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AKZENTE/082: Wenn sich die Geister "verdichten" (attempto!/Uni Tübingen)


attempto! - Forum der Universität Tübingen - April 2005

Wenn sich die Geister "verdichten"

Der Einfluss des Spiritismus auf die literarische Moderne: Tübinger Germanisten schließen Forschungsprojekt ab


"Abgesehen von dem Reiz des Geheimnisvollen haben die Gebiete des Spiritismus für mich eine bedeutsame Anziehungskraft", schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke 1897 an einen der führenden Theoretiker der Bewegung, Carl du Prel (1839-1899). Damit war er nicht allein, denn die Geisterseherei mit ihren Praktiken war in der Zeit zwischen 1880 und 1930 ein beliebtes Gesellschaftsspiel, das von einigen herausragenden Vertretern, wie zum Beispiel du Prel oder dem Arzt Albert von Schrenck- Notzing (1862-1929), sogar mit wissenschaftlichem Eifer betrieben wurde.

In speziell arrangierten Sitzungen ("Seancen") versuchte man, Kontakt zu Verstorbenen aufzunehmen, die auch regelmäßig aus der Geisterwelt auftauchten: in Form von aus Wänden reichenden Händen, indem sie Tische und Stühle in Bewegung versetzten oder beim "automatischen Schreiben" auf Fragen eines "Mediums" Antwort gaben. Man glaubte, dass sich die Geister von Verstorbenen oder noch nicht geborenen Menschen unter bestimmten Voraussetzungen im Diesseits "verdichten" könnten, und versuchte, dies mit Hilfe von Fotos zu 'beweisen'. "Der Spiritismus befriedigte das Bedürfnis der Menschen nach metaphysischem Trost in einer Zeit, die vom wissenschaftlichen Positivismus geprägt war", erklärt Georg Braungart, Professor für Neuere deutsche Literatur am Deutschen Seminar in Tübingen.

Durch die Beschäftigung mit Rilkes Biographie wurde er vor einigen Jahren auf das Thema aufmerksam. Daraus entstand ein jetzt zu Ende gebrachtes Drittmittelprojekt, das mit 100 000 Euro von der "Fritz Thyssen Stiftung" von 2002 bis 2004 gefördert wurde. Im Laufe des Jahres soll die dazugehörige Dokumentation im Tübinger ATTEMPTO-Verlag erscheinen. Unter dem Titel "Spiritismus und ästhetische Moderne - Berlin und München um 1900" zeige die Arbeit erstmals die "personellen Vernetzungen und motivischen Dimensionen" von literarischer Moderne und Spiritismus, so Braungart.

Das Werkzeug zur Untersuchung der Einflüsse der Geistergläubigkeit auf die zeitgenössische Literatur und Poetik stammt aus der Kulturanalyse und Philologie: Die Tübinger Germanisten recherchierten in Literaturarchiven, werteten Briefe und Zeitungsartikel aus und gewannen dadurch Einblick in Verbindungen der spiritistischen zur literarischen Szene der damaligen Zeit. Dabei stellte sich heraus, dass neben Rilke auch Franz Werfel, Alfred Döblin, Theodor Fontane oder Thomas Mann Anteil an der weitverbreiteten Geisterseherei nahmen. So waren beispielsweise Mann und Rilke bei derselben spiritistischen Sitzung in München bei Schrenck-Notzing anwesend. Die Wirkung dieser Beschäftigung war auf beide allerdings recht unterschiedlich, wie Georg Braungart weiß. Während sich Thomas Mann eine ironische Distanz bewahrte, wurde Rilkes gesamte Poetik spiritistisch geprägt: "Für Rilke ist das Gedicht die Materialisierung des Spirituellen", erklärt der Literatur- Professor mit der selbst bekundeten "Vorliebe für skurrile Themen".

Auf die Recherche folgte schließlich die Textanalyse. Sie machte den philologischen Anteil der Forschungsarbeit aus. Dabei zeigte sich, dass spiritistische Glaubenssätze und Praktiken durchaus Eingang in die Ästhetik repräsentativer literarischer Werke fanden, etwa in Manns "Zauberberg" (1924) oder in Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910). In dem Einakter "Lydia und Mäxchen" (1906) von Alfred Döblin, zum Beispiel, beleben sich Tisch und Schrank. In Thomas Manns Erzählung "Der Kleiderschrank" (1899) führt dessen Tür geradewegs ins Jenseits. Rilkes Nähe zum Spiritismus zeigt sich beispielsweise in "Sonette an Orpheus" (1923), die er quasi als "Medium" und ähnlich wie in der spiritistischen Technik des "automatischen Schreibens" im Februar 1922, innerhalb von wenigen Tagen, zu Papier brachte.

Was ist das Resümee des germanistischen Ausflugs in die Geisterwelt? "Das Bild der literarischen Moderne muss revidiert werden: Was bislang als rein säkulares Phänomen interpretiert wurde, ist ganz stark von der Kultur des Spiritismus durchsetzt", fasst Georg Braungart zusammen.

FÖR


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Quelle:
attempto!, April 2005 , Seite 23
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