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SPRACHE/673: Rätoromanisch - lokal verankerte Sprachidentität (idw)


Schweizerischer Nationalfonds SNF - 24.11.2009

Untersuchung des Rätoromanischen im NFP 56 "Sprachen"

Lokal verankerte Sprachidentität


Rätoromaninnen und Rätoromanen sind ihrem Dialekt tief verbunden, stehen der Einheitsschriftsprache Romantsch Grischun jedoch skeptisch gegenüber. Sie zeichnen sich durch eine überdurchschnittlich hohe Mehrsprachigkeit sowie ihr anpassungsbereites sprachliches Verhalten aus. Zu diesen Schlüssen kommt eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms "Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz" (NFP 56).

Das Rätoromanische ist eine der vier Landessprachen der Schweiz. Es wird noch von 60'600 Personen als Haupt- oder Umgangssprache benutzt, von weniger als einem Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung also. Das Rätoromanische gliedert sich in fünf regionale Sprachvarietäten oder Idiome mit je eigener Schrifttradition. 1982 hat die romanische Dachorganisation Lia Rumantscha die neue Einheitsschriftsprache Romantsch Grischun eingeführt.

Wie erleben Angehörige der romanischen Basis diese spezielle sprachpolitische Situation? Erstmals dieser Frage nachgegangen ist die Sprachsoziologin Renata Coray. Sie hat im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms "Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz" (NFP 56) zusammen mit Barbara Strebel die Sprachbiographien von insgesamt 31 Rätoromaninnen und Rätoromanen aus den beiden grossen romanischen Sprachregionen Surselva und Unterengadin untersucht.

Unbeliebtes Romantsch Grischun

Die Befragten verbinden ihre rätoromanische Erstsprache mit einem hohen emotionalen Wert: Sie bezeichnen Rätoromanisch als wichtigste Sprache der alltäglichen mündlichen Kommunikation und räumen ihm in der Familien- und Dorfgemeinschaft einen grossen Stellenwert ein. Förderlich für die Identifikation erweisen sich auch die häufig erlebten Sympathiebekundungen von Unbekannten im Unterland oder Ausland.

Auffallend ist die Ablehnung des Romantsch Grischun (RG) durch die Mehrheit der Befragten. Da sie nur sehr selten Romanisch schreiben und lesen, sehen viele keinen Vorteil in dieser neuen Schriftsprache. Ein überregionales romanisches Wir-Bewusstsein ist entsprechend schwach entwickelt, erstaunlicherweise auch bei Vertretern der jungen Generation. Die Befragten identifizieren sich in erster Linie mit dem eigenen Dorf oder Tal, weniger mit einer gesamtromanischen Sprachgruppe. Direkte Kontakte über das eigene Idiom hinaus kommen selten vor. Die kulturellen Anlässe von romanischen Organisationen, welche die gesamtromanische Identität fördern sollen, stossen auf wenig Interesse. Auch am romanischen Radio und Fernsehen ziehen die Befragten die Verwendung der Idiome derjenigen von RG vor. Die geplante Ablösung der romanischen Regionalschriftsprachen durch RG in der Schule wird von vielen abgelehnt. Auch andere sprachpflegerische Massnahmen wie z.B. romanische Beschriftungen stossen auf wenig Echo. Das verweist auf Divergenzen zwischen den Bedürfnissen der Bevölkerung und den Zielen der Spracherhaltungsorganisationen.

Schwieriger Erwerb des Deutschen

Im Vergleich zur gesamtschweizerischen Bevölkerung weisen die Befragten eine überdurchschnittlich hohe Mehrsprachigkeit aus. Darob geht gerne vergessen, dass Deutsch als erste Fremdsprache von den Befragten mühsam erlernt werden musste und zwar sowohl die deutsche Schriftsprache als auch die Mundart. Die meisten Befragten haben negative Erinnerungen an den Deutscherwerb. Insbesondere die nur deutschsprachigen Berufsschulen stellen für viele eine hohe Hürde dar. Teilweise werden Romanischsprachige mit fehlenden deutschen Mundartkenntnissen oder starkem Akzent immer noch stigmatisiert.

Dies kontrastiert mit dem anpassungsbereiten sprachlichen Verhalten der Befragten. Niemand beharrt auf rätoromanischer Kommunikation mit deutschsprachigen Zuzügern. Im konkreten Fall ziehen sie mündlich wie schriftlich eine effiziente Verständigung in Deutsch vor. Sie lehnen einen als allzu übertrieben empfundenen romanischen Purismus ab, und verwenden lieber weiterhin deutsche Lehnwörter als unverständliche romanische Neologismen.


Der Schlussbericht "Rätoromanische Sprachbiographien. Sprache, Identität und Ideologie in Romanischbünden" kann heruntergeladen werden unter:
www.snf.ch > Medien > Medienmitteilungen.

Nationales Forschungsprogramm "Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz" (NFP 56)
Die traditionelle Viersprachigkeit der Schweiz ist längst zur Vielsprachigkeit geworden. Dies wirft für Schule und Gesellschaft Probleme auf. Andererseits aber eröffnet das sprachliche Kapital der Schweiz grosse Chancen, da die internationalen Verflechtungen Sprachenkenntnisse nötiger denn je machen. Die Vielfalt der Sprachen stellt heute neue Fragen an Schule, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und auch an jedes einzelne Individuum. Das vom Bundesrat in Auftrag gegebene NFP 56 erforscht und entwickelt seit 2006 die Grundlagen zur Erhaltung, Förderung und Nutzung der Sprachenvielfalt in der Schweiz.
www.nfp56.ch

Weitere Informationen unter:
http://www.snf.ch

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution1165


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Schweizerischer Nationalfonds SNF, Presse- und Informationsdienst,
24.11.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2009