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MEDIEN/173: Computerspielwissenschaften (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 2/2015 - Universität Bayreuth

Computerspielwissenschaften

Mediale, kulturelle und technische Aspekte

von Jochen Koubek


An der Universität Bayreuth beginnt im Wintersemester 2015/16 der Masterstudiengang "Computerspielwissenschaften (M.A./M.Sc.)". Die Computerspielwissenschaften sehen sich in der Tradition der Literatur-, Musik-, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, die sich zu verschiedenen Zeiten als wissenschaftliche Beschäftigung mit einem speziellen Medium etabliert haben. Und weil Medien in ästhetische, historische, mediale, ökonomische, psychologische, rechtliche, soziale und technische Kontexte eingebettet sind, um nur einige zu nennen, muss ihre wissenschaftliche Begleitung als Kooperation verschiedener Disziplinen angelegt sein, die sich mit verschiedenen Aspekten befassen. Daher der Plural "Computerspielwissenschaften."

An der Universität Bayreuth gründen die Computerspielwissenschaften auf einer Zusammenarbeit der Fächer Medienwissenschaft und Informatik. Die Themen und Fragestellungen, die hier in Forschung und Lehre auf der Agenda stehen, betreffen vor allem die medialen Besonderheiten von Computerspielen, ihren Status als Kulturgut, ihre globale Verbreitung und unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen, die unter dem Begriff der "Gaming Literacy" zusammengefassten Kompetenzen sowie zahlreiche anspruchsvolle Aufgaben auf dem Gebiet der Programmierung.


Computerspiele als Medium

Dass Computerspiele mediale Funktionen haben, ist unbestreitbar. Aber worin liegt ihre spezifische Medialität? Bereits beim Erzählen einer Geschichte gehen sie anders vor als der Spielfilm. Filmgeschichten laufen immer in der gleichen festgelegten Reihenfolge von Szenen ab. Computerspielgeschichten werden hingegen erst durch den Akt des Spielens hervorgebracht und gestalten sich bei jedem Durchlauf anders. Zwar gibt es in vielen Spielen vorbereitete Handlungssequenzen, die an bestimmten Punkten präsentiert werden. Doch auf die Reihenfolge dieser Abschnitte haben die Spieler teilweise einen erheblichen Einfluss. Wie aber kann eine Geschichte erzählt werden, wenn nicht vorhersehbar ist, über welche Informationen die Rezipienten zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügen? Wie wirkt sich diese Ungewissheit auf die Erzählung aus? Und wie verhält es sich mit Spielen, in denen die Narration - ohne Kontrolle durch den Urheber des Spiels - allein durch den oder die Spieler erzeugt wird?

Computerspiele sind aber nicht nur performativ hervorgebrachte Erzählungen, sondern zunächst einmal computergesteuerte Regelsysteme. Wenn beispielsweise in The Sims (EA, 2000), einem der meistverkauften PC-Spiele der Welt, die Zufriedenheit der Spielfigur im Wesentlichen mit ihrem materiellen Wohlstand steigt, dann ahnt man, dass diese Systeme keineswegs nur harmlose Spielregeln sind, sondern in ihrem kulturellen Kontext eine ganz eigene mediale Kraft entfalten können.


Computerspiele als Kulturgut

Nicht zuletzt ihr ökonomischer Erfolg hat in den letzten zehn Jahren dazu geführt, dass Computerspiele auch in Deutschland als Kulturgut zur Kenntnis genommen werden. Der Deutsche Computerspielpreis, die Aufnahme von Spielentwicklungen in die Kulturförderung oder kuratierte Ausstellungen in Museen sorgen für eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung. Zusammen mit diesen institutionalisierten Anerkennungen stellt sich die Frage, wie digitale Spiele historisierend bewahrt und zugänglich gemacht werden können. Denn nicht nur die technischen Plattformen, auf denen die Spiele ausgeführt werden, verschwinden vom Markt oder fallen durch Defekte aus. Auch die Datenträger, auf denen sie gespeichert sind, unterliegen Alterungsprozessen. Selbst ein gut erhaltenes Speichermedium garantiert nicht, dass die darauf enthaltenen Datenformate noch interpretiert werden können. Und falls es gelingt, ein altes Spiel zum Laufen zu bringen, muss auch jemand wissen, wie es zu bedienen ist. Viele Spiele sind nicht selbsterklärend und benötigen Übung und Erfahrung für ihre Rezeption.

Wollen die Computerspielwissenschaften auch in Zukunft auf ihre historischen Bestände zugreifen, ist die Frage der Bewahrung digitaler Spiele - ihre Annotierung, Archivierung und Zugänglichmachung - eine zentrale Herausforderung.


Kulturelle Eigenheiten eines weltweit verbreiteten Mediums

Computerspiele sind ein globales Medium. Inwiefern können sie nationale und lokale Eigenheiten aufweisen? Diese Frage wird in der Forschung mit zunehmender Intensität diskutiert. Analysen von nationalen Computerindustrien, die sich mit Produzenten und Rezipienten befassen, können durchaus interessante Ergebnisse zutage fördern. So gibt es beispielsweise in Kanada 329 Spielfirmen mit mehr als 16.500 Mitarbeitern, die jährlich rund 2,3 Mrd. Dollar zum Bruttoinlandsprodukt beitragen. Das kürzlich erschienene Buch von Mark. P. Wolf Video games Around the World [1] enthält Informationen und Geschichten zur Spieleindustrie aus 39 Ländern, diskutiert die Bedeutung zentraler Entwickler und Publisher und bietet erstmals einen Überblick über die internationale Spieleindustrie.

Doch die Ausgangsfrage wird so noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Denn es kommen bei solchen Analysen keine Kategorien zur Anwendung, die geeignet wären, Medieninhalte zu beschreiben und Beziehungen zu den kulturellen Kontexten von Computerspielen herzustellen. An diesem Punkt führen die Begriffe "Narration", "Ludition" und "Audiovision" weiter - wobei hier der Einfachheit halber kulturelle Eigenarten innerhalb von Landesgrenzen betrachtet werden:

Nationale Narrative sind Erzählungen, die für die Kultur eines Landes eine besondere Bedeutung haben - wie beispielsweise Rekonstruktionen historischer Ereignisse. So sind wichtige Stationen der Geschichte der USA im Computerspiel außerordentlich präsent - sei es die Unabhängigkeitserklärung, der Bürgerkrieg, die Besiedlung des Westens oder der Zweite Weltkrieg.

Nationale Luditive umfassen Spiele, die innerhalb eines Landes als nationale Aktivität aufgefasst werden. Solche Spiele spiegeln in ihren Regeln, Handlungsmöglichkeiten, Spielabläufen und Siegbedingungen gemeinschaftliche Werte und Emotionen in besonderer Weise wider. 'Typisch französische' Spiele sind z.B. Pétanque. Le jeu provencal (Micro Application 2008) oder Paris-Dakar-Rally (Acclaim 2001). Südkorea ist bisher das einzige Land, in dem sich ein Computerspiel - nämlich Starcraft (Blizzard 1998) - als inoffizieller Nationalsport etabliert hat.

Nationale Bilder haben für eine Kulturgemeinschaft identitätsstiftende Funktionen, sei es aufgrund von Inhalten oder formalästhetischen Merkmalen. Weltweit versuchen Computerspiele diese Kraft der Bilder zu nutzen. Diesbezügliche Analysen führen aber rasch zu Fragen nach Stereotypen und Klischees und deren Funktionen.

In vielen digitalen Spielen sind die audiovisuelle und die prozedurale Ebene nur lose aufeinander bezogen. Dies führt nicht selten dazu, dass dieselben Spielmechaniken auf sehr unterschiedliche Inhalte - und damit auch auf verschiedene nationale und kulturelle Kontexte - bezogen werden. Ein signifikantes Beispiel ist die Reihe Strike franchise. Das erste Spiel - Desert Strike (Electonic Arts, 1992) - hatte direkte Bezüge zum zweiten Irakkrieg. Die folgenden Spiele übertrugen dieselben Mechaniken dann auf andere Szenarien: auf Militäroperationen gegen südamerikanische Drogenkartelle, terroristische Angriffe gegen die USA oder postsowjetische osteuropäische Truppenaufgebote.

Alle diese Beobachtungen zeigen, dass die öffentliche Wahrnehmung von Computerspielen bis heute sehr eingeschränkt ist. Sie konzentriert sich allzu sehr auf wenige, durchaus kritisch zu diskutierende Beispiele, ohne das Medium in seiner Breite in den Blick zu bekommen. Zu dieser Breite gehören die Vielfalt kultur- und landesspezifischer Eigenheiten, die sich in Computerspielen abbilden, aber auch neue hybride Ästhetiken, die aus verschiedenen kulturellen Einflüssen hervorgehen. Im neuen Bayreuther Masterstudiengang haben die Studierenden die Möglichkeit, auch diesen spannenden Themen nachzuspüren.

Was für Schriftmedien gilt, kann auf den verständigen und konstruktiven Umgang mit anderen Medien übertragen werden. Bilder, Bewegtbilder, Töne oder interaktive Medien schaffen kulturelle Sinnangebote; wer daran teilhaben will, muss die jeweils erforderlichen Schreib-/Lesekompetenzen mitbringen. "Gaming Literacy" bedeutet in diesem Zusammenhang die Fähigkeiten, die in Spielen enthaltenen Sinnangebote zu entziffern, sie verstehend zu erschließen und damit zugleich die Fähigkeit, selber Spiele zu erzeugen. Und weil Computerspiele immer auch Softwaresysteme sind, werden spätestens an dieser Stelle informatische Kompetenzen unabdingbar.


Technische Aspekte

Die Informatik in den Computerspielwissenschaften beschäftigt sich mit der technischen Gemachtheit digitaler Spiele. Dabei geht es um hochkomplexe Programme, welche die Nutzereingaben erfassen, sie zusammen mit physikalischen Berechnungen in eine sich selbstständig verändernde Spielwelt einarbeiten und diese in Echtzeit in Bild und Ton darstellen. Jedes der Module, die an diesen technischen Funktionen beteiligt sind, befindet sich in permanenter Entwicklung. Am sichtbarsten wird dies in der Computergrafik, die immer komplexere und detailliertere Spielwelten hervorbringt. Aber auch in allen anderen Bereichen lösen neue Algorithmen alte Probleme, ermöglichen größere Rechenleistungen verbesserte Abläufe und werfen technische Fortschritte ganz eigene Fragen auf. Die Herausforderung, alte Spiele über einen längeren Zeitraum verfügbar zu halten als es ihr normaler Produktlebenszyklus vorsieht, erweist sich somit auch als informatorisches Problem.

Computerspiele sind im wahrsten Sinne des Wortes eine Kultur-Technik, deren Beobachtung und Beschreibung sowohl die sinnerschließenden Methoden einer Medienkulturwissenschaft als auch die technikwissenschaftlichen Zugänge der Informatik benötigt. Die an der Universität Bayreuth neu etablierten Computerspielwissenschaften bilden diese medialen, kulturellen und technischen Aspekte ab - sowohl in einem bundesweit einzigartigen Masterstudiengang und einem darauf aufbauenden Promotionsprogramm als auch in begleitenden Forschungsprojekten. Sie betreiben somit Wissenschaft im Humboldtschen Sinne als Einheit von Forschung und Lehre. Dies ist das Privileg von neuen Fächern: Studierende und Promovierende erhalten Einblick in neueste Forschungsergebnisse und sind dabei eingeladen, an der Erforschung der daraus resultierenden Fragen selbst mitzuwirken.


Prof. Dr. Jochen Koubek ist Professor für Digitale Medien an der Universität Bayreuth und Moderator des neuen Masterstudiengangs "Computerspielwissenschaften".


Gaming Literacy

Der aus dem Bereich der Schriftmedien abgeleitete Begriff der Literacy bezeichnet die Fähigkeit eines Individuums, an gesellschaftlichen Ausdrucksformen, Symbolsystemen und Praktiken teilzunehmen - und zwar sowohl verstehend als auch erschaffend. Lesen und Schreiben sind Basiskompetenzen; es sind Schlüsselqualifikationen, die sich gegenseitig bedingen. Der Bamberger Deutschdidaktiker Ulf Abraham drückt es so aus: Wir "lesen, um besser zu schreiben und umgekehrt." [2]


Anmerkungen

[1] Mark P. Wolf: Video Games Around The World. Cambridge MA: MIT University Press (2015).

[2] Ulf Abraham: Lesen zum Schreiben, Schreiben zum Lesen. Integrative Konzepte zur Schriftlichkeitsförderung in den Sekundarstufen und an der Hochschule. In: Bernhard Hoffmann und Renate Valtin (Hg.), Checkpoint Literacy. Tagungsband 2 zum 15. Europäischen Lesekongress 2007 in Berlin. Frankfurt am Main 2008. S. 154-164, hier: S. 157.

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 2 - November 2015, Seite 66-69
Universität Bayreuth
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Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2016

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