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AKZENTE/123: Laudatio auf David Grossman (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

Notwehr gegen die Verzweiflung
Laudatio auf David Grossman

Von Frank-Walter Steinmeier


Am 25. April 2010 erhielten David Grossman und seine Übersetzerin Anne Birkenhauer den Albatros-Literaturpreis der Medienstiftung Günter Grass in Bremen. Bei der Verleihung, bei der auch der frühere israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Avi Primor, und der amtierende Bundesratspräsident, Bremens Bürgermeister Jens Böhnsen, anwesend waren, hielt der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag die Laudatio auf den israelischen Schriftsteller, die wir hier dokumentieren.


Auf diesen Abend habe ich mich wirklich gefreut: Auf das Wiedersehen mit einem Freund aus Israel, den ich seit einigen Jahren zu meinen Gesprächspartnern zählen darf. Und darauf, dass ich mit Ihnen zusammen einen überragenden israelischen Essayisten, Erzähler und politischen Intellektuellen begrüßen darf. Herzlich willkommen David Grossman!

Lieber David, ich habe in diesen Jahren aus Gesprächen und aus Deinen Büchern viel von Dir gelernt. Dazu gehört die Einsicht, wie sehr die Lage des Landes Israel und der Konflikt im Nahen Osten bestimmt sind von den Empfindungen und Vorverständnissen, die weder in den Schlagworten der Propaganda, noch in der spröden Sprache der internationalen Diplomatie ihren Ausdruck finden. Von der Verletzlichkeit hinter dem Säbelrasseln. Und David Grossman sieht sie, diese Verletzlichkeit, auf beiden Seiten und bei beiden Konfliktparteien.

In den meisten politischen Reden und völkerrechtlichen Resolutionen über Israel und die Palästinenser bleibt etwas Wesentliches unsichtbar. Man muss es mit sehr feinen Instrumenten messen.

Die Sprache von David Grossman ist das feine Instrument, das die Nervenenden und tieferen menschlichen Erschütterungen des Nahostkonflikts aufdeckt. Sein Werk macht sichtbar, was den Ungeduldigen und Oberflächlichen in der Politik verborgen bleiben muss. Er lehrt uns Aufmerksamkeit, Genauigkeit und Vorsicht im Urteil. Ich weiß, dass das nicht seine Absicht ist: Aber jeder deutsche Außenpolitiker sollte Grossman lesen, bevor er sich auf die Reise macht.

Wenn ich es richtig sehe, ist David Grossman einer der ersten Autoren seines Landes, die sich ohne Vorbehalt der Situation in den besetzten Gebieten gewidmet haben. Und das heißt: Einer der ersten jüdischen Autoren, die den Palästinensern Gesicht und Stimme und so etwas wie emotionale Identität gegeben haben. In seinem ersten Roman Das Lächeln des Lammes, der in Israel 1983 erschien, wurde dieser Tabubruch nicht nur vollzogen, sondern auch reflektiert: In der Romangestalt Uri etwa, der das Verschwiegene ausspricht und "das Anwachsen der Lüge stört". Auch der Lebenslüge, dass es eine palästinensische Identität gar nicht gibt.

Hinzu trat 1988 die Intifada-Reportage Der gelbe Wind, in der palästinensische Steinewerfer ebenso zu Wort kommen wie jüdische Siedler und in der von den Angstträumen der Kinder in den Flüchtlingslagern ebenso berichtet wird wie von denen der Siedlerkinder.

Die schweigende Angst, die Furcht, die sich nicht entblößen darf, weil im Kampf alles, nur nicht menschliche Schwäche erlaubt ist - dies ist ein wiederkehrendes Motiv in den Büchern von Grossman. Etwa in dem Roman Stichwort Liebe, der die alptraumhafte Last der Erinnerung an den Holocaust darstellt. Und der sie verbindet mit dem Blick eines Kindes. Das Kind Überlebender spürt die allgegenwärtige Last, deren Ursache von den Eltern sorgsam verschwiegen wird. Und da es keine Erklärung hat, erfindet es eine und personifiziert den Albtraum in einer Bestie, die im Keller lebt. Es ersinnt Strategien, sie hervorzulocken und zu besiegen, damit die Eltern endlich aufatmen können.

David Grossman hat ein unglaubliches Gespür für die Gefühlswelt der Kinder. Da merkt man, dass er 14 Jahre lang eine Kindersendung im israelischen Hörfunk geleitet und auch später Kinderbücher verfasst hat. Meine Tochter hütet das Buch Zickzackkind mit seiner Widmung immer noch wie eine Trophäe im Buchregal. Grossman lässt sich nicht zu den Kindern herab, er nimmt ihren Blick ein und belehrt damit die Erwachsenen.

Denn in der Kindheit liegt noch alles offen, was später mit Ideologie oder Schweigen zugedeckt wird. Deshalb ist der Weg zurück in die Kindheit eine Spurensuche nach den tiefen Wurzeln der Angst. Der Angst der Kinder um ihre Eltern und natürlich die der Eltern um ihre Kinder.

Lieber David! Als ich die Einladung zum heutigen Abend erhielt, stieg in mir die Erinnerung an den Sommer 2006 wieder auf. Ich hatte die Wochen des zweiten Libanonkrieges vor Augen mit dem fast pausenlosen diplomatischen Ringen um einen Waffenstillstand, an dem ich beteiligt war. Vor allem dachte ich an unsere damalige Begegnung im King David in Jerusalem. Ich erinnere mich gut, dass Du mir sagtest, dieser Krieg müsse schnell beendet werden, denn jede weitere militärische Verstrickung Israels führe in die Katastrophe. Tatsächlich hatten wir die begründete Hoffnung, dass der Waffenstillstand unmittelbar bevorstand. So verabschiedeten wir uns, und Du sagtest: "Zum ersten Mal habe ich Angst." Ich war kaum zurück in Berlin, da erreichte mich das Telegramm aus Israel. Dein Sohn Uri war gefallen, erst 21 Jahre alt, gestorben in den letzten Stunden dieses Krieges.

Als ich hörte, dass die Ereignisse des Sommers 2006 mit dem neuen Buch in Berührung stehen, war mir klar, dass dieser Roman beides sein wird - ein Stück Weltliteratur, wie die Frankfurter Allgemeine schrieb, und zugleich eine sehr persönliche Geschichte über die Empfindungen und Erschütterungen, die der Krieg hinterlässt.


Türen öffnen zum Leben

Als ich in Vorbereitung auf den heutigen Abend die vielen Buchbesprechungen und die Interviews mit David Grossman durchblätterte, die aus Anlass des neuen Romans erschienen sind, war ich etwas erschrocken. Kein Artikel ohne den Hinweis auf den Verlust des Sohnes. Kein Interview ohne die Frage danach. Ich finde es bewunderungswürdig, lieber David, mit welcher Geduld Du alle diese Fragen beantwortet hast. Umso mehr, als die einfachste und nächstliegende Frage, unter welchen Umständen Dein Sohn Uri gestorben ist, von niemandem gestellt wurde. Die Antwort lautet: Bei dem Versuch, die Besatzung eines getroffenen Panzers zu retten. Er starb, als er retten wollte. Das ist kein Detail. Das ist eine Wahrheit, die unendlich viel sagt über einen Menschen und die eine Tür öffnet zu seinem Leben.

Auch der neue Roman öffnet so eine Tür. Und wer einmal hindurchgegangen ist, den zieht es immer weiter hinein in die Lebensgeschichte der Personen. Ich bin kein Literaturkritiker. Aber ich glaube, dass David Grossman meisterhaft die große Kunst ausübt, Nähe herzustellen. Wer ihn liest, fühlt sich seinen Personen bald so nah und vertraut, dass er quasi selbst zur Verwandtschaft gehört. Auch der Leser wird gewissermaßen Teil der Familie.

Dieser Roman holt den Leser mitten hinein in den Alltag eines israelischen Lebens. Es gibt Passagen, da stockt einem der Atem: Das ist beispielsweise der Moment, in dem einem Kind bewusst wird, dass es so etwas wie Feinde gibt und dass sie zahlreicher sind als die Freunde. Das ist der Einbruch der Angst in die Kindheit und die Auflehnung gegen diese Angst - dadurch, dass das Kind beschließt, nicht mehr Israeli, sondern fortan Engländer sein zu wollen, weil die ein normales Leben haben. Oder viel später die Begegnung zwischen Mutter und Sohn, als der sich zu Hause, auf Urlaub vom Dienst in den besetzten Gebieten, einen Knüppel schnitzt, weil das nicht zur Ausrüstung der Armee gehöre, aber am meisten helfe in den Situationen, in die er gerate. Und als die Mutter ihr Entsetzen nicht verbergen kann, antwortet er nur lapidar, das sei ein minimaler Einsatz von Gewalt und verhindere Schlimmeres.

David Grossman hat in einem Interview erklärt, das Thema des Buches sei die "extreme Schärfe des Lebens in Israel", die jeden einhole. "Spätestens", so Grossman, "wenn deine Söhne in die Pubertät kommen und sich der Schatten der Armee über sie legt".

Die Erzählung misst diesen Schatten sehr genau aus. Dazu gehört die Gefahr der Abstumpfung und des Zynismus. Abstumpfung, weil der arabisch-jüdische Konflikt durch immer neue Zyklen läuft, ohne dass moralischer Protest oder rationale Lösungen daran irgendetwas ändern zu können scheinen. Abstumpfung, weil er zur Existenzformel des Landes zu gehören scheint. Sie scheint immer dagewesen zu sein und auf immer zu bleiben. Das ist fast nicht zu ertragen. Und wer aus dieser Perspektive die Abgebrühtheit und die makabren Scherze der jungen Soldaten ansieht, der erkennt darin eine Art Notwehr gegen die Verzweiflung.

Das alles wird von David Grossman eindringlich vor Augen geführt. Alles das gehört zur Situation des israelischen Schriftstellers und zum "Schreiben im Katastrophengebiet", wie Grossman es nennt. Aber die Art und Weise und die Intensität, mit der er den Zynismus zum Thema macht, gerade darin liegt auch schon der Widerstand gegen die Abstumpfung. Gerade das birgt den Keim von Hoffnung. Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Söhne, die noch halbe Kinder sind, nicht mehr die Logik auf ihrer Seite haben, wenn sie sich Knüppel schnitzen. Eine Zukunft, in der die furchtbare Logik der Angst und der Gewalt durch eine Logik der gegenseitigen Anerkennung und des Friedens ersetzt würde.


Gegen Zynismus und Resignation

Zynismus in der Politik ist eine schlimme Sache. Denn Zyniker handeln nicht mehr, sie erdulden nur noch. Handeln aber müssen wir, handeln, um zu verändern und zu verbessern, wenn Politik überhaupt einen Wert haben soll. Wer David Grossman mit diesem Gedanken liest, der wird von ihm vielfache Unterstützung bekommen. Auch der neue Roman wendet sich mit großer Kraft gegen die eigentlich menschliche Reaktion, angesichts der immer neuen Gewalt zu resignieren. Übrigens gilt das auch für Deutschland, wo viele aus Überdruss vor den dauernd schlechten Nachrichten den Blick abwenden und vom Nahen Osten nichts mehr wissen wollen.

Dieses Buch ist gegen Abstumpfung, gegen Resignation und gegen das Blickabwenden gerichtet. Es lehrt Geduld, Genauigkeit und Vorsicht im Urteil. Hier in Deutschland holt es Leser, die sich vom Nahen Osten abwenden, zurück und mitten hinein in eine israelische Familie, in die lange Kindheit von Söhnen, die später unter den Schatten des Krieges kommen. Ich glaube, diese Nähe ist das heilende Mittel, das David Grossman gegen den Zynismus hat.

An einer wunderbaren Stelle liegen die zwei Söhne, Adam und Ofer, neun und sechs Jahre alt, abends beim Einschlafen nebeneinander im Zimmer. Sie denken sich Fantasiefiguren aus. Adam, der Ältere, erfindet den "Verrückten Tod". Ofer bekommt Angst und bittet den Bruder: "Erfinde auch mir was, erfinde mir was gegen ihn." Und schließlich erfindet Adam für den Jüngeren einen "Falkenmann", der die Macht hat, ihn vor allem zu beschützen. Erst dann kann er in Ruhe einschlafen. Wer erwachsen wird, glaubt nicht mehr an den Falkenmann. Aber wer mit David Grossman auf diesen Kinderwunsch zurückblickt, entdeckt die Verwundbarkeit von Menschen, die sich gegen die Furcht vor der Gewalt mit allen Mitteln zu wappnen versuchen.

Das Buch heißt Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Und erzählt wird, wie eine Mutter vor der Nachricht fliehen will, dass ihr Sohn im Krieg gefallen ist. Niemand kann vor einer solchen Nachricht ausweichen. Aber, und auch das zeigt dieser Roman, man soll nicht allein sein, wenn die Nachricht eintrifft. So wie die Protagonistin dieser Erzählung Halt findet im Dialog mit dem Freund, so sollte auch das Land, das so viele Söhne verloren hat, nicht allein stehen.

Dem Autor dieses wunderbaren Buches gebührt großer Dank. Ich freue mich, dass David Grossman heute mit dem Albatros geehrt wird.


Frank-Walter Steinmeier (* 1956) war 2005-2009 Bundesminister des Auswärtigen. Seit 2009 ist er Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.

frank-walter.steinmeier@bundestag.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 64-67
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2010