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ANTIQUARIAT/041: Charles Burns Gesammelte Werke (1) "Big Baby" (SB)


Charles Burns


Gesammelte Werke

Band 1 "Big Baby"



"Big Baby" ist ein reiner Erwachsenencomic, zwar nicht unbedingt wegen der Geschichten, die wohl auch einem jüngeren Publikum gefallen würden, aber auf jeden Fall vom Zeichenstil her. Bei diesem Album kann man ein Merkmal beobachten, das man zwar nicht bei jedem Comic für Erwachsene, auf jeden Fall aber gehäuft bei dieser Gruppe antrifft: Der Stil steht vor dem Inhalt, zumindest auf den ersten Blick. Das soll, jedenfalls bei diesem Album, durchaus nicht heißen, daß die Story Nebensache bleibt. Im Gegenteil, sie gewinnt zunehmend an Bedeutung und zwar in dem Maße, in dem man sich an den recht ungewöhnlichen Zeichenstil von Charles Burns gewöhnt. Am Anfang ist man allerdings von dem schweren, plakativen, an Holz- oder Scherenschnitte erinnernden Schwarzweiß-Stil derart eingenommen, ja regelrecht "besetzt", daß man die Story kaum wahrnimmt.

Auch wenn man zu Beginn etwas befremdet ist ob des "sterilen", plakativen Stils, in dem man keinerlei "lebendige" Linie findet, sondern nur schwarze und weiße Flächen, die wie ausgeschnitten wirken (selbst die Schraffuren machen diesen Eindruck), findet man sich überraschend schnell in dieser abstrahierten Welt der 50er Jahre zurecht, und nicht nur das, man entdeckt, daß sie etwas direktes hat, dem man sich nicht so leicht entziehen kann. Durch die Vereinfachungen, die sich aus dem Zeichenstil ergeben, gewinnen Darstellungen und Handlung an Eindringlichkeit. Die Gesichter haben Ausdruck, obwohl sie maskenhaft sind. Auch graphische Stilelemente wie zum Beispiel Schweißtropfen, die völlig unrealistisch aussehen, haben in dieser Welt eine starke Wirkung; sie sind sparsam und gezielt eingesetzt und passen hierher. Tip: Die ersten zwei, drei Seiten einfach nur betrachten, auch wenn man den Inhalt nicht versteht. Wenn man sich an den Zeichenstil gewöhnt hat, zurück an den Anfang blättern und das ganze noch einmal lesen - es lohnt sich, denn die beiden Geschichten, die dieser Band enthält, sind dramaturgisch gut aufgebaut und sehr unterhaltsam.

Charles Burns macht Horror-Comics, doch seine Botschaft lautet: Der eigentliche Horror nimmt in den heimischen Wohnzimmern der Vorstädte seinen Lauf. Und so handeln die Geschichten um "Big Baby", den Jungen Tony, von Monstern, Mumien und anderen schauerlichen Gestalten: Nachbarn, die ihre Frauen verprügeln, Sommercamp-Leitern, die die Jungen piesacken und anderen Normalos. Tony ist ein etwa zehnjähriger Junge, der ein Faible für gruselige Horrorfilme hat, gleichzeitig nachts aber nicht ohne sein Kinderlicht einschlafen kann - er ist einer der typischen Antihelden, die bei den Lesern gerade wegen ihrer menschlichen Fehler und Schwächen so beliebt sind. Seine Erlebnisse, eine gekonnte Mischung aus Jungenabenteuern und bizarrem Horror, werden wohl bei manchen, längst dem Jugendalter entwachsenen Lesern, beinahe romantische Erinnerungen an fast vergessene Kinderzeiten wecken.

In der ersten Geschichte, die den Titel "Der Fluch der Maulwurfsmenschen" trägt, geht es um einen "Monsterschatz". Tony beobachtet, wie bei den Nachbarn ein tiefes Loch ausgehoben wird. Die Arbeiter machen ihm weis, sie würden nach einem Monsterschatz graben - gerade das richtige für den Jungen, der natürlich sofort mitsuchen möchte. Doch der fiese, fette Nachbar Mr. Pinkster ist nicht zum Scherzen aufgelegt. Sein Swimmingpool soll fertig werden, das Kind soll die Leute nicht vom Arbeiten abhalten. Der Nachbar verschwindet in seinem Haus, wo er, wie so oft, seiner Frau eine fürchterliche Eifersuchtsszene macht.

Dem Jungen läßt die Sache mit dem Schatz keine Ruhe. In der Nacht schleicht er sich ans Fenster und beobachtet die Baugrube. Und tatsächlich, er sieht, wie ein unheimliches Wesen in der Grube veschwindet. Es schleift einen leblosen Menschen hinter sich her. Die eilig herbeigerufenen Eltern können nichts entdecken, für sie steht fest, daß das Kind zu viele Horrorfilme gesehen hat.

In der nächsten Nacht ist Tony wieder zur Stelle. Diesmal steigt er sogar, mit einem Spaten bewaffnet, in die Grube hinab. Er ist allerdings nicht der einzige, der um diese Zeit unterwegs ist. Der krankhaft eifersüchtige Mr. Pinkster, der am Nachmittag seine Frau verprügelte, nur weil ein Verteter an der Tür klingelte, lauert - angeblich ist er auf Geschäftsreise - in der Nähe des Hauses, um vermeintlichen Liebhabern seiner Frau auf die Spur zu kommen.

Tony wird tatsächlich fündig. Er entdeckt einen Tunnel, der ihn zu einem unheimlichen Ort führt, wo ausgemergelte Männer von unheimlichen Monstern mit merkwürdig leuchtenden Fortsätzen auf der Stirn gefangengehalten werden. Er gibt einem der Gefangenen sein Messer, damit er sich befreien kann. Bei seinem Fluchtversuch schneidet der Mann einem der Monster seinen Fortsatz ab. Der Junge fängt ihn auf, wird entdeckt und rennt um sein Leben.

Die Nachbarin, von den Geräuschen wachgeworden, findet Tony in der Grube. Unglücklicherweise hat auch ihr Mann etwas gehört. Im Näherkommen sieht er, wie seine Frau jemanden in den Arm nimmt und erkennt in seiner Eifersucht nicht, daß es sich nur um einen kleinen Jungen handelt. Wutschnaubend richtet er einen Revolver auf seine Frau...

Der von den Schüssen alarmierte Polizist kann nur noch den Tod von Mr. Pinkster feststellen. Seine Frau hatte ebenfalls einen Revolver bei sich. Als sie hinter sich einen Schuß hörte, drückte sie ab - es war ein Unglücksfall, einer, den niemand bedauern wird.

Als die Arbeiter am nächsten Tag den Auftrag bekommen, die Grube wieder zuzuschütten, finden sie den merkwürdigen, leuchtenden Fortsatz ...

Die zweite Geschichte, "Blutclub", führt "Big Baby" Tony und seinen Freund in ein Ferienlager, eines von der Sorte, wo Zucht und Ordnung, Sauberkeit, Sitte und Anstand herrschen - Tonys Ferienfreude ist denn auch etwas gedämpfter Natur. Bei einem ersten Rundgang mit ihrem energisch-väterlichen Lagerleiter, den alle "Onkel Rory" nennen, lernen die Jungen ihre Umgebung kennen. Ihr Lager liegt direkt an einem See, am gegenüberliegenden Ufer befindet sich das Mädchenlager. Die Insel, die mitten im See liegt, scheint ein unheimliches Geheimnis zu umgeben. Jedenfalls ist das Betreten strengstens verboten.

Am abendlichen Lagerfeuer erfahren die Jungen mehr. Onkel Rory erzählt die schauerliche Geschichte eines Jungen, der vor zwölf Jahren verschwand. Ricky, so hieß der Junge, war eines Nachts heimlich zu der besagten Insel gerudert. Am nächsten Tag fand man nur noch sein Boot, trotz einer großen Suchaktion blieb Ricky verschwunden. Eine Woche später hatten zwei Jungen aus dem Lager eine unheimliche Begegnung: Auf dem Heimweg zu ihrer Hütte sahen sie Rickys Geist, er schwebte über dem Boden, schimmerte in blauem Licht und Tränen liefen ihm über die Wangen. Seitdem sei Rickys Geist jeden Sommer wiedergekommen, erzählt Onkel Rory, wahrscheinlich, um die Jungen daran zu gemahnen, stets die Regeln des Camps zu befolgen.

Das Lagerleben nimmt seinen Lauf. Dazu gehören auch nächtliche Heimlichkeiten wie etwa der Beitritt aller Neulinge zum "Blutclub" - damit ist man Blutsbruder und darf niemals einen Kumpel hängen lassen. Später in der Nacht hat Tony eine Begegnung mit dem Geist von Ricky. Er sieht genauso aus, wie Onkel Rory ihn beschrieben hat. "Bitte hilf mir..." stammelt der Geist. Tony schreit entsetzt auf. Keiner glaubt ihm, was er gesehen hat.

In den nächsten Tagen bringt eine unverzeihliche Verfehlung Unruhe in das Camp. Alles hatte damit begonnen, daß Tony ein Pin-Up-Magazin fand, welches er seinen Freunden zeigte. Durch die Lektüre angeregt, kam einer auf die Idee, zum anderen Ufer zu rudern, um die Mädchen heimlich zu beobachten. Das ging schief, denn der Junge wurde dabei bemerkt. Ausgerechnet Tony verrät den Namen des Übeltäters. Bei den anderen ist er nun endgültig unten durch.

Um doch wieder in den Club aufgenommen zu werden, muß Tony eine Mutprobe auf sich nehmen. Er soll zur verbotenen Insel rudern und etwas von dort mitbringen. Auf dem Weg zur Insel erscheint der Geist. Er spricht mit Tony, bittet ihn um Hilfe, denn er möchte sein rätselhaftes Verschwinden aufklären. Seine Eltern sollen wissen, was mit ihm geschah. Und so führt der Geist Tony an den Ort des Geschehens und der Junge erfährt die wahre Geschichte: Ricky wollte dem Lagerleiter nachspionieren, der sich auf der Insel des öfteren mit einem der Mädchen aus dem anderen Lager traf. Doch Rory bemerkte den Jungen und ging auf ihn los. Ricky starb bei einem unglücklichen Sturz auf einen Stein.

Tony nimmt den Schädel des Jungen mit und kann so seine Geschichte beweisen. In seinen Träumen bedankt sich der Geist ...

"Big Baby" erschien in den 90er Jahren in der "Edition Kunst der Comics" und kostete seinerzeit 49,80 DM. Dafür sparte man nicht an der Aufmachung - das großformatige Hardcoveralbum wurde aus unaufgeschnittenem Papier gebunden (die Innenseiten sind leer) und präsentiert sich in edelstem Druck.


5. Juni 2007