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STANDPUNKT/005: Die Popkultur ist friedlich entschlafen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010

Die Popkultur ist friedlich entschlafen

Von Jan Turowski


Die sogenannte Popkultur konnte sich über lange Zeit immer neu erfinden, überraschte mit einer naiven Frische und Unbedarftheit, galt als Inkarnation einer "sozialen Revolution" und trat kleinbürgerlichen Vorstellungen entgegen. Inzwischen aber wirkt das kulturelle "Subsystem Pop" seltsam kraftlos. Hat es sich zu Tode gesiegt? Und kann eine Wiederbelebung gelingen?


So viel Pop war selten. Deutschland sucht unentwegt einen "Superstar", Lena gewinnt in Oslo und das Feuilleton feiert sogleich das "Kulturphänomen" einer neuen unbedarften Pop-Bürgerlichkeit, das Radio spielt ununterbrochen die größten Pop-Hits aller Zeiten und das Fernsehen inszeniert mit so genannten Chart-Shows die Pop-Nostalgie, die britische Labour Party feiert sich 1997 als Inbegriff des Lebensgefühls eines "Cool Britannia", die CDU bespielt 2005 die Wahlkampfauftritte von Angela Merkel mit dem Rolling Stones Klassiker "Angie" und ein wahlkämpfender aristokratischer Wirtschaftsminister tritt vier Jahre später sogar als Discjockey auf.

Zugleich aber scheinen viele Ideen und Bedeutungen, die in den letzten 60 Jahren unter dem schillernden Oberbegriff "Pop" firmierten und im allgemeinen Sprachgebrauch sogar mit gesellschaftlichen Hoffnungen und kulturellen Umwertungen verbunden waren, aus dem öffentlichen Bewusstsein und Diskurs verschwunden zu sein. Das kulturelle Subsystem "Pop" hat sich so stark ausdifferenziert und sich so weit in alle gesellschaftlichen Systeme ausgedehnt, dass es sich vor dem gesamtkulturellen Hintergrund nicht mehr sichtbar absetzen kann. Alles ist Pop und Pop ist alles. Auf dem langen Weg in die Mitte der individualisierten Erlebnisgesellschaft haben sich zentrale Sinnstrukturen der Popkultur als hedonistische Form der Gegenkultur und als identitäre und subversive Abgrenzung aufgelöst. Popkultur hat sich förmlich tot gesiegt.


Die Entstehung des Pop

Was genau im letzten Jahrzehnt zu Ende gegangen ist, macht der Blick auf die Entstehungs - und Verlaufsgeschichte der Konzeption "Pop" deutlich.

Mitte der 50er Jahre prägte die britische Independent Group, ein Zusammenschluss aus Künstlern, Architekten und Kunstkritikern, den Begriff "Pop Art". Knapp zehn Jahre vor der amerikanischen Ausprägung der Pop Art, wie sie durch Künstler wie Warhol, Lichtenstein oder Rosenquist berühmt gemacht wurde, war das Wort "Pop" in der Welt und stellte zugleich eine wichtige Zäsur in der Debatte um die Erzeugnisse zeitgenössischer Medien- und Konsumwelten dar. Die Produkte der Massenkultur - vor allem ihre Modernität, Schnelligkeit und Intensität - hatte die Kunst schon vorher fasziniert, doch meist als eine Art ästhetischer Steinbruch für die eigenen Avantgarde-Produktionen. Mit dem eigenwilligen Kürzel "Pop Art" findet eine doppelte Abgrenzung statt: Im Gegensatz zu popular culture, die bis dahin traditionelle Volks- und Alltagskultur bezeichnete, und mass culture, die eine entindividualisierte und manipulierte Vermassung äußerst negativ beschrieb, steht die einprägsame und effektvolle Begriffsverwendung "Pop" nun für eine positive Beschreibung und Aufwertung der technologisch neuen Artefakte (den Autos, den Reklametafeln, den Magazinen, dem Fernsehen, den Farbfilmen). Die Bezeichnung "Art" verdeutlicht zudem, dass nicht nur einzigartige Kunstwerke, sondern auch massenhaft verbreitete Produkte zur Kultur zählen.

Während sich diese intellektuelle Aufwertung der Konsumkultur durch die Independent Group von oben nach unten vollzieht, betritt zeitgleich ein neuer Träger des zeitgenössischen Geschmacks die Bühne der Geschichte, der die Popkultur nunmehr von unten nach oben bestimmt: der Teenager. Als eigenständige soziale Gruppe wird der teenage-consumer zuerst von der Werbeindustrie identifiziert, der die gestiegene Kaufkraft der Jugendlichen in der beginnenden Wohlstandsgesellschaft ab Mitte der 50er nicht entgangen ist. Kulturgeschichtlich wäre diese Tatsache allerdings nur eine Randnotiz wert, wenn sich nicht gleichzeitig eine eigenständige und abgeschlossene Jugendkultur - eine Subkultur, die sich von der Kultur der Mehrheit absetzt oder ihr feindlich gegenüber steht - mit einer Vorliebe für Rock'n'Roll (ab 1955 mit dem enormen Erfolg Elvis Presleys), auffälligen Kleidungsstilen und dissidenten Verhaltensweisen ausprägt. In dieser neuen Jugendkultur, die sich in ihren Randbereichen vielfach mit künstlerischen Bohème-Kulturen überschneidet - den Beatniks in den USA, den Existenzialisten in Europa -, findet zudem ein eigenwilliger Gebrauch und eine Aneignung der Pop-Kulturgüter statt, welche sich häufig gegen deren kulturindustriell intendierte Ideologie wendet. Die freie, lustvolle und höchst aktive Rezeption der Produkte der Popkultur kann auf diese Weise manchmal ein widerspenstiges Gegengewicht zur hegemonialen Ordnung darstellen, neue Diskursstrukturen entwickeln und Themen besetzen. Das geschieht umso mehr, da die neuen Jugendkulturen in besonderer Weise immer wieder eine spezifische Artikulationsplattform für marginalisierte Gruppen darstellen. Der antidisziplinarische working class hero ist ebenso wenig aus dem Popsystem wegzudenken wie afroamerikanische oder homosexuelle Einflüsse.

Auch wenn im historischen Rückblick die rebellischen Elemente der Jugendkultur gerne überhöht und teilweise verklärt werden, die kulturelle Umwandlung der Konsumgesellschaft in den späten 50er Jahren in den USA und in den frühen 60er Jahren in Westeuropa umfasst alle Schichten und Altersgruppen. Als Inspiratoren und Stichwortgeber, als treibende Kraft der Popkultur allerdings bleiben Jugendliche vorerst bedeutsam. Aus eben diesem Grund konnte sich Pop lange Zeit in einer Weise kontinuierlich neu erfinden, die oft selbst seine kapitalistischen Verwerter überforderte.

Die Etablierung der Popkultur

Mitte der 60er Jahre hat sich "Pop" als kulturelles System weitgehend etabliert. Es ist ein gänzlich neues Kultursystem, das seine Außengrenzen in dreifacher Hinsicht markiert: Es ist nicht die traditionelle folkloristische Kultur, es ist nicht einfach eine kulturindustriell gesteuerte, vereinheitlichende und dumpfe Massenkultur und es ist nicht Hochkultur (wobei auffallend viele seiner Protagonisten, vor allem Musiker ehemalige Kunsthochschulstudenten sind).

Pop ist die zwangsläufige kulturelle Entsprechung einer nivellierten Wohlstandsgesellschaft. Tom Wolfe hat Pop als soziale Revolution beschrieben, als die Preisgabe des Geschmacksdiktats der Oberschichten und deren Ausrichtung an den Vorlieben der Bohème und jugendlichen Subkulturen.

In den journalistischen und intellektuellen Kommentaren jener Jahre nehmen dann auch die positiven Einschätzungen der Popkultur zu, die nunmehr ihre demokratischen und klassenlosen Implikationen betonen und die fehlende Tiefendimension eher als Ausdruck überwundener Zwänge interpretieren. Pop wird what's happening.

Pop steht ferner für die Überwindung alter kleinbürgerlicher Pflichtvorstellungen durch ein neues Erlebnis- und Konsumverständnis einer jüngeren Mittelschichtgeneration. Die Abneigung gegen die traditionellen Werte des Kleinbürgertums ist nicht länger der Bohème oder der urbanen Oberschicht vorbehalten, sondern hat die Mittelschicht selbstdurchdrungen. In der Popkultur findet sich quasi die Gebrauchsanweisung für den Konsumkapitalismus. Die von Max Weber identifizierten "Tugenden", die die Durchsetzung des Kapitalismus beflügelten, werden von gegenteiligen Werten und Rechtfertigungen abgelöst: statt Sparsamkeit Geldausgeben, statt Genügsamkeit Hedonismus, statt Dauerhaftigkeit Wegwerfprodukte, statt ständigem Aufschub von Bedürfnissen schnelle Befriedigung.

Pop bezeichnet nicht einfach in abgekürzter Form alles, was populär ist. In der Popkultur geht es immer um Distanzierung und Distinktion. Objekte, Stile und Gemeinschaften entstehen in teils aggressiver, teils plakativer oder ironischer Abgrenzung zu anderen Gruppen.

Trotz all dieser stilistischen und politischen Binnendifferenzierungen fungiert Pop vor allem auch als gesamtgesellschaftliches Integrationssystem, das soziale und kulturelle Spannungen dadurch entschärft, dass es einen nach unten hin offenen Raum bereitstellt, in dem sich minderheitliche und sozialrebellische Positionen artikulieren und austoben können, ohne die bestehenden Herrschaftsverhältnisse tatsächlich in Frage zu stellen. Vor allem auf diese Einbindungsmechanismen verweist Theodor W. Adorno, als er mit Blick auf die Protestkultur der späten 60er Jahre betont, dass Rockmusik so sehr mit dem Warencharakter und letztlich dem Amüsement verzahnt sei, dass sie als Träger politischen Protests scheitern müsse.


Die Auflösung des Popsystems

In den 80er Jahren stößt ein eigenständiges Popsystem zunehmend an seine funktionalen Grenzen. Das Ende der Popkultur ist das Resultat dreier veränderter politischer und sozioökonomischer Rahmenbedingungen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Auflösungsprozesse des Popsystems mit der kulturellen Hegemonie des Neoliberalismus zeitlich zusammenfallen.

Erstens: Die Popkultur stand lange sowohl als politisches wie auch als Konsumversprechen in einem fundamentalen Widerspruch zu den Bedingungen der Produktions- bzw. Arbeitswelt. Popkultur war wesentlich Freizeitkultur und Ausbruch aus der fabrikartig organisierten Welt, in der man ununterbrochen kontrolliert und ständig diszipliniert wurde. Popkulturelle Bewegungen aller Art protestierten gegen autoritäre Einschließungen und forderten Freiheit, Selbstverwirklichung und Spaß - hier und jetzt. In der postindustriellen Arbeitswelt, in der Stempeluhr und Fließbandmonotonie durch "flache" Hierarchien und Eigenverantwortung abgelöst werden, sind Selbstverwirklichung und Kreativität keine popkulturellen Versprechungen mehr, sondern Anforderungen der Unternehmen an ihre Mitarbeiter. Die Werte von Arbeits- und Freizeitsphäre vermischten sich.

Zweitens: Bereits in den 60er Jahren setzt sich die Erkenntnis durch, dass Pop- und Hochkultur keine reinen Gegensätze darstellen. Doch auch wenn die Grenze zwischen beiden Kulturen weniger ein glasklarer Bruch, sondern vielmehr ein fließender Übergang war, ließen sich Pop- und Hochkultur noch in ihren unterschiedlichen Funktionsweisen identifizieren. Pop- und Hochkultur standen in einem produktiven Spannungsverhältnis, das notwendige Existenzbedingung beider Kulturen war. Auf der einen Seite die Hochkultur - weitgehend frei von den kommerziellen Imperativen des Marktes -, die den privilegierten und gebildeten Eliten vorbehalten war. Auf der anderen Seite die kommerzielle Popkultur, die sich oft durch eine naive Frische und Unbedarftheit auszeichnete und die spontanen Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen einer großen Masse von Menschen anzapfte.

Diese Grenze zwischen Pop- und Hochkultur ist weitgehend verschwunden. Was wir heute vorfinden, ist eine Vermischung beider Kulturen. Die Hochkultur ist massiv in den Marktkreislauf hineingezogen worden, sodass sich ihre Verwertung kaum noch von den Mechanismen der Popkultur unterscheidet. Im bürgerlichen Bildungskanon gibt es längst keinen Unterschied mehr zwischen der Gründung einer Rockband und der klassischen Klavierstunde.

Da zudem eine authentische folkloristische Kultur in der postmodernen Erlebnisgesellschaft fast vollständig verschwunden und von bestimmten Produkten (sogenannte volkstümliche Musik) der Popkultur ersetzt wurde, kann das Popsystem seine Außengrenzen nicht mehr sinnvoll ziehen.

Drittens: Stile und Objekte der Popkultur haben sich so weit ausdifferenziert, dass sie gezielt unterschiedliche Schichten ansprechen (spielerisch dekadente Popkonsumverfeinerung einerseits, Idiotenfernsehen anderseits). Kennzeichnete sich die Popkultur in ihren besten Momenten dadurch, dass sie den gesellschaftlichen Rand ins kulturelle Zentrum rückte, stellt unterschiedlicher Popkonsum als neuartiges kulturelles Kapital heute längst überwunden geglaubte sozioökonomische Ausschlussmechanismen wieder her.


Neustart kultureller Systeme

Das Ende der Popkultur bedeutet natürlich nicht, dass man in Zukunft keine guten Pop-Songs mehr hören wird. Ebenso werden sich in Zukunft immer wieder Bands gründen, es werden neue Moden, Szenen und Stile entstehen und politischer Protest wird kulturelle Ausdruckformen finden. Auch wenn sich ein emphatisch formulierter Popbegriff aufgelöst hat, so sind doch ästhetische und normative Spurenelemente der Popkultur überall zu finden und werden auch noch lange Zeit die Kultur beeinflussen.

Für die Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist allerdings die Frage spannend, wo und wie sich politische und neuideologische Fragen kulturell und lebensweltlich verdichten und artikulieren können. Das Pop-System als eigenes, abgeschlossenes System steht für die Verhandlung dieser Fragen nicht mehr zur Verfügung. Vermutlich werden sich in den nächsten Jahren neue Kultursysteme (teils aus dem, was ehemals als Hochkultur, teils aus dem, was als Popkultur bezeichnet wurde) ausprägen, die diese Fragen neu verhandeln und den Ansprüchen einer heterogenen und individualisierten Gesellschaft und einer globalisierten Dienstleistungsökonomie eher entsprechen.

Die Popkultur ist friedlich entschlafen und ihr Tod ist der Beginn von etwas Neuem. Die Zukunft wird spannend.

Jan Turowski (* 1969) ist Politikwissenschaftler und Kulturtheoretiker in Berlin.
jan.turowski@snafu.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010, S. 64-67
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2010