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AKZENTE/114: Das Erbe der Großschriftsteller (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009

Das Erbe der Großschriftsteller
Vom Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit

Von Jochen Rack


Wenn in Frankfurt zur Buchmesse die literarische Ernte aus deutschen Landen frisch auf die Messetische kommt, versuchen Feuilleton und Literaturkritik, die Flut der Neuerscheinungen zu sortieren und einige Bücher und Autoren aus der Masse herauszuheben, indem man sie mit Auszeichnungen und Prädikaten versieht. Der Markt ist der große Gleichmacher, und in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit bedingt nur Publizität Verkaufserfolg. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Schriftsteller, die ihre Sturm- und Drang-Phase längst hinter sich haben, noch immer eine unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit genießen.


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Die Rede ist von den alten Herren der dentschen Literatur: Günter Grass, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger oder auch dem kürzlich verstorbenen Peter Rühmkorf sowie Alexander Kluge, der spät zu den Ehren eines Büchnerpreises gekommen ist. Man kann diese Altmeister der deutschen Literatur, die längst ihre 75. und 80. Geburtstage hinter sich haben, in Anlehnung an Robert Musil als Großschriftsteller bezeichnen.

Man kann diese Vertreter einer einzigartigen Generation deutscher Autoren heute nicht zu Unrecht als Patriarchen bezeichnen. Sie hatten ihre großen Auftritte in der Stunde Null der deutschen Nachkriegsliteratur und haben - das ist das Erstaunliche - ihre diskursiv-mediale Macht ein halbes Jahrhundert behauptet. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters publizieren sie munter weiter, lösen öffentliche Debatten und publizistische Erregungen aus. Wenn Grass das "weite Feld" der deutschen Wiedervereinigung vermisst, über den Untergang der Gustloff schreibt oder spät seine Waffen-SS-Vergangenheit bekennt; wenn Enzensberger ein Buch über den abtrünnigen Hitler-General Hammerstein publiziert oder, wie zu Zeiten des ersten Golfkriegs, Saddam Hussein mit Hitler vergleicht; wenn Walser sich in seiner Friedenspreisrede mit dem Verhältnis zur deutschen Schuld auseinandersetzt oder mit Tod eines Kritikers vermeintlich auf den Literaturpapst Reich-Ranicki zielt, gehen lange Debatten durchs deutsche Feuilleton.


Der Mythos des Engagements

Keine andere Schriftatellergeneration besitzt einen vergleichbaren publizistischen Einfluss. Weshalb man die indezente Frage wagen darf, was es für die literarische Öffentlichkeit bedeuten würde, wenn sie einmal abgetreten sein wird. Kann und will jemand in die Fußstapfen der Literaturfürsten treten? Und brauchen wir überhaupt solche literarischen Vaterfiguren?

Alle genannten Autoren standen als Angehörige der "skeptischen Generation" für eine nachholende Modernisierung der deutschen Literatur nach Krieg nnd Nationalsozialismus, für ein dezidiert politisches Engagement nnd für den Mythos von der Rettung der Gesellschaft durch Literatur. Überdies waren sie in der Gruppe 47 medienwirksam organisiert. Bei aller Verschiedenheit der Temperamente und Schreibweisen eint die Platzhirsche eine ganz bestimmte Auffassung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Man könnte es als das kritische Paradigma der Bundesrepublik bezeichnen. Als demokratische Ikonen erfüllten die Walser, Grass, Enzensberger eine gesellschaftliche Funktion als "moralisches Gewissen der Nation" - wie man einmal den heute fast vergessenen Heinrich Böll bezeichnet hat. Der engagierte Intellektuellen-Schriftsteller, dessen Pathos heute unzeitgemäß wirkt, sollte den Herrschenden Paroli bieten, oder, wenn sie sich ihm geneigt zeigten, Rat spenden: Beispielhaft kann dafür das Verhältnis von Günter Grass und Willy Brandt gelten. Ein Anspruch, der bei jüngeren Schriftstellern keine Nachfolge gefunden hat. Wer aus der Generation der "Zaungäste", Popliteraten und Unterhaltungs-Kehlmanns wollte Angela Merkel beraten oder ihrem politischen Wirken Einhalt gebieten? Jüngere Schriftsteller schreiben jenseits der Fronten und ideologischen Schützengräben, und die einst verbittert geführten ästhetischen Debatten finden heute nicht mehr statt.

Von der predigenden Literatur, meint der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer, habe sich die Gunst des heutigen Lesers abgewandt, und für die wachsende Popularität der komischen Dichtung von Ernst Jandl oder Robert Gernhardt sei das Gefühl ausschlaggebend, von der Pflicht zu verantwortungsbewusster Lektüre entlastet zu sein.


Literarische Öffentlichkeit unter Medienbedingungen

Autoren, die am heroischen Anspruch der Literatur festhalten, beklagen daher den Markt als solchen. Peter Handke und Botho Strauß zum Beispiel stilisieren sich in der Rolle des weltflüchtigen und weltverachtenden Priesterpoeten. Anders als für die Gründerväter der Generation Grass gilt für Handke nicht die Einheit von politischem Engagement und literarischem Schreiben. Seine Einlassungen zu Serbien und Milosevic, die vom Konsens der demokratischen Öffentlichkeit wegführten, zeigten, dass er zur moralisch-literarischen Orientierungsfigur nicht taugt. In seiner Dissidenz gegenüber der herrschenden Medienkultur denunziert auch Botho Strauß im Namen einer elitären Kulturkritik die angebliche "Infodemenz" unserer Tage - eine elitäre Herablassung gegenüber der Öffentlichkeit, die von dieser logischerweise nicht goutiert wird. Gefragt ist der reformerische Kritiker, nicht der misanthropische Verächter der Gegenwartskultur.

Die Kultur des Sekundären, die Strauß und Handke herablassend kommentieren, kann man durchaus als Resultat eines Strukturwandels der literarischen Öffentlichkeit unter den Medienbedingungen des 20. Jahrhunderts begrüßen. Vielleicht gebe es den Typus des Großschriftstellers heute schlicht deshalb nicht mehr, meint der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hürisch, weil die Literatur sehr viel stärker in Konkurrenz zu anderen Massenmedien steht. Die Schriftsteller müssen sich damit abfinden, dass sie auf dem Markt nicht allein sind. Weltflüchtige Schmoll-und Grollposen sind lächerlich und entsprechen nicht dem Stand der Dinge in einer offenen Gesellschaft, die gelernt hat, jeden nach seiner Façon selig werden zu lassen. Man muss also gar nicht beklagen, dass die Fußstapfen der Generation Grass von nachrückenden Schriftstellern nicht mehr betreten werden.


Postmoderne Beliebigkeit und Bedürfnis nach Orientierung

Die Übersicht über die komplizierten Weltverhältnisse der Globalisierung traut man dem Schriftsteller nicht mehr zu. Alexander Kluge, der in seiner enzyklopädischen Geschichten-Sammlung an dem Anspruch festhält, ein historisch ausgreifendes Panorama der Weltgesellschaft zu malen, ist eine unzeitgemäße Erscheinung. Aber vielleicht ist es - paradox - eben diese Unzeitgemäßheit und Ungleichzeitigkeit, die dem deutschen Großschriftsteller noch immer seine unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit sichert. Er behält seine Bedeutung, weil es ihn eigentlich nicht mehr geben kann.

In dieser Hinsicht gleicht seine Existenz der des Papstes, der gegen den Relativismus streitet - ein Kampf gegen Windmühlen. Wenn im Zeichen der Postmoderne Vielfalt und Überfluss herrschen, kann die Suche nach der einen Wahrheit nur kompensatorische Funktion haben. Der patriarchale Religionspapst stillt ebenso wie der Literaturpapst das Bedürfnis nach Orientierung und Vereinfachung der Verhältnisse durch eigensinniges Festhalten an verlorenen Positionen. Weshalb sich offenbar niemand an den gelegentlichen Fehlurteilen der Walser, Grass, Enzensberger stürt. Sie irren sich, aber auf orientierungsstiftende Weise. Warnen und Mahnen, Moral und Engagement haben expressiv-theatralische Qualität. Der Großschriftsteller inszeniert sich als Wiedergänger einer vergangenen Epoche, in der das Bußpredigen noch geholfen hat. Ein Schauspiel, aber ach, ein Schauspiel nur! Wir sollten es genießen, solange der Herbst der Patriarchen dauert.


Jochen Rack (*1963) Autor und Kritiker, Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk, lebt in München.
hjrack@aol.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009, S. 84-86
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2009 09