neue Öffnung für interreligiöse Fragestellungen, explizit erkennbar etwa in Mirjam Presslers Lessing-Adaptation "Nathan und seine Kinder" (2009), in Victoria Krabbes "Sara will es wissen. Eine Geschichte über die 5 Weltreligionen" (2008) oder Christiane Thiels "Mein Gott und ich" (2009). Einzelne Jugendbücher erzählen von der lebensweltlichen Erfahrung unserer Gegenwart aus Sicht des Judentums, witzig-alltäglich etwa in Holly-Jane Rahlens' "Prinz William, Maximilian Minsky und ich" (2002), nachdenklich-erinnernd zum Beispiel in "Rosie und der Urgroßvater" von Monika Helfer und Michael Köhlmeier (2010).

Immer häufiger wird auch das Leben von jugendlichen Muslimen in der westlichen Welt beschrieben, sei es in Außenperspektive etwa in Maria Regina Kaisers Roman "Wohin ich gehöre" (1999), sei es aus Binnenperspektive zum Beispiel bei Aygen-Sibel Celik in "Seidenhaar" (2007). Eher selten finden sich thematische Wendungen zu fernöstlichen Religionen (vgl. aber etwa Kazumi Yumoto, "Eine Schublade voller Briefe", 2003; oder Peter Dickinsons "Die Dämonen von Dong Pe", 2005).


Was trägt im Leben?

"Nichts was im Leben wichtig ist" von Janne Teller - das ist im deutschen Sprachraum wohl der Jugendroman des Jahres 2010. Schon im Jahre 2000 im dänischen Original veröffentlicht, eilte ihm ein Ruf als Skandalbuch voraus: Zunächst von Schulämtern als Schullektüre verboten, von Pfarrern und Bibliothekaren als Schund gebrandmarkt, wurde es dann in Dänemark zum preisgekrönten Bestseller, empfohlen zum Einsatz in Unterricht und Gemeindearbeit. Zehn Jahre später erschien also die deutschsprachige Übersetzung, die zwar keine Skandale mehr auslöste, wohl aber eine ausgesprochen intensive Beachtung in den Medien erfuhr.

Eine Schule in Dänemark. Ein Außenseiter unter den Dreizehn-Vierzehnjährigen, Pierre Anthon, verlässt das Klassenzimmer, klettert auf einen Baum, verbringt dort den Tag und verkündet seine nihilistische Botschaft: "Nichts bedeutet irgendetwas. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun" (9). "Alles ist egal. Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem" (11). Eine Gruppe seiner Schulkameraden reagiert erst belustigt, dann besorgt, schließlich geschockt.

Sie beschließen, dem nihilistischen Vergänglichkeitspropheten das Gegenteil zu beweisen: Es gibt sehr wohl Sinn und Bedeutung. In ihrem Treffpunkt, einem verlassenen Sägewerk, schichten sie einen "Berg der Bedeutung" auf. Jeder von ihnen muss etwas geben und opfern, das für ihn ganz persönlich von hoher Bedeutung ist. Wer als letztes etwas gegeben hat, darf bestimmen, wer welches Opfer als nächstes zu bringen hat. Es beginnt mit eher harmlosen Vorgaben, steigert sich dann aber von Mal zu Mal in immer extremere Vorgaben: Am Anfang stehen Lieblingssandalen, aber dann dreht sich die Spirale des Ekels und der Grausamkeiten. Der Sarg des gestorbenen Bruders eines Mädchens aus der Gruppe bildet den Auftakt, ein anderes Opfer verlangt nach der Preisgabe der Jungfräulichkeit.

Auch explizit religiöse Tabubrüche werden eingefordert: Ein gläubiger Christ muss in seine Kirche einbrechen, den Christuscorpus vom Kreuz abtrennen und auf den ständig wachsenden Berg legen. Ein Muslim muss seinen Gebetsteppich beisteuern. Erst als ein Gitarrespieler unter den Jugendlichen einen Finger opfert, scheint das makabre Ziel erreicht. Dieser von ihnen zusammengetragene "Berg aus Bedeutung" (106) muss den Nihilisten doch davon überzeugen, dass es eben doch Sinn gibt!

Die Presse erfährt von dem "Berg", die abstruse Aktion der Jugendlichen schafft es in die Schlagzeilen der Weltöffentlichkeit, ein Museum bietet dreieinhalb Millionen Dollar für die Übernahme des "Kunstwerkes". Allein: Das Hauptziel wird nicht erreicht. "Alles ist egal", beharrt Pierre Anthon, dem die Gruppe erwartungsvoll ihr Machwerk präsentiert. "Es gibt nichts, was irgendetwas bedeutet. Auch nicht euer Haufen Gerümpel" (110). Tief verunsichert verbreitet sich in der Gruppe die Befürchtung, dass er Recht haben könnte.

Am Tag, als die Museumsleute den "Berg der Bedeutung" abholen wollen, trifft sich die Gruppe ein letztes Mal, unter ihnen der Außenseiter. Triumphierend stellt er fest, dass er offensichtlich Recht behalten habe. In einem kollektiven Ausbruch von animalischer Aggression und Hass tötet die Gruppe den Provokateur und brennt das Gebäude samt "Berg der Bedeutung" nieder. Die Erzählerin, die das Geschehen vorgeblich acht Jahre später entfaltet, schließt mit der mahnenden Einsicht: "Und ich weiß, dass man mit der Bedeutung nicht spaßen soll" (140).


Teller (geb. 1964) hat einen verstörenden Jugendroman geschrieben, lakonisch, distanziert, kühl erzählt, genau kalkuliert in seinen Zutaten von Ekel und Grausamkeit. Keine Figur ist psychologisch umfassend ausgeleuchtet, kaum einer der Jugendlichen erhält wirkliches Profil. Der erzählerisch stimmig angelegte Roman, eher wohl als Parabel konzipiert, bleibt so seltsam ungreifbar. Die Autorin enthält sich aller Urteile, gibt keine Lösungen und Perspektiven vor. Das ist das Erfolgsrezept des Romans. Er verweist die Reaktionen und Einsichten an die Lesenden. Ob alles sinnlos, ob "nichts" von Bedeutung ist, ob religiöse Überzeugungen in diesem Strudel der Sinnlosigkeit mit untergehen - oder gerade nicht: Diese Fragen werden an uns Lesende in einer Weise zurückgegeben, dass man sich ihnen kaum entziehen kann.


Die Münsterländerin Jutta Richter (geb. 1955) ist eine der profiliertesten, international bekanntesten und meistgelesenen deutschsprachigen Kinder- und JugendbuchautorInnen der Gegenwart. Ihr Werk wurde nicht nur mit dem "Deutschen Jugendliteraturpreis" (2001) und dem "Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis" (2005) ausgezeichnet, sondern jüngst auch mit dem italienischen (2007) und amerikanischen (2008) Kinderbuchpreis. Sie sei "sehr katholisch aufgewachsen" und wolle "für eine lebendige Kirche eintreten", erklärte sie.

Diese biographische Prägung hat in ihrem gesamten Schaffen deutliche Spuren hinterlassen. Neben Germanistik und Publizistik hat sie auch Katholische Theologie studiert, dieses Studium jedoch abgebrochen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen streng religiösen Erziehung wurde in dem 1982 veröffentlichten Jugendbuch der Autorin "Himmel, Hölle, Fegefeuer. Versuch einer Befreiung" zum literarischen Thema. Trotz des Kirchenaustritts bleiben allgemein religiöse sowie konkret christlich-theologische Fragen und biblische Themen in ihrem Werk zentral.


Metamorphosen der Paradies-Geschichte

In ihrem Buch "Der Anfang von allem" (2008) kommt Jutta Richter nach "Der Hund mit dem gelben Herzen" noch einmal auf die Schöpfungsthematik und darin auf die Schilderung des Menschenbildes und die Beschreibung der Beziehung von Gott und Mensch zurück. Während "Der Hund mit dem gelben Herzen" als Transfigurationsgeschichte konzipiert ist und so die Schöpfungsthematik allegorisch in unsere Gegenwart spiegelt, führt diese Erzählung direkt in den Mythos des Buches Genesis zurück, variiert diesen freilich an entscheidenden Stellen.

Wie jüngst der russisch-deutsch-jüdische Autor Wladimir Kaminer ("Das Leben ist kein Joghurt", 2010) erzählt Richter in diesem Jugendbuch den Paradies-Mythos (Gen 2,4-4,16) von der Erschaffung des Menschen bis zur Flucht Kains nach. Sie lässt verschiedene Erzählerstimmen zu Wort kommen: Einen allwissenden auktorialen Erzähler, der freilich nur kursiv gesetzte Rahmen- und Zwischentexte beisteuert; Adam selbst, der seine subjektive Sicht der Ereignisse schildert; vor allem aber eine Katze, die das gesamte Geschehen entfaltet und kommentiert. Da Kinder dieser Altersstufe besonders sensibel und empathisch auf Tiere reagieren, entpuppt sich gerade diese verfremdende Erzählsicht als ein gelungener literarischer Zugang.

Grundsätzlich psychologisiert die Autorin den gänzlich unpsychologisch erzählten biblischen Mythos. Sie versucht eine aus heutiger Sicht plausible Version der Paradiesgeschichte zu erzählen, die dann tatsächlich einiger verändernder Eingriffe bedarf. Alle im biblischen Mythos rätselhaften Rückfragen an Gott werden zu verständlichen Rückfragen an Adam. Eva wird gegen die Logik der biblischen Erzählung bereits im Paradies schwanger. Als Schwangere verlangt es ihr unaufhaltsam nach der Frucht eines neu gepflanzten Baumes.

Dieser Apfel aber darf nur vom Herrn geerntet werden, nicht von ihnen, wie Adam zu bedenken gibt. Umsonst! Kaum dass sie davon gekostet haben, beginnen sich die beiden Partner voneinander zu entfremden. Nicht Begierde, Scham und Tod sind Konsequenzen dieses "Sündenfalls", sondern Selbstentfremdung ("Ich kannte mich nicht mehr") und erkaltende Liebe ("Wir saßen uns gegenüber und waren doch jeder allein." [40 f.]). Als der Herr in den Garten kommt, erstarrt er vor Schreck und Verzweiflung. Er vertreibt Adam und Eva aus dem Paradies, weil sie das grundsätzliche Vertrauen und die gegenseitige Freundschaft zerstört haben. Die von ihnen selbst so empfundene Abtrennung der Verbundenheit wird zur Ursache der Vertreibung.

Außerhalb des paradiesischen Gartens finden sie Unterschlupf bei einem Hirten. Dieser Hirt aber ist niemand anderes als der Herr selbst, der seine Schöpfungen also auch außerhalb des Paradieses nicht allein lässt. Kain wird geboren, ein Kind, dem Adam von Anfang an mit Distanz begegnet. Ganz anders der zweite, Abel. Die eindeutige Bevorzugung des Vaters sät Hass. Als Adam Kain in einem unbeherrschten Augenblick seine Verachtung entgegenschleudert und auf Abel als Vorbild verweist, nimmt das Unglück seinen Lauf, einem versuchten Eingriff des "Hirten" zum Trotz. Nicht Gottes rätselhafte Bevorzugung des Opfers Abels wird hier zur Ursache des Brudermords, sondern psychologisch umgeleitet die ungerechte Bevorzugung des unbeherrschten Vaters. Am Ende sitzt Adam nachts verzweifelt vor seinem Haus, grübelt nach, warum alles so kommen musste, schleudert Gott seine Warum-Frage entgegen.


Mit einem Paukenschlag betrat die Engländerin Sally Nicholls (geb. 1983) die internationale Szene der Kinder- und Jugendliteratur. 2008 erschien ihr Debüt "Wie man unsterblich wird. Jede Minute zählt", innerhalb kurzer Zeit in 16 Sprachen übersetzt. "Dies ist mein Buch, begonnen am 7. Januar, beendet am 12. April. Es ist eine Sammlung von Listen, Geschichten, Bildern, Fragen und Tatsachen. Und es ist meine Geschichte" (11). So beginnt das Buch um den Protagonisten, den an Leukämie erkrankten elfjährigen Sam, das mit dem Bericht von seinem Tod enden wird. Und in der Tat besteht es aus einer Mischung aus Erzählfragmenten, Listen, Erinnerungen, Aufzeichnungen. Sam und der zwei Jahre ältere Felix begegnen sich in einem Krankenhaus im Wissen, dass sie beide schwer, wohl unheilbar erkrankt sind. Ihr eigenes Sterben vor Augen machen sie sich Gedanken über den Sinn des Lebens und des Todes. All das wird nicht schwermütig entfaltet, sondern humorvoll, mit Witz, Ironie und Doppelbödigkeit.


Gedanken über den Sinn des Lebens und des Todes

In diesem bunten Erzählkosmos kommt die Rede immer wieder auf Gott und Religion, auch wenn diese Ebene keineswegs im Zentrum des Buches steht. Sam hat sich vorgenommen Antworten zu finden, auf "Fragen, die niemand beantwortet" (22). Sie strukturieren das Buch, wie etwa die: "Wohin geht man, wenn man gestorben ist?" (149) Oder: "Wird die Welt noch da sein, wenn ich weg bin?" (71). Mrs. Willis, eine im Krankenhaus arbeitende Lehrerin, stößt die beiden Jungen auf eine solche Frage: "Warum lässt Gott Kinder krank werden? Was glaubt ihr?" Und dann ihre Idee: "Wie viele mögliche Antworten könnt ihr bis um zwölf darauf finden" (47)? Punkt für Punkt entfalten die beiden in ihrer Sprache Argumente der Theodizee von "Gott ist in Wirklichkeit böse" (48) bis zu "Kranksein ist ein Geschenk - wie eine Freikarte für den Himmel" (50), um sie letztlich doch sämtlich zurückzuweisen.

Vor allem Felix erweist sich als Ungläubiger, während Sam eher ein Suchender bleibt. Als Felix stirbt und die Gemeinde bei seiner Beerdigung Kirchenlieder anstimmt, erhebt Sams kleine Schwester Ella folgerichtig Einspruch: "Aber Felix glaubte doch gar nicht an Gott!" In die peinliche Stille hinein ergreift eine "alte Dame" das Wort, wendet sich Ella zu mit dem überraschenden Eingeständnis: "Natürlich ist das alles nur dummes Zeug, Schätzchen. Aber besser, man sagt nichts. Du willst doch nicht, dass der Pfarrer in Tränen ausbricht, oder" (138)? Am Ende sind viele gute Fragen gestellt, ohne beantwortet zu werden. Den Schluss bildet der Gedanke: "Es könnte auch völlig anders kommen. Keiner weiß es" (191).


Autonomie des Zugangs zu Religion und Gottesfrage wird vorausgesetzt

Das Erstaunliche an dem reichen Befund liegt darin, dass es tatsächlich Beispiele für völlig unterschiedliche Tendenzen gibt, sowohl im Kinder- als auch im Jugendbuch. In jedem Fall bestätigt sich nachdrücklich die Beobachtung, dass der "neuen Unbefangenheit" im Umgang mit Religion in der "Erwachsenenliteratur" seit 1990 (vgl. HK, Mai 2002, 227 ff.) ein vergleichbarer "Boom" in der Kinder- und Jugendliteratur entspricht - ohne dass Religion und Gottesfrage dabei zu vorherrschenden Themen würden, ohne dass dem eine Bewegung, eine bewusst gesteuerte Institutionalisierung zu Grunde läge, und ohne dass dies in Gemeinden oder Schulen einen spürbaren Trend hin zu gelebter Religiosität auslösen würde.

Hinter diesem Phänomen einer neuen Offenheit für religiöse Fragestellungen in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur lassen sich unterschiedliche Ursachen vermuten. Auf der einen Seite sorgt der Traditionsabbruch in Sachen Religion in unserer Gesellschaft dafür, dass viele Eltern und Erziehende das Bedürfnis verspüren, Kinder und Jugendliche eben doch nicht so ganz ohne religiöses Wissen und Erfahrungen aufwachsen zu lassen. Literatur kann und soll hier kompensatorisch wirken, zumindest wird das erhofft. Kinder und Jugendliche selbst sind möglicherweise neu offen für religiöse Dimensionen, weil sie - anders als Vorgängergenerationen - mit Religion eben nicht überfüttert wurden oder gar unter dem Phänomen der "Gottesvergiftung" (Tilman Moser) zu leiden hatten. Autorinnen und Autoren von Kinder- und Jugendliteratur schließlich erkennen ihrerseits, dass das Feld Religion zunehmend unbesetzt bleibt, sich deshalb für die fiktionale Erschließung anbietet. Jenseits der früher möglichen Befürchtung einer kirchlichen Indizierung oder Vereinnahmung gehen sie heute selbstverständlich von einer Autonomie des Zugangs zu Religion und Gottesfrage aus. Gebunden fühlen sie sich nur an die Grenzen der eigenen Überzeugung und der ästhetischen Stimmigkeit.


Die vorliegenden Bücher bestätigen ungewollt, wie radikal der Traditionsabbruch der kirchlich vermittelten Religion in unserer Gesellschaft erfolgt ist. Die klassische Sprachwelt des Glaubens, all das theologische Binnenverständigungsvokabular von Gnade, Sünde, Sakrament, Rechtfertigung oder Erlösung, spielt keine nennenswerte Rolle mehr. Selbst rein auf ein binnenkirchliches Lesepublikum abzielende Publikationen vermeiden diese Begrifflichkeiten, weil sie einer sowohl unverständlichen als auch unattraktiven, kaum noch lebendigen Fremdsprache entstammen. Inhaltlich kann es durchaus um vergleichbare Fragen gehen, aber das klassische Sprach- und Denkangebot der Kirchen bietet für weite Bereiche sowohl der Fragen als auch der möglichen Antworten offenbar keine produktiv literarisch nutzbaren Potenziale an.


Georg Langenhorst (geb. 1962), Dr. theol. habil., ist seit 2006 Professor für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts/Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkt: Theologie und Literatur, Betreuer der Website www.theologie-und-literatur.de; Jüngste Veröffentlichungen: Literarische Texte im Religionsunterricht. Ein Handbuch für die Praxis (Freiburg 2011); Gestatten: Gott! Religion in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart (München 2011).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 3, März 2011, S. 154-159
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2011