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NEUERSCHEINUNG/553: 07/07 · "Die Abenteuer von Hergé" (SB)


Bocquet, Fromental, Stanislas


Die Abenteuer von Hergé



"In Wort und Bild gehen Bocquet, Fromental und Stanislas in Hergés Leben auf Spurensuche nach den interessantesten Stationen, Details und Anekdoten. Dabei entsteht ein faszinierendes biographisches Mosaik, das die vielen Facetten des Vaters von 'Tim & Struppi' zeigt." (Klappentext)

Ja, ein Mosaik ist es, aber eines, um im Bild zu bleiben, in dem zu viele Steinchen fehlen, um ein überzeugendes Ganzes zu bilden. Auch die um zwei Episoden bzw. acht Seiten ergänzte und anläßlich des 100. Geburtstages des Zeichners im Mai 2007 herausgebrachte Neuauflage der "Abenteuer von Hergé" (erstmals erschienen im März 2001) krankt an ihrer allzu großen Lückenhaftigkeit. Der chronolgische Ablauf, erkenntlich an den Jahreszahlen, die den einzelnen, zumeist vier Seiten umfassenden Einzelepisoden vorangestellt sind, vermag diese nicht zu füllen. Ein wenig an Hintergrundinformation kann man sich aus dem vierseitigen Anhang anlesen, in dem die wichtigsten Personen in Hergés Leben kurz vorgestellt werden. Für diejenigen, die sich nicht bereits vorher mit der Biografie von Georges Remi beschäftigt haben (Hergé ist sein Künstlername, zusammengesetzt aus seinen rückwärts gelesenen Initialen R. G.), bleibt das in diesem Album Dargebotene dennoch Stückwerk. Zwar kann man sich einiges selber zusammenreimen, indem man im besagten Anhang nachschlägt, dennoch bleibt ein unbefriedigender Eindruck. Was hatte es beispielsweise mit dem "gestohlenen" "Le Soir" auf sich, in dem die Abenteuer von Tim und Struppi während der Besatzungszeit im zweiten Weltkrieg erschienen? Immerhin erfährt man von dem drohenden Berufsverbot, das Hergé nach der Befreiung Belgiens bevorstand, weil er während der Besetzung für eine Zeitung gearbeitet hatte, und das nur durch das Eingreifen von Raymond Leblanc, dem, laut Anhang, "Helden der belgischen Résistance", verhindert werden konnte. Persönliche Probleme wie Depressionen oder Seitensprünge bekommen relativ viel Raum, kaum Erwähnung findet hingegen die "Ligne claire" (klare Linie), jener Zeichenstil, der Hergé so berühmt machte, und der Einfluß, den er nicht zuletzt durch sein 1950 gegründetes Studio auf zahlreiche Zeichner ausübte.

Am Ende fragt man sich, ob Georges Remi wirklich ein so zerrissener Mensch war, wie der Comic es glauben macht, oder ob die schlaglichtartig herausgehobenen, unverbundenen Episoden diesen Eindruck - womöglich unbeabsichtigt - entstehen lassen. Ein unvorbereiteter Leser hat keine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Damit "Die Abenteuer von Hergé" eine runde Sache und die Anschaffung für eine breite Leserschaft lohnenswert ist, wäre es sinnvoll und nötig gewesen, eine ausführliche schriftliche Biografie dieses für die Comic-Welt so bedeutenden Zeichners hinzuzufügen.


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Georges Remi, Tim und Struppi und die "Ligne claire"

Der 1983 verstorbene Hergé, mit bürgerlichem Namen Georges Remi, gilt als einer der bedeutendsten Comic-Zeichner Europas. Er gestaltete die wohl wichtigste und erfolgreichste europäische Comic-Serie, "Tintin", bei uns als "Tim und Struppi" bekannt, und prägte mit der "Ligne claire" (klare Linie) eine Stilrichtung, die von vielen Zeichnern aufgegriffen wurde und maßgeblichen Einfluß auf einen großen Zweig der Comic-Erzählkunst ausübte.

Am 22.5.1907 wurde Georges Remi in Etterbeck in der Nähe von Brüssel geboren. Wie viele, die das Zeichnen später zu ihrem Beruf machten, interessierte auch er sich schon seit seiner Kindheit dafür. "Illustrierte" Schulbücher und -hefte waren die frühen Zeugnisse seiner zeichnerischen Bemühungen. Doch schon ab 1923, im Alter von 16 Jahren, bekam er Aufträge von verschiedenen Zeitschriften, für die er Illustrationen anfertigte. Seinen ersten Comic, "Totor", zeichnete Georges Remi 1926.

Nachdem er die Schule beendet und seine Militärzeit abgeleistet hatte, arbeitete Remi als Illustrator und Foto-Assistent bei der katholisch-konservativen Tageszeitung "Le Vingtième Siècle". Von dieser Zeitung erhielt er 1928 auch seinen ersten großen Auftrag, die Gestaltung einer Bildergeschichte für die wöchentliche Jugendbeilage "Le Petit Vingtième". Während der ersten Wochen zeichnete er Kurzgeschichten, die einer der Redakteure sich ausgedacht hatte. Sie kamen bei den jugendlichen Lesern allerdings nicht gut an. Daraufhin entwickelte "Hergé", wie er sich damals schon nannte, eine eigene Figur - "Tintin" war geboren. Ihren ersten Auftritt hatten der junge, unternehmungslustige Reporter Tintin (Tim) und sein Hund Milou (Struppi) am 10.1.1929, genau drei Tage nach dem Erscheinen der ersten realistischen Abenteuer-Comics in Amerika, "Tarzan" und "Buck Rogers".

Abenteuerliche Reisen in aller Herren Länder sollten sie unternehmen, das war das Konzept der neuen Serie. Ihre erste Reise führte Tim und Struppi in die Sowjetunion ("Tim im Lande der Sowjets"). Die beiden fanden beim Publikum sofort so großen Anklang, daß man parallel zu Tim und Struppis "Rückkehr" nach etlichen Wochenbeilagen einen Jungen und einen weißen Foxterrier engagierte, die am Brüsseler Bahnhof von einer großen Menschenmenge erwartet und stürmisch begrüßt wurden.

Die nächsten Episoden spielten unter anderem im Kongo, in Ägypten, Tibet oder der Wüste Sahara, Schauplätze, die zur damaligen Zeit noch wesentlich exotischer waren als heutzutage. Das erhöhte die Beliebtheit der Abenteuer natürlich, zumal Hergé als äußerst gewissenhafter Arbeiter seine Geschichten von Mal zu Mal gründlicher recherchierte und so dem Leser zusätzlich realistische Hintergrundinformationen vermittelte. Waren die Geschichten anfangs noch stark von den Klischees und Vorurteilen der damaligen Zeit geprägt, änderte sich dies, nachdem Hergé sich in den 30er Jahren mit dem Chinesen Tschang Tschong-Jen anfreundete, der an der Hochschule für Bildende Künste in Brüssel studierte. Der junge Chinese half ihm mit Hintergrundinformationen bei der Arbeit zu Hergés neuem Album "Der blaue Lotus", beriet ihn in Fragen des Umgangs mit Chinatusche und Pinsel - und wurde zu einer der Hauptfiguren in "Der blaue Lotus".

Auch bei allen folgenden Abenteuern verwendete Hergé fortan viel Zeit für Recherchen über die geographischen, kulturellen, sozialen und politischen Hintergründe der Länder, in denen seine Geschichten spielten. Aber auch Tims Mondlandung, die Anfang der 50er Jahre erschien, war eine wissenschaftlich fundierte Utopie, die der echten Mondlandung 1969 einiges vorwegnahm.

Schon ab 1930 erschienen die schwarzweiß gehaltenen Einzelfolgen auch als Nachdrucke in Alben von etwa 120 Seiten Umfang. Während des 2. Weltkriegs bekam Hergé von einem belgischen Verlag das Angebot, seine Alben, wegen der Papierknappheit zwar auf 62 Seiten gekürzt, aber dafür in Farbe, anzulegen. Hergé zeichnete alle bisher erschienenen "Tim und Struppi"-Abenteuer noch einmal vollständig neu. Überhaupt ließ er stets eine ungewöhnlich hohe Sorgfalt walten, indem er beispielsweise seine Geschichten mit jeder Auflage aktualisierte. Er variierte Kleinigkeiten wie Farbtöne, korrigierte Autos nach ihrem jeweils gängigen Erscheinungsbild oder änderte den Ablauf kleinerer Szenen, je nachdem, für welchen Sprachraum die Neuauflage vorgesehen war. Von vielen seiner Alben existieren zahlreiche - von Sammlern heißbegehrte - unterschiedliche Auflagen, die sich in kleinen Details unterscheiden.

1946 wurde Tintin zur Titelfigur eines wöchentlich erscheinenden Comic-Magazins für Jugendliche, das zu einem der wichtigsten Magazine im französischen Sprachraum wurde und viele neue Zeichner und Serien veröffentlichte. Hergé erfand noch weitere Figuren, "Quick et Flupke", "Popol und Virginie" und "Jo & Zette", die er aber später wieder aufgab, da er sich ausschließlich seiner Serie "Tim und Struppi" widmen wollte.

1950 gründete Georges Remi die "Studios Hergé", in denen berühmte Comic-Zeichner und -Autoren wie Edgar-Pierre-Jacobs ("Blake und Mortimer") oder Bob de Moor arbeiteten. Von hier aus verbreitete sich auch die Stilrichtung, die Hergé geprägt hatte und die 1976 anläßlich einer "Tim und Struppi"-Ausstellung in Rotterdam mit dem Begriff "Ligne claire" beschrieben wurde, unter den Zeichnern der sogenannten "frankobelgischen Schule". Die "Ligne claire" umfaßt nicht nur die visuelle Darstellung, sondern bedeutet auch eine bestimmte, geradlinige, dabei aber keineswegs "simple" Auffassung des Erzählstils, die mit der Klarheit und Übersichtlichkeit der Darstellung harmoniert. Da Lesbarkeit und Transparenz an erster Stelle stehen, bleiben auch komplexe Inhalte überschaubar.

Tim, der junge, weltoffene und vielseitig interessierte Reporter, der gerne seine Spürnase in verzwickte Angelegenheiten steckt und dabei oft genug in eine "große Sache" reinrutscht, weckt die Sympathien, obwohl - oder gerade weil - er recht vereinfacht dargestellt ist. Diese Methode, die Figur des Helden betont einfach und cartoonhaft darzustellen - im Kontrast zur realistischen Ausgestaltung des Hintergrundes - erhöht die Bereitschaft des Lesers zur Identifikation. Er sieht "durch die Figur hindurch", die möglichst wenig optische "Anhaltspunkte" bietet, und erlebt gewissermaßen selbst in der Rolle des Handelnden die Abenteuer - ein in der Schule der "Ligne claire" gerne verwendetes Stilmittel, das bei "Tim und Struppi" seine Wirkung nicht verfehlt.

Ab Mitte der 70er Jahre griff eine ganze Generation von Comic-Zeichnern den Stil Hergés erneut auf, die "Nouvelle Ligne claire" entstand. Hergé, der sich in späteren Jahren immer mehr für die Gegenwartskunst interessierte, kündigte gegen Ende der 70er Jahre an, daß er an einem neuen "Tim und Struppi-Album" arbeitete, welches im Bereich der Modernen Kunst spielte. Dieses Album blieb unvollendet. An Leukämie erkrankt, starb Georges Remi in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1983. Sein Tod bedeutete auch das Ende neuer Abenteuer von "Tim und Struppi" und ihren Freunden, dem fluchenden Rauhbein Kapitän Haddock, dem zerstreuten Professor Bienlein und vielen anderen Figuren, denn Hergé hatte verfügt, daß nach seinem Tod keine neuen Folgen gezeichnet werden dürfen. Sein letztes Album, "Tim und die Alpha-Kunst", sollte zunächst von Bob de Moor fertiggestellt werden, erschien dann aber 1986 unvollendet.

14. August 2007


Die Abenteuer von Hergé
Bocquet, Fromental, Stanislas
Carlsen Verlag, Hamburg, Juli 2007
Softcover, 72 Seiten, Format 22 x 29,5 cm, farbig, 10,- Euro
ISBN-13: 978-3-551-77780-5
ISBN-10: 3-551-77780-2