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ANTIQUARIAT/003: "Ein höllischer Gast" von Clive Barker


Clive Barker


Ein höllischer Gast

Das Cuazzel wußte nicht, warum die Mächtigen (lange mögen sie hofhalten und Licht auf die Köpfe der Verdammten scheißen) es aus der Hölle, der Heimat, geschickt hatten. Wann immer es über das System eine schlichte, zögerliche Frage an seinen Herrn schickte: "Was soll ich hier?", bekam es für seine Neugier sofort einen Tadel.

"Geht dich nichts an!" kam die Antwort. "Erledige Deinen Job ... oder stirb dabei!'"

Als ich "Ein höllischer Gast" das erste Mal in die Hand nahm, war ich zunächst sehr sekptisch. Ein überteuertes Statussymbol für Clive Barker-Fans, mehr für den Bücherschrank gedacht und viel zu anspruchsvoll, dachte ich mir. Doch nach mehrmaligem Lesen und anschließendem Vergleich mit der zugrundeliegenden Geschichte "The Yattering and Jack", die bei uns als "Das Geyatter und Jack" in "Das Erste Buch des Blutes" veröffentlicht wurde, halte ich dieses Album inzwischen aus mehreren Gründen für eine ausgesprochen gelungene Umsetzung der ursprünglichen Geschichte.

Die 34seitige Kurzgeschichte "Das Geyatter und Jack" ist von ihrem Umfang her sehr geeignet für eine Comic-Umsetzung, und man bringt sie gut in einem Album unter. So blieben die Inhalte erhalten und die Story wurde um eine neue, die visuelle, Dimension erweitert.

Von der Gestaltung her ist "Ein höllischer Gast" eigentlich kein Comic, sondern eher eine in Anlehnung an Comics illustrierte Geschichte. Die Betonung des literarischen Anteils wird auch gleich bei der Namensnennung auf dem Album optisch deutlich gemacht. Ganz oben steht in großen Lettern `Clive Barker'; unten am Rand und wesentlich kleiner, `Illustriert von John Bolton' (Als Autor des Comics zeichnet Steve Niles verantwortlich).

Die Übersetzungen der ausgewählten Textstellen finde ich zum Teil sogar gelungener als in der Geschichte "Das Geyatter und Jack"; zumindest sind sie einer illustrierten Version der Geschichte absolut angemessen. Durch die Kürze, in der in diesem Fall tatsächlich die Würze liegt, wirken sie oftmals spritziger und witziger als in der Buchversion. Eingeschworene Clive Barker-Fans kommen also voll auf ihre Kosten. Zur Veranschaulichung folgt das Zitat vom Anfang dieses Beitrags noch einmal in der Buchfassung:

Weshalb es die Mächte (lang mögen sie hofhalten; lang mögen sie Licht scheißen auf die Scheitel der Verdammten) von der Hölle ausgesandt hatten zur Pirschjagd auf Jack Polo, war dem Geyatter einfach unerfindlich. Jedesmal, wenn er übers Netzsystem an seinen Herrn eine schüchterne Anfrage des simplen Inhalts: "Was habe ich denn hier verloren?" expedierte, erteilte man ihm seiner Neugier wegen unverzüglich einen Rüffel. Das sei nicht seine Sache, kam die Antwort, seine Sache sei die Durchführung, notfalls sein Tod beim Sich-Drum-Bemühen. ...

Die durchweg farbigen Illustrationen wurden in Lasurtechnik angefertigt. Ihre technische Ausführung ist gelungen und zeugt von großer Professionalität. Für meinen Geschmack sieht man ihnen allerdings streckenweise zu sehr den fotografischen Ursprung an. Das ist schade, denn gerade die interessanten malerischen Effekte, die durch den transparenten Farbauftrag entstehen, werden durch die allzu "fotorealistische" Wiedergabe oftmals zunichte gemacht.

Auf jeden Fall jedoch ist das Album eine ausgiebige Betrachtung wert und es ist keine "Eintagsfliege", auch bei mehrmaligem Lesen entdeckt man immer wieder geschickt angelegte und witzige Details in Wort und Bild. Lesen Sie selbst - und viel Erfolg beim Stöbern im Antiquariat!

Ein halbes Jahr war es nun schon her, daß man es auf Jack Polo angesetzt hatte. Seitdem saß das Cuazzel in dieser verdammten Wohnung fest. Als niederer Dämon mit eingeschränkter Handlungsfreiheit hatte es strenge Auflagen zu befolgen, was die Herangehensweise an sein potentielles Opfer betraf. So durfte es Jack Polos Heim nicht verlassen und - zu seinem größten Leidwesen - ihm keine körperliche Gewalt zufügen, ja, es durfte sein Opfer nicht einmal berühren. Die Beeinflussung, die Polo in den Wahnsinn treiben und seine Seele schließlich den Mächten der Hölle ausliefern sollte, mußte ausschließlich psychischer Natur sein. Und hierfür war, wie das Cuazzel inzwischen aus leidvoller Erfahrung wußte, Jack Polo die denkbar ungeeignetste Person.

Daß sein Opfer nicht nur für übernatürliche Einflüsse, sondern auch für ganz normale menschliche Gefühle absolut unempfänglich war, hatte das Cuazzel in den vergangenen Monaten ausgiebig studieren können. Polos Ehefrau betrog ihn nach Strich und Faden - er war der letzte, der davon erfuhr. Als sie ihm schließlich alles gestand - bei dieser Szene war selbst das Cuazzel zusammengezuckt - lautete Jack Polos einziger Kommentar: "Sowas passiert nun mal. Que serâ, serâ." (Die Frau beging aus Verzweiflung über soviel Gleichgültigkeit kurze Zeit später Selbstmord.) Und als seine Tochter Amanda ihm anvertraute, sie sei lesbisch, war er genau so uninteressiert: "Na ja, solange du nicht schwanger wirst, Schatz."

Warum wollten die Mächtigen ausgerechnet ihn haben, fragte sich das Cuazzel zum wiederholten Mal. Jack Polo, Essiggurken- Importeur, war nicht der Typ, der einen Pakt schloß oder seine Seele verkaufte. Der Mann war eine Null, eine unbeschriebene kleine Nummer der Natur - und so unbeschreiblich gleichgültig, daß es schlichtweg zum Verzweifeln war. Seit dem Tod von Polos Frau war das Cuazzel die meiste Zeit allein im Haus. Seine Tage vergingen in endloser Monotonie. Es langweilte sich derart, daß der mittägliche Posteinwurf zum Höhepunkt des Tages wurde. Wenn Jack Polo Stunden später endlich nach Hause kam, begann das tägliche Ritual: Zuerst verhindern, daß Polo den Haustürschlüssel umdrehen konnte, nach kurzem Kräftemessen, das Polo meist erstaunlich schnell gewann, im Flur sämtliche Lampenschirme zum Rotieren bringen - die einzige wahrnehmbare Regung des Hausherrn hierzu bestand in dem von Zeit zu Zeit gemurmelten Kommentar: "Häuser senken sich. Que serâ, serâ."

Anschließend duschte Polo und das Cuazzel unsichtbar mit ihm. Pflichtschuldig wie es war, ließ es sich diese Gelegenheit nicht entgehen, seinem Opfer obszöne Dinge ins Ohr zu flüstern. Auf der Akademie hatte man ihnen beigebracht, daß diese Methode stets erfolgreich sei. Die Opfer, die glauben würden, diese Gedanken seien ihnen selbst gekommen, würden entweder auf die Straße rennen und irgendwelche verrückten Dinge tun, oder sich vor sich selbst anwidern; auf jeden Fall würde man sie auf diese Weise mit Sicherheit in den Wahnsinn treiben. - Nun, auf Jack Polo traf diese Regel jedenfalls nicht zu. Er war und blieb unbeeindruckt.

Allmählich wußte sich das Cuazzel keinen Rat mehr aus seiner ausweglosen Lage. Es nahm seinen ganzen Mut zusammen und rief die Mächtigen an, wohlwissend, daß diese es überhaupt nicht liebten, von unbedeutenden kleinen Dämonen gestört zu werden. Doch dem Cuazzel schien inzwischen selbst der Tod eine annehmbare Alternative zu seinem jetzigen Schicksal zu sein. Beelzebub persönlich sprach zu ihm, und wie zu erwarten gewesen war, ließ er sich nicht erweichen. Polos Seele stünde den Mächtigen zu, sagte er, weil sie ihnen einst versprochen wurde und Polos Mutter, die behütet in den Armen eines Priesters gestorben war, sie nicht wie besprochen geliefert habe.

Das Cuazzel mußte also weiter leiden. Seiner ohnmächtigen Wut über die Worte Beelzebubs fiel Polos Kater Freddy zum Opfer, den er kurzerhand ins Kaminfeuer warf. Da Jack Polo in den folgenden Wochen in schöner Regelmäßigkeit neue Kater anbrachte (die ebenso regelmäßig einen grausamen Tod fanden), ergab sich für das Cuazzel immerhin etwas sportliche Abwechslung. Besonders mit Freddy III, der die unsichtbare Anwesenheit des Cuazzels sofort spürte, verbrachte es einige anregende Stunden. Doch auch diese Zerstreuung fand bald ihr Ende. Durch andauerndes, nervenzermürbendes Kratzen besiegelte der Kater eines Nachmittags sein Schicksal - er explodierte förmlich, als das Cuazzel ihn scharf ansah. Das Ergebnis war beeindruckend: Überall klebten Katzenreste. Der Dämon wartete nun gespannt darauf, wie Jack Polo reagieren würde, wenn er nach Hause kam. Das Ergebnis war mager, verschaffte dem Dämon aber dennoch einige Genugtuung - immerhin zeigte sich ein Ausdruck des Abscheus auf Polos Gesicht. "Hunde, verdammte Hunde" murmelte er.

Weihnachten nahte. In Jack Polos Leben trat eine spürbare Veränderung ein. Er putzte das Haus, entfernte die letzten Reste Katzenblut aus dem Teppich und richtete ein Zimmer für seine Töchter her, die er zum Fest zu Besuch erwartete. Finster blickte das Cuazzel auf die beiden jungen Frauen. Amanda und Gina sahen nicht so aus, als würden sie so schnell zusammenbrechen. Doch es würde nichts unversucht lassen, die Gelegenheit doch noch in einen Sieg zu verwandeln. In der Nacht eröffnete es die Feindseligkeiten, indem es die beiden Frauen aus dem Bett warf. Erschreckt riefen sie den Vater, der gewissenhaft das ganze Haus absuchte. "Häuser senken sich", war der Kommentar dieses unverbesserlichen Ignoranten, dem sich schließlich auch Gina anschloß.

Am nächsten Tag, dem Weihnachtstag, landete das Cuazzel seinen größten Coup. Amanda stand gerade in der Küche, als der Backofen anfing zu poltern. Voller Schrecken rief sie die anderen herbei. Sie befürchtete, ein Tier mit dem Truthahn zusammen eingesperrt zu haben. Das Rumpeln und Poltern war unterdessen immer lauter geworden; vorsichtig näherte sich Jack Polo dem Ofen. Da brach die Tür auf und heraus flatterte - was für ein grotesker Anblick - der kopflose Truthahn. Seine Füllung verspritzend torkelte er mit seinen Stummelflügeln wild in der Küche herum. Die Familie flüchtete in das angrenzende Zimmer und Jack Polo knallte die Tür zu. Danach war Stille.

Das Cuazzel frohlockte. Der entscheidende Fortschritt war ihm gelungen. Eine einzige Manifestation würde jetzt noch nötig sein, um sein Opfer endgültig zu brechen. Der nächste günstige Moment kam am Abend. Jack Polo war nicht im Wohnzimmer, aber seine beiden Töchter waren da. Der Dämon versetzte den Weihnachtsbaum in immer schneller werdende kreisende Bewegungen. Bald begannen die ersten Gegenstände sich zu lösen und jagten wie Geschosse durch das Zimmer. "Schnell, raus hier", schrie Jack Polo, der durch den Lärm alarmiert hereinstürzte. Für Amanda war das ganze zuviel gewesen. Mit leerem Blick hockte sie auf dem Fußboden. Gina fragte ihren Vater, was da im Zimmer vor sich ging. Seine Antwort, er wisse es nicht, glaubte sie ihm nicht.

Jack Polo, der in Wirklichkeit schon lange über seine "Heimsuchung" Bescheid wußte, machte sich Vorwürfe. Nun hatte er auch noch seine Töchter in diese gefährliche Sache mit hineingezogen. Doch es war ihm einfach zu auffällig erschienen, die Feier abzusagen. Er hatte Angst gehabt, das Cuazzel könnte seinen Plan durchschauen. Nach seiner Einschätzung handelte es sich um einen niederen Dämon, der sich dazu verleiten lassen würde, die Grenzen seiner Befugnisse zu überschreiten. Es durfte jetzt nur keinen Verdacht schöpfen. "Ich gehe mal kurz spazieren", sagte er leichthin. Er konnte Amanda jetzt nicht ansehen, sonst hätte er aufgegeben. Gina war fassungslos über die Gleichgültigkeit des Vaters. Doch als sie den Kampf beobachtete, den er jetzt an der Haustür ausfocht - Kette vor, Kette zurück, Kette vor... wurde ihr klar, daß ihr Vater mit irgendetwas kämpfte. Schließlich rannte Polo zur Hintertür, doch das Cuazzel war schneller. Es schloß ab und zerbröselte den Schlüssel in der Luft zu Staub. Polo rannte wieder zurück, in der Hoffnung, daß Gina verstanden hatte. Und tatsächlich, die Tür stand offen! Polo stürzte hinaus und das Cuazzel blieb ihm auf den Fersen. In seiner ohnmächtigen Wut hatte es tatsächlich seine Grenzen überschritten. Jack Polo hatte den Kampf gewonnen.

Langsam nahm das Cuazzel Gestalt an. Von nun an würde es immer sichtbar sein. Es war nun Polos Sklave und mußte ihm gehorchen. Doch einen allerletzten Trick wollte es noch versuchen. Demütig fragte es:

Darf ich sprechen? Ich muß Sie informieren, daß man es für gottlos hält, mit mir und meinen Artgenossen Kontakt zu haben. Sogar für ketzerisch. Menschen wurden schon für weniger verbrannt.

Polo schien nicht sonderlich beeindruckt. "Nun, Du weißt doch, was ich dazu zu sagen habe, oder?" meinte er. "Was sage ich?"

"Que serâ, serâ." antwortete das Cuazzel ergeben.

Clive Barker, geboren 1952 in Liverpool in Großbritannien, gilt als eine der "wichtigsten Stimmen in der modernen Horror- Literatur". Er schrieb zahlreiche Romane und Geschichten wie zum Beispiel "Cabal" (1988) oder die "Bücher des Blutes" (1984/1985). Clive Barker ist nicht nur Autor, sondern auch Illustrator. Die Cover für seine "Bücher des Blutes" fertigte er selber an, außerdem wurden in dem Buch "Clive Barker - Illustrator" zeichnerische Arbeiten von ihm veröffentlicht. Mehrere seiner Geschichten und Romane wurden verfilmt. Auch als Comic-Autor ist Clive Barker tätig. Viele seiner Kurzgeschichten wurden bereits in Comic-Form herausgegeben und zum Teil in diesem Medium weiterentwickelt. Für Marvel entwarf er ein eigenes Superhelden- Universum, das unter dem Titel "Razorline" läuft.

John Bolton, geboren 1951, ist ein gefragter Zeichner und Illustrator. Nach seinem Illustrations- und Designstudium begann er Ende der 70er Jahre mit dem Zeichnen von Comics. Frühe Arbeiten von ihm sind verschiedene "King Kull"-Geschichten und die Fantasy-Serie "Marada". In jüngerer Zeit entstanden unter anderem das erste "Book of Magic" in Zusammenarbeit mit dem Kult- Texter Neil Gaiman, die Adaption des Films "Army of Darkness" und der dritte Teil der "Evil Dead"-Trilogie. Auch als Cover-Künstler ist John Bolton sehr begehrt. Er schuf Cover für Reihen wie "Vampire Lestat" und arbeitet zur Zeit an einer Batman-Serie für DC. Es gibt sogar einen internationalen John Bolton-Fanclub, der ein Magazin namens "Unmasked" herausgibt.

Steve Niles ist bekannt als Autor und Herausgeber im Bereich der Horror-Comics. Er brachte einige Anthologien heraus und setzte eine Reihe von Geschichten für die graphische Form um, unter anderem den Vampir-Roman "I am Legend" von Richard Matheson und weitere Storys von Clive Barker. Mit ihm zusammen schrieb er auch die Story für den Comic "Night of the Living Dead: London", eine Fortsetzung des bekannten Films von George Romero.


Der 64seitge Hardcoverband "Ein höllischer Gast" erschien 1995 in
der Edition Comic Speedline im Thomas Tilsner Verlag und kostete
seinerzeit 34,80 DM. Außerdem wurde eine auf 222 Exemplare
limitierte Sonderausgabe zum Preis von 98,- DM herausgegeben. Sie
enthält einen handsignierten Druck von John Bolton.