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MEDIEN/159: Kirche und Religion haben auf der Leinwand Konjunktur (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 05/2010

Wunderliches Kino
Kirche und Religion haben auf der Leinwand Konjunktur

Von Peter Hasenberg


Im Kino gibt es das viel beschworene Comeback des Religiösen - auch jenseits nur zitathafter Anspielungen auf Motive und Symbole des Christentums. Die interessantesten Ansätze zur Behandlung der Themen Kirche und Religion findet man bis ins aktuelle Programm überraschenderweise in deutschsprachigen Filmen.


Lange Zeit schien es so, als seien explizit religiöse Filme wie Bibel- und Heiligenfilme, Filme, in denen die Institution Kirche und deren Repräsentanten im Mittelpunkt stehen, im Kino Vergangenheit. Religiöses fand man eher in zitathafter Anspielung auf Motive und Symbole des Christentums, oft synkretistisch vermischt in Filmen wie "Matrix" (USA 1999). Spätestens seit dem Erfolg von Mel Gibsons "Passion Christi" (USA 2004) tauchen Filme, die explizit Fragen von Kirche und Religion aufgreifen, häufiger im Kino auf.

Mit dem kommerziellen Erfolg von Mel Gibsons "Passion Christi" hatte niemand gerechnet (vgl. HK, April 2004, 172ff.). Bibelfilme waren aus dem Kino lange verschwunden und allenfalls im Fernsehen präsent, beispielsweise durch die von dem Medienmogul Leo Kirch produzierte Reihe von Bibelverfilmungen in den neunziger Jahren. Mel Gibson hat den Markt für religiöse Filme wieder interessant gemacht. Allerdings erwuchs daraus nicht wie in den fünfziger und sechziger Jahren eine neue Hochphase der Bibelepen.

Als kinotaugliche Bibelverfilmung war nach Gibson zum Weihnachtsfest 2006 der Film "Es begab sich aber zu der Zeit ..." (USA 2006) von Catherine Hardwicke zu sehen. Der Film erzählt die Geschichte von Maria und Josef bis zur Geburt Jesu beziehungsweise der Flucht nach Ägypten als eine Art frommes Krippenspiel, bemüht um eine familientaugliche und katechismuskonforme Umsetzung in dezenten Beige- und Grautönen. Einerseits wird die Unterdrückung durch die Besatzer dem Zuschauer realistisch vermittelt, andererseits endet der Film im Kitsch: die Krippenszene als eine lebende Weihnachtspostkarte, untermalt von "Silent Night".

Die Versuche, die Zuschauerschichten, die durch Mel Gibsons Passionsfilm erreicht worden waren, durch andere religiöse Filme anzusprechen, sollte in Hollywood und andernorts durch Verfilmungen von Klassikern katholischer Autoren umgesetzt werden. Die Walt Disney Company brachte so die erste Verfilmung von C. S. Lewis' Narnia Büchern, "Der König von Narnia" (USA 2005), mit dem Werbespruch "'The Passion' for Kids" auf den Markt (vgl. HK, Februar 2006, 93ff.). Während der erste Teil mit dem Opfertod und der Auferstehung des als Christusfigur gekennzeichneten Löwen Aslan noch als eine christliche Botschaft deutlich ist, bleibt der zweite Film "Prinz Kaspian von Narnia" (USA 2008) ganz auf der Ebene eines Ritterspektakels mit Fantasy-Elementen, dessen christliche Bezüge kaum zu erahnen sind.


Wenn nicht die Bibel die Vorlage lieferte, so garantierten spektakuläre Bestseller-Verfilmungen Kassenerfolge: "The Da Vinci Code - Sakrileg" (USA 2006; vgl. HK Spezial, Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?, 2006, 46) und "Illuminati" (USA 2009; vgl. HK, Juni 2009, 281ff.) nach den Romanen von Dan Brown oder "Die Päpstin" (Deutschland u. a. 2009) nach Donna Cross verbinden Action und Abenteuer mit einer Auseinandersetzung um Religion und Kirche. "Sakrileg" wie "Die Päpstin" operieren im Bereich des Spekulativen, die zweifelhafte Hypothese über eine Ehe zwischen Jesus und Maria Magdalena entwickelt Dan Brown, während Donna Cross in "Die Päpstin" eine von ernsthaften Historikern in den Bereich der Legende verwiesene Geschichte über eine Frau auf dem Papstthron zur Wahrheit aufwärmt.

Der Roman wie der Film behaupten, dass es im 9. Jahrhundert eine Päpstin gegeben habe. Anders als bei Dan Browns "Sakrileg", der zumindest noch Diskussionen auslöste, blieb es um die "Päpstin" ruhig. Es gab im Vorfeld weniger Diskussionen um den Inhalt als um die Tatsache, dass der renommierte Regisseur Volker Schlöndorff wegen seiner Kritik an den Produktionsbedingungen entlassen wurde und an seiner Stelle Sönke Wortmann die Regie übernahm. Als Historienfilm, der eine Emanzipationsgeschichte im mittelalterlichen Kolorit auferstehen lässt, zeigt der Film solide Qualitäten im Hinblick auf die Schauwerte und hat mit Johanna Wokalek eine eindrucksvolle Hauptdarstellerin. In gewisser Hinsicht zehrt die "Päpstin" vom gleichen Impuls, der auch Dan Browns "Sakrileg" steuert: der Mangel an Frauen in der Kirchengeschichte wird kompensiert, indem man die Vergangenheit mit fiktiven Gestalten ausstaffiert.


Die Biographien von Persönlichkeiten des Glaubens werden verfilmt

Zu den klassischen Formaten des religiösen Films zählen auch der Heiligenfilm und der biographische Film über große Persönlichkeiten der Kirchengeschichte. Der Papst-Euphorie nach 2005 geschuldet war wohl der Kinostart des italienischen Films "Johannes XXIII. - Für eine Welt in Frieden" (Italien 2004) von Ugo Tognazzi. Bob Hoskins, der bekennende Atheist, verkörpert darin den "papa buono", der sogar mit dem "lieben Gott" verglichen wird: mild und sanftmütig, liebevoll, allen Menschen guten Willens und ihren Sorgen zugewandt. Tognazzi hakte Lebensstationen ab und bevorzugte dabei eine schwerfällige Zeigefinger-Dramaturgie, die die Bedeutsamkeit jedes Satzes und jeder Situation unterstreicht.

Zu den biographischen Filmen zählt auch Gavin Millars "Albert Schweitzer - Ein Leben für den Frieden" (Deutschland/Südafrika 2009). Der als Urwald-Arzt, Theologe, Kulturphilosoph, Musikwissenschaftler, Organist und Friedensnobelpreisträger bekannte Schweitzer ist die Hauptfigur in einem Film der Produktionsfirma NFP, die bereits die Filmbiografien "Bonhoeffer - Die letzte Stufe" (Deutschland/USA/Kanada 2000) und "Luther" (Deutschland/USA 2003) in die Kinos gebracht hatte. Der Film schildert nicht die gesamte Biografie, sondern beschränkt sich auf die Jahre zwischen 1949 und 1954, in denen Schweitzer sich politisch engagierte und vor den Gefahren der Atombombe warnte, was ihn in den USA ins Visier der Kommunistenjäger brachte. "Albert Schweitzer" bleibt in der Inszenierung solide, aber konventionell, er ist jedoch keine Verklärung einer Ikone, sondern gibt einen vertieften Einblick in die Person.

In gewisser Weise ein Gegenstück zur "Päpstin" ist die Filmbiografie "Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen" (Deutschland 2009) von Margarethe von Trotta. Die Regisseurin, die in ihren Filmen immer wieder starke Frauen in den Mittelpunkt gestellt hat, widmet sich einer herausragenden Frauengestalt des Mittelalters, die heute vor allem als Vertreterin einer ganzheitlichen Naturmedizin und ökologischer Ernährung bekannt ist. Der Film ist inszeniert als historischer Bilderbogen, der Stationen aus dem Leben der Hildegard von Bingen aneinanderreiht.


Religionskritik mit aktuellen Bezügen

Hildegard erscheint als durch und durch moderne Frau, die das Recht auf Selbstbestimmung verteidigt, einen mit durchaus auch erotischen Untertönen durchsetzten Beziehungskonflikt mit ihrer Schülerin Richardis durchlebt und eine Lehre vertritt, die eine fortschrittliche Auffassung der Einheit von Körper und Seele zur Grundlage hat. Am Ende bricht Hildegard im fortgeschrittenen Alter zu einer Predigtreise auf und will dabei "den Herren Klerikern die Leviten lesen". Die starke Frau, eindrucksvoll verkörpert durch Barbara Sukowa, die sich gegen eine Männerkirche durchsetzt, lässt sich durchaus in Bezug setzen zu Dan Browns Maria Magdalena und der Päpstin Johanna. Immerhin konnte sich Margarethe von Trotta auf eine reale Figur berufen.


Auch andere aktuelle religions- und kirchenkritische Themen spiegelten sich in den letzen Jahren auf der Leinwand. Im vergangenen Jahr griff beispielsweise die Hollywood-Produktion "Glaubensfrage" (USA 2009) das Thema Missbrauch auf. Die Verfilmung eines preisgekrönten Broadway-Dramas, das der Autor John Patrick Stanley mit Oscar-Preisträgern wie Meryl Streep und Philip Seymour Hoffman für die Leinwand bearbeitete, verlegt die Handlung in das Jahr 1964: an einer katholischen Privatschule im New Yorker Stadtteil Bronx entsteht ein Konflikt zwischen der sittenstrengen Schuldirektorin und dem Schulseelsorger, der sich dem Verdacht ausgesetzt sieht, dass er sich einem Schüler - der erste Farbige an der Schule - in zweifelhafter Weise genähert haben soll.

Das ergibt ein detektivisches Katz-und-Maus-Spiel, das von klaren, teilweise bis zur Karikatur überspitzten Charakterisierungen der gegensätzlichen Protagonisten und von pointierten Dialogen lebt. Der Film lässt die Frage, ob tatsächlich ein Missbrauch stattgefunden hat, unbeantwortet, er wirft mehr Fragen auf als Antworten zu geben. So stellt er das offene, den Schülern zugewandte Verhalten des Priesters in den Kontext der durch das Konzil erklärten Öffnung der Kirche zur Welt. Überraschend auch die Haltung der Mutter des Jungen, die frei heraus sagt, dass der Schulabschluss ihre einzige Sorge sei und sie um die homosexuelle Veranlagung ihres Jungen weiß und die Zuwendung des Priesters schätzt.


Nur zu einer Veröffentlichung auf DVD brachte es in Deutschland der Oscar-nominierte Dokumentarfilm "Erlöse uns von dem Bösen" (USA 2006) von Amy Berg, der einen schier unglaublichen Fall von Missbrauch schildert: Es geht um den aus Irland stammenden Priester Oliver O'Grady, der in Kalifornien als Gemeindepfarrer wirkte und in den siebziger und achtziger Jahren Dutzende von Kindern missbrauchte. Die Regisseurin hat den pädophilen Geistlichen, der nach sieben Jahren Gefängnis im Jahr 2000 nach Irland abgeschoben wurde, tagelang interviewt.

Man sieht einen freundlichen älteren Herrn, der sich zu seiner Vorliebe für kleine Kinder bekennt, aber die Schwere seiner Schuld nie voll anerkennt. Das ganze Ausmaß des Schreckens wird dem Zuschauer erst allmählich durch immer neue Zeugenaussagen von Opfern deutlich. Die Kirchenvertreter, die eine Mitwirkung an dem Film verweigerten, sind nur bei Zeugenaussagen vor Gericht zu sehen. Dort machen sie eine denkbar schlechte Figur, wenn sie sich ohne eine Regung des Mitleids auf Erinnerungslücken berufen.


Neue Zugänge im deutschen Film

Ein Generalangriff auf die Religionen ist das erklärte Ziel des Dokumentarfilms "Religulous - Man wird doch wohl fragen dürfen" (USA 2008) von Larry Charles. Der US-Comedian und Talkmaster Bill Maher sucht darin religiöse Gruppen und Institutionen in den USA, Israel und Europa auf und stellt ihnen Fragen nach ihrem Glauben. Der Titel ist eine Wortschöpfung, die sich aus den Wörtern "religious" (dt. religiös) und "ridiculous" (dt. lächerlich) zusammensetzt, und der Film ist das polemische Pamphlet eines erklärten Agnostikers, der die großen Religionen Christentum, Judentum und Islam als lächerlich und gefährlich entlarven will.


Maher trifft auf seiner Reise Personen wie einfältige Trucker in einer Container-Kapelle, einen eitlen Prediger mit einer Vergangenheit als Soul-Sänger, einen mexikanischen Prediger, der behauptet, von Jesus abzustammen, den Jesus-Darsteller in einer Passions-Show im "Holy Land Experience"-Themenpark in Florida oder den Direktor eines Schöpfungsmuseums der Kreationisten in Kentucky. Man kann den Film als Indiz eines neuen Atheismus verstehen, er ist aber nicht als ernsthafte Argumentation anzusehen, sondern erweist sich als eine oberflächliche, satirisch überzogene Attacke eines selbsternannten und selbstgefälligen "Propheten", der den Zweifel predigt - ausgenommen an sich selbst.


Die interessantesten Ansätze zur Behandlung von Aspekten der Religion findet man überraschenderweise in deutschsprachigen Filmen. Mit Produktionen wie "Die Päpstin" und "Vision" gibt es hier durchaus Beispiele, die in die kommerziell erfolgreichen Trends gehören - es gibt aber auch Autorenfilme mit ganz eigenem Profil. Es sind allesamt Filme, die nicht marktstrategischen Überlegungen folgen, sondern die sich Fragen der Religion mit echtem Interesse und Offenheit, auch mitunter einer erkennbaren Distanz nähern, die keine Klischees bedienen wollen, sondern einen neuen Zugriff versuchen.

Zu den ambitioniertesten Filmen zählt Schlöndorffs "Der neunte Tag" (Deutschland/Luxemburg 2004; vgl. HK, August 2006, 425ff.). Der Film ist eine freie Bearbeitung der Erinnerungen des luxemburgischen Pfarrers Jean Bernard, der in der Geschichte der katholischen Filmarbeit eine besondere Bedeutung hat, weil er nach dem Krieg von 1947 bis 1972 Präsident der internationalen katholischen Filmorganisation OCIC war. Schlöndorff geht es um Christentum und politische Verantwortung. Die Geschichte des Abbé Kremer, der den Versuchungen eines Gestapo-Offiziers widersteht, für die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten in Luxemburg einzutreten und wieder ins KZ-Dachau zurückkehrt, ist durch eindrucksvolle Bilder aus dem KZ und der Darstellung von Ulrich Matthes in der Rolle des Pfarrers Kremer ein bewegendes Werk.


Zu den "Wundern", die es gelegentlich im Kino gibt, gehört der unerwartete Erfolg von Philip Grönings Dokumentarfilm "Die große Stille" (Deutschland 2005), ein fast dreistündiger Dokumentarfilm über das Leben der Kartäusermönche im Kloster Grande Chartreuse, in dem fast kein Wort gesprochen wird. Mit 200000 Zuschauern in Deutschland und weltweit über einer Million reichte der Film nicht an das Millionenpublikum von Mel Gibson heran, aber bei einem Film, der von seinem Zuschauer verlangt, dass er sich meditativ auf eine völlig fremde Welt einlässt und nur den Bildern vertraut, war der Erfolg alles andere als zu erwarten.

Der Film war das Werk eines Regisseurs, der über 16 Jahre hartnäckig an einem Projekt festhielt, bis er die Drehgenehmigung der Kartäuser erhielt. Der Regisseur verbrachte dann drei Monate im Kloster, lebte mit den Mönchen, dreht nur mit kleiner Digitalkamera ohne künstliches Licht. Die formale Radikalität macht den Film zu etwas, was dem großen Kino mit Ausstattungsorgien und Computereffekten nicht gelingt: einem spirituellen Erlebnis.


Einen völlig neuen Ansatz, das Thema Exorzismus zu behandeln, hat Hans-Christian Schmid in "Requiem" (Deutschland 2005) umgesetzt. Der Film ist eine freie Bearbeitung des Falles der Studentin Anneliese Michel, der 1976 Aufsehen erregte. Die junge Frau starb damals nach einer Teufelsaustreibung an den Folgen von Unterernährung und Entkräftung. Interessant war, dass man Schmids Film mit der Hollywood-Version des gleichen Stoffes vergleichen konnte, denn knapp ein halbes Jahr vor dem Start von Schmids Film kam der amerikanische Spielfilm "Der Exorzismus von Emily Rose" (USA 2005) in die Kinos.

Der von Scott Derrickson inszenierte Film setzt sich schon deutlich von den "Exorzisten"-Filmen der siebziger Jahre ab. "Emily Rose" ist als Gerichtsdrama aufgezogen, das die Frage nach der Wahrheit im Fall der von Dämonen heimgesuchten Studentin stellt. Im Vergleich zu "Der Exorzist" (USA 1974) bleibt dieser Film in der Darstellung des Bösen eher dezent. Die klassischen darstellerischen Mittel des Horrorfilms (Nachtszenerie, Blitz und Donner, bedrohliche Geräusche, schlagende Türen, zu Fratzen verzerrte Gesichter) werden eingesetzt, aber sie stehen nicht im Vordergrund. Es geht dem Film auch nicht um eine Anklage des Kirchenvertreters. Vielmehr wird mit dem Verlauf des Films zunehmend die Option gestützt, dass es übernatürliche Phänomene tatsächlich geben kann.


Der Film "Lourdes" der Regisseurin Jessica Hausner

Hans-Christian Schmids Film endet, wenn der eigentliche Exorzismus beginnt. "Requiem" ist die in einem nüchtern-dokumentarischen Stil gehaltene Darstellung der Geschichte einer jungen Frau, die sich lebensfroh und offen auf den Weg aus der Kleinstadt und einem strengen Elternhaus zum Studium nach Tübingen aufmacht, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Durch den Einfluss der Epilepsie, unter der sie leidet, entwickelt sie Vorstellungen von einer Besessenheit und sucht bei Priestern Hilfe in ihrer Not, da sie den Ärzten nicht vertraut.

Der Film stellt sensibel und differenziert die involvierten Personen (Elternhaus, Priester, Freunde) dar, die die Protagonistin positiv wie negativ beeinflussen, die aber bei allem guten Willen letztlich auch eine große Hilflosigkeit angesichts der Veränderungen, die mit der Studentin vorgehen, offenbaren. Dabei bietet der Regisseur verschiedene Deutungsmöglichkeiten an, ohne letztlich eine umfassende Erklärung nahezulegen. In erster Linie ist der Film eine Geschichte des Erwachsenwerdens, der Abnabelung vom Elternhaus und der Selbstfindung, die - obwohl die Konstellationen zu Anfang überaus positiv erscheinen - auf tragische Weise scheitern. Der Titel des Films legt nahe, ihn als ein Stück Trauerarbeit und nicht als Anklage des Umfeldes anzusehen.


Halb-dokumentarisch, halb zum exemplarischen Thesenstück tendierend, geht der am Gründonnerstag gestartete Film "Lourdes" (Österreich 2009) der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner das Thema des Wunders an. Der Film ist ein außergewöhnlicher Fall: bei den Filmfestspielen in Venedig erhielt er im vergangenen Jahr gleichzeitig den Preis der internationalen Filmkritiker, den Preis der nationalen wie auch der internationalen katholischen Jury sowie den Preis eines italienischen Verbandes der Atheisten und Agnostiker. Das lag nicht daran, dass jede Jury den Film völlig anders gesehen hätte. Unübersehbar ist die künstlerische Qualität des an Originalschauplätzen gedrehten Films, der inhaltlich sowohl die Position des Glaubens wie des Zweifels gleichermaßen als Option offenhält.

Die Geschichte einer jungen Frau, die an multipler Sklerose erkrankt ist und in Lourdes das Wunder erfährt, dass sie nach den Bädern wieder gehen kann, bietet sowohl eine ironisch gebrochene Kritik am organisierten Wallfahrtstourismus wie eine nachhaltig wirkende Studie der Verzweiflung und Hoffnung auf Erlösung, die an verschiedenen Figuren durchgespielt wird. In der Atmosphäre eines Pilgerheimes der Malteser, die als Ort der Krankheit mit der Sanatoriums-Szenerie des "Zauberberg" einiges gemein hat, sind die einzelnen Figuren mit ihrer je unterschiedlichen Haltung zum Glauben mit wenigen charakteristischen Merkmalen präzise herausgearbeitet.

Das Wunder wird ernsthaft behandelt, aber ohne eine Hollywood-typische Verklärung. Vielmehr wirft die neue Perspektive, dass die junge Frau, die ihr Leben und ihr Glück verloren glaubte, plötzlich wieder Hoffnung schöpfen kann, auch den Neid der Mitpilger (warum gerade sie?), Angst und Zweifel an der Dauerhaftigkeit der Besserung und grundsätzliche Fragen nach der Theodizee auf.


Wenn man den derzeit kommerziell erfolgreichsten Film, "Avatar" (USA 2009) von James Cameron als Beispiel nimmt, findet man die Spur zu einer neuen Religiosität. In dem Science-Fiction-Film suchen die Menschen im Jahr 2154 nach neuen Rohstoffvorkommen auf einem fernen Planeten, der von den blauhäutigen Na'vi bewohnt wird. Hier gibt es ein Paradies der edlen Wilden, die mit der Natur in Einklang leben und bei denen ein Baum des Lebens im Mittelpunkt des religiösen Erlebens steht. Seltsam ist nur, dass in der ach so heilen Welt selbst die jungen Frauen schon als Kämpferinnen ausgebildet sind und in der Schlacht gegen Kampfroboter der Armee mühelos mit Pfeil und Bogen standhalten können.

Und die Verbindung der Wesen oder zum Baum der Seelen wird nicht durch spirituelles Erleben hergestellt, sondern über eine ungewöhnliche Technologie, eine Verdrahtung über eine Art Bioport an den Haarspitzen. Kampf und Technik sind unterschwellig auch die Grundbausteine der Utopie. Tiefe findet man in diesem 3-D-Leinwandabenteuer nur in der technisch perfekten räumlichen Illusion, nicht in der Behandlung von existentiellen menschlichen Fragen wie die nach der religiösen Bindung.


Peter Hasenberg (geb. 1953), Studium der Anglistik und Germanistik in Bochum. Assistent am Englischen Seminar der Universität Bochum; 1981 Promotion (Anglistik). Seit 1988 Filmreferent im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und Vorsitzender der Katholischen Filmkommission für Deutschland.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 5, Mai 2010, S. 250-254
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2010